Evangelium: Gleichnis vom verlorenen und wiedergefundenen Sohn (Lk 15,11-32)
Von einem Schauspieler, der gerne mal einen über den Durst trank, wird die folgende Anekdote erzählt: Er kommt eines Abends stark angeheitert zur Vorstellung auf die Bühne gestolpert und da passiert es: ihm fällt nicht der Anfang seines Textes ein. Die Souffleuse flüstert ihm mehrfach verzweifelt das entsprechende Stichwort zu - aber vergebens. In seiner Not ruft unser angeheiterter Held der Souffleuse schließlich zu: "Keine Einzelheiten bitte - welches Stück?"
Diese Anekdote ist ein hilfreicher Einstieg für das, was in der Mitte unseres gemeinsamen Tages stehen soll: Die Frage, ob und wie wir Christen in Glaubensdingen auskunftsfähig werden können. Uns geht es oft so wie diesem Schauspieler: Wir stehen auf der Bühne - und uns fällt nicht ein, was wir sagen sollen. Und da kommen dann hilfswillige Souffleure - solche Leute wie der Bischof von Erfurt - und versuchen, einige Stichworte vorzugeben, aber es hilft trotzdem nicht. Wir kommen nicht in unsere Rolle hinein. Wir stehen auf der Bühne unseres Lebens. Und wenn es um das Stichwort Glaubenszeugnis geht, dann verweisen wir auf den Pfarrer oder sonst einen hauptamtlichen Kirchenmenschen. Oder wenn die nicht zur Hand sind, dann rufen wir in unserer Hilflosigkeit: "Keine Einzelheiten bitte, welches Stück?"
In unserer Kirche in Deutschland werden gegenwärtig viele "Einzelheiten" diskutiert. Die entsprechenden Stichworte sind überall zu hören. Vorschläge werden gemacht, Reformen in Gang gesetzt, Strukturen verändert und Sparpläne ins Auge gefasst. Hunderte von Einzelheiten - aber um welches "Stück" geht es eigentlich?
Das Evangelium des heutigen Sonntags gibt uns darauf eine Antwort. Man hat das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn "ein Evangelium im Evangelium" genannt. Es ist in der Tat so etwas wie eine Summe der Botschaft Jesu, eine Kurzfassung unseres christlichen Glaubens. Wenn wir uns hier und da ratlos fragen, wovon wir eigentlich missionarisch Zeugnis geben sollen, dann erhalten wir hier Auskunft.
Was wird hier erzählt? Die Geschichte eines Menschen mit Gott. Oder besser: die Geschichte Gottes mit uns Menschen, wie er es anstellt, uns aus der Fremde heimzubringen. Das ganze Drama der menschlichen Existenz ist hier zur Darstellung gebracht:
- wie wir unserer Freiheit nachjagen und uns dabei verlieren
- wie Gott uns in ein Gespräch verwickelt und uns zu ihm hin in Bewegung bringt
- und was er für uns bereithält: eine unfassbare Freude.
Gott entlässt uns in die Freiheit. Ja - das wollen wir auch, frei sein, allen Zwängen und Bindungen entfliehen. "Vater, gib mir das Erbteil, das mir zusteht!" Und dann gehen wir unserer Wege. Es gehört für mich zu den ganz großen Wundern, dass Gott uns frei lässt. Er lässt uns einen Weg gehen, unseren Weg, den Weg, den wir wollen. So ist der Mensch: Er ist auf einen Weg gestellt. Er ist ein Suchender, ein Fragender. Er jagt dem nach, was ihn als Glücksverheißung anzieht. So hat Gott uns geschaffen - heißhungrig nach Leben. Nein, der Mensch ist nicht zu verwalten oder zu kasernieren. Er wird immer wieder aufbrechen, weil seine Sehnsucht größer ist als alles, was er sich selbst an Lebensgenüssen und Lustgewinn verschaffen kann.
Gott entlässt uns in die Freiheit, aber er lässt uns mit unserer Freiheit nicht allein. Der Sohn, der in die Fremde zieht, wird vom Vater nicht abgeschrieben. Der Gesprächsfaden zwischen Vater und Sohn reißt nicht ab. Noch in der Fremde redet gleichsam der Sohn mit dem Vater. Er legt sich zurecht, was er ihm bei der Heimkehr sagen will. In der Wirklichkeit, die das Gleichnis meint, erfolgt dieses Gespräch zwischen Gott und Mensch unaufhörlich. Gott verwickelt uns ins Gespräch. Er redet zu uns auf vielfältige Weise, er weckt uns aus der Verschlafenheit, er macht uns munter, er regt uns an (oftmals auch auf!), er lockt und zieht unser Herz mit mancherlei Tricks und Kniffen in seine Nähe, zu immer tieferer Gemeinschaft. Wir werden von ihm "angeschaut" - so wie eine Mutter ihr Kind anschaut, mit Zuneigung, mit Sympathie und Empathie, mit einer Liebe, die unser Begreifen übersteigt. Manchmal merken wir es dankbar und froh: Wir sind nicht mit uns allein. Unser Leben mit seinen Höhen und Tiefen - eine Gesprächsmöglichkeit mit Gott!
Von Gott auf einen Weg gestellt, in ein Gespräch verwickelt - und: für eine unfassbare Freude bestimmt. Dafür steht im Gleichnis die Metapher des Festes, das der Vater - zum Ärger des anderen Sohnes - mit dem Heimkehrenden feiert. Jesus malt richtig die Freude des Vaters, dessen Seligkeit, den Sohn wieder in seine Arme schließen zu können: das Entgegeneilen, den Ring am Finger, das Festgewand, das Mastkalb, das geschlachtet wird, Musik und Tanz, kurz: der Inbegriff einer Freude, wie sie unser Herz ersehnt.
Das heutige Evangelium ist Kurzabriss des ganzen Heilsdramas, in dem wir Menschen die Hauptbetroffenen sind: Wir sind durch die Freiheit herausgefordert, von Gott in Christus gesucht und gefunden und wir dürfen leben in einer Hoffnung, die alle Angst und Verzweiflung aus dem Herzen vertreibt. Es ist gut zu leben. Es lohnt sich, ein Mensch zu sein, weil wir erlöste Sünder sind, angenommen und geliebt, mehr als wir zu denken wagen.
Liebe Schwestern und Brüder! Das ist das "Stück", um das es im christlichen Glauben geht. Zu diesem "Stück" gehören - zugegeben - viele Einzelheiten. Der große Weltkatechismus hat an die 800 Druckseiten. Das Hauptwerk des Theologen Hans Urs von Balthasar umfasst 17 Bücher! Aber alle diese Einzelheiten helfen uns nicht, wenn wir das nicht begriffen haben, was uns Jesus in dieser kurzen Gleichnisgeschichte erzählt: Wir sind gefunden worden. Jeder Mensch hat die Chance, sich von Gott finden zu lassen. Das ist das Evangelium, das es auch heute unserer Welt zu verkünden gilt.
Wie kann das geschehen? Darüber gilt es heute gemeinsam nachzudenken, aber wohl nicht nur heute! Darüber denke ich in Thüringen nach im Blick auf meine kirchen- und religionsfernen Landsleute, darüber muss sich der Ortsbischof von Limburg Gedanken machen. Von Gott zu reden und seine Gegenwart zu bezeugen mag in Frankfurt anders gehen als im Westerwald. Solches Zeugnis wird sehr verschieden aussehen, im Grunde so vielfältig und verschieden, wie wir als Personen, auch als christliche Persönlichkeiten unterschiedlich sind.
Aber dieser gemeinsame Wille sollte uns bewegen: So oder so, ob in Worten oder Taten, ob in großen Aktionen oder kleinen Zeichen, ob gemeinsam (wie demnächst in der Kreuz-Woche) oder jeder für sich ganz persönlich, gleichsam von Mensch zu Mensch, unauffällig und unspektakulär - jeder von uns kann und soll ein "Evangelist" sein.
Fragt Euch einmal, wer Euch in Eurem Leben für die Frohbotschaft des Glaubens das Herz aufgeschlossen hat. Ich kann die Personen mit Namen nennen, die mir geholfen haben Gottes Liebe zu entdecken: meine Mutter, der Pfarrer meiner Jugendzeit, meine katholische Klassenlehrerin, die in der sozialistischen Schule treu zum Glauben stand und jeden Sonntag im Gottesdienst unserer Diasporagemeinde zu finden war. Seht - so geht der Glaube weiter, durch Menschen, die dem Glauben ihr Gesicht geben. Auch Du bist für andere ein solcher Mensch!
Darum: Es ist zwar lobenswert, dass Du Dich in den Pfarrgemeinderat hast wählen lassen - aber noch wichtiger ist, dass Du für Deine Mitmenschen etwas von Deinem Glauben, Deiner Hoffnung und deiner Liebe "gucken" lässt! In religiösen Dingen das Herz auftun und - wenn die Situation dafür geeignet ist - einfach sagen, was Dir ganz persönlich in Deinem Leben mit Gott wichtig geworden ist.
Von solchen Menschen lebt unsere Kirche. Und solche Glaubens- und Hoffnungszeugen gibt es mehr als wir meinen!
Nehmt dieses Evangelium tief in Euch auf: Es gibt keine Verlorenheit, in der man nicht gefunden werden kann. Wir sind von Gott auf einen Weg gestellt - in ein Gespräch verwickelt - für eine unfassbare Freude bestimmt! Der Autor dieses Stückes ist Gott selbst - spielen wir darin unsere Rolle, so gut wir können! Amen.
Limburg, 12. September 2004

