Weihnachten kann als das Fest der Menschenwürde bezeichnet werden. Wir glauben und feiern an Weihnachten, dass das Kind in der Krippe der Sohn Gottes ist, das heißt dass in seiner menschlichen Person Gott selbst in die Welt gekommen ist. Wir glauben darüber hinaus, dass Jesus Christus bei seiner Rückkehr zu Gott seine menschliche Natur nicht einfach abgestreift hat wie der Schmetterling seinen Kokon, sondern dass er sie behalten und mitgenommen hat. Eine größere Würde für den Menschen ist nicht denkbar. Deswegen kann man sowohl Weihnachten als auch Christi Himmelfahrt auch als Tag der Menschenwürde bezeichnen.
Schon antike Philosophen haben darüber reflektiert, dass der Mensch eine besondere Würde – auf Lateinisch dignitas – hat, die dem Menschsein an sich gegeben ist vor allen individuellen Eigenschaften, die die Menschen voneinander unterscheiden. Für die Stoiker war dies die gemeinsame Teilhabe an der einen Weltvernunft, die die Gleichheit aller Menschen begründet vor und trotz allen faktischen Ungleichheiten. Die bei Seneca vorgebildete Gegenüberstellung von Würde und Preis hat Immanuel Kant aufgegriffen: „Der Mensch als Zweck an sich darf nie nur Mittel zum Zweck sein.“ Ein Mensch darf nicht nach seinem Nutzen, nach seinem Gebrauchswert beurteilt werden. Das Wort „Menschenmaterial“ wurde zu Recht zum Unwort des 20. Jahrhunderts gewählt. Die Begriffe „personelle Ressourcen“ oder „Humankapital“ sind genauso schlimm.
Artikel 1 des Grundgesetzes ist eine bleibende Verpflichtung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das Grundgesetz versteht die Wahrung der Menschenwürde als Verpflichtung für die Vertreterinnen und Vertreter der staatlichen Gewalt – im Parlament, in der Regierung, in der Justiz und in staatlichen Behörden, bei der Polizei und in öffentlichen Einrichtungen.
Am Zentralen Runden Tisch wurde nach der Friedlichen Revolution ein Verfassungsentwurf ausgearbeitet als Beitrag des Ostens für eine deutsch-deutsche Verfassungswerkstatt. Da findet sich in Artikel 1 hinter dem Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ die Ergänzung „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“ Hier geht es nicht nur um das Verhältnis des Staates gegenüber dem Einzelnen, sondern um das Verhältnis der Menschen untereinander. Für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist es unerlässlich, dass jeder die Würde seines Mitmenschen respektiert mit der schlichten Einstellung: Der ist ein Mensch wie ich. Oder um es anders auszudrücken: Jeder muss bei sich selbst jede Einstellung bekämpfen, die andere Menschen diskriminiert. Das ist nicht einfach, aber für uns Christen ist es eine Verpflichtung, die unmittelbar aus der Feier von Weihnachten und Christi Himmelfahrt folgt.
An Weihnachten dürfen wir nicht vergessen, dass wir in der Krippe auf eine jüdische Familie schauen. Jesus war nicht nur von Geburt Jude, weil er eine jüdische Mutter hatte, sondern er war aus ganz tiefer Überzeugung Teil des Volkes Israel. Er wusste sich zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt (Mt 15,24) und sandte auch seine Jünger zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (Mt 10,6). Heilungswunder an Heiden, also an Nichtjuden, hat er aus der Ferne bewirkt ohne zu den Kranken zu gehen – wie bei der Tochter einer syrophönizischen Frau (Mk 5,23) oder dem Diener eines römischen Hauptmanns (Lk 7,10). Dennoch hat der Antisemitismus auch christliche Wurzeln. Ich bin sehr dankbar, dass wir in diesem Jahr die Stele „Ecclesia und Synagoge“ des Arnstädter Künstlers Heiko Börner in unserem Dom aufstellen konnten, die das Verhältnis von Kirche und Judentum aus heutiger Sicht darstellt als eine unverzichtbare Reaktion auf die antijüdische Schmähdarstellung im Chorgestühl aus dem 14. Jahrhundert. Es ist uns eine bleibende Verpflichtung, jede Form von Antisemitismus und Antijudaismus und jede Form von Gutheißung von Judenhass zu verurteilen, ob es die Verharmlosung des Holocaust ist oder die Feier des Pogroms an Juden in Israel am 7. Oktober 2023. Die Menschen wurden bestialisch umgebracht, vergewaltigt und in Kerkerhaft genommen, weil sie Juden waren, auch wenn sie nicht religiös waren oder wenn sie einige Tage zuvor an Demonstrationen gegen die israelische Regierung teilgenommen hatten.
Die Weihnachtskrippe predigt auch gegen Rassismus, wenn auch erst am 6. Januar. An den "Heiligen Drei Königen" ist so ziemlich alles, was Betrachtern heute in Darstellungen begegnet, Volksglaube und Hinzudichtung. Denn die Angaben der Bibel sind knapp: "Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, siehe, da kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem." (Mt 2,1) Es waren also weder im herkömmlichen Sinne Könige noch waren es explizit drei. Die Einzelheiten zu den Gestalten entstanden erst nach und nach: Nach einigen Jahrhunderten war von drei Königen die Rede, im sechsten Jahrhundert bürgerten sich in Westeuropa die Namen Caspar, Melchior und Balthasar ein. Erst ab dem späten Mittelalter verbreitete sich dann die Darstellung als Vertreter der damals bekannten Erdteile Europa, Asien und Afrika – einer der Könige wurde also als Schwarzer abgebildet. Auch Menschen mit anderer Hautfarbe, die man damals überhaupt erst kennenlernte, sind Menschen wie du und ich, das ist die Botschaft. Im Ulmer Münster muss die Krippe allerdings ohne die drei Könige auskommen. Grund dafür ist der als Schwarzer dargestellte Melchior, der als Verkörperung kolonialrassistischer Stereotype betrachtet wird. Ähnliche Kritik müssen sich Sternsinger mit schwarz angemalten Gesichtern gefallen lassen, die den Melchior (andernorts ist es auch Caspar) darstellen wollen. Am besten ist es natürlich, wenn ein Kind mit schwarzer Hautfarbe in die Rolle dieses Königs schlüpft. Dann wird die alte Tradition ins Heute übersetzt.
Und die Weihnachtskrippe weist noch auf eine andere Form von Diskriminierung hin und predigt Menschenwürde: Sie ist auch ein Hinweis auf soziale Diskriminierung: Die Hirten waren arm. Mit dem Beruf des Hirten oder des Schäfers konnte man nie reich werden – auch heute nicht. Und sie lebten am Rand der Gesellschaft, weil sie bei ihren Herden sein wollen. Wie heißt es so schön im Weihnachtsevangelium: „In jener Gegend lagerten Hirten auf freiem Feld und hielten Nachtwache bei ihrer Herde.“ (Lk 2,8) Das klingt so idyllisch, beschreibt aber, dass die Hirten – heute sagen wir Schäfer – außerhalb der Gesellschaft lebten und leben.
Zum Glück gibt es in Thüringen so viele Schäfer, dass die Medien manchmal von ihnen berichten, sodass wir wissen können, dass sie für die Wolle ihrer Schafe kaum Geld bekommen oder sie gar nicht verkaufen können. Es gibt viele Formen von sozialer Diskriminierung – auch in Kirchengemeinden. Deswegen ist für mich die Weihnachtsfeier der Suppenküche des Caritasverbandes ein so schöner Auftakt für das Weihnachtsfest: Weil so viele mithelfen und den Heiligen Abend mit den Gästen der Suppenküche verbringen und auch das Essen spenden, das mehr ist als eine Suppe: gelebter Einsatz für die Würde eines jeden Menschen!