(Es gilt das gesprochene Wort)
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident Dr. König,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Ramelow,
sehr geehrter Herr Präsident des Verfassungsgerichtshofs von der Weiden,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
bei der Männerwallfahrt zum Klüschen Hagis im Eichsfeld an Christi Himmelfahrt habe ich in diesem Jahr die Menschenwürde thematisiert und daraufhin so viele nachdenkliche Kommentare bekommen, dass ich das Thema heute Abend wieder aufgreifen möchte. In der Predigt habe ich – was naheliegt – die christliche Begründung für die Menschenwürde erläutert: Als Christen glauben wir, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist, das heißt dass in seiner menschlichen Person Gott selbst in der Welt war. Wir glauben darüber hinaus, dass Jesus Christus bei seiner Rückkehr zu Gott seine menschliche Natur nicht einfach abgestreift hat wie der Schmetterling seinen Kokon, sondern dass er sie behalten und mitgenommen hat. Eine größere Würde für den Menschen ist nicht denkbar. Deswegen kann man Christi Himmelfahrt auch als Tag der Menschenwürde bezeichnen.
Schon antike Philosophen haben darüber reflektiert, dass der Mensch eine besondere Würde – auf Lateinisch dignitas – hat, die dem Menschsein an sich gegeben ist vor allen individuellen Eigenschaften, die die Menschen voneinander unterscheiden. Für die Stoiker war dies die gemeinsame Teilhabe an der einen Weltvernunft, die die Gleichheit aller Menschen begründet vor und trotz aller faktischen Ungleichheiten. Die bei Seneca vorgebildete Gegenüberstellung von Würde und Preis hat Immanuel Kant aufgegriffen: „Der Mensch als Zweck an sich darf nie nur Mittel zum Zweck sein.“ Ein Mensch darf nicht nach seinem Nutzen, nach seinem Gebrauchswert beurteilt werden. Das Wort „Menschenmaterial“ wurde zu Recht zum Unwort des 20. Jahrhunderts gewählt. Der Begriff „personelle Ressourcen“ ist nicht viel besser.
Darum können auch die Grundwerte unserer Verfassung nicht ohne die ethische und kulturelle Werteordnung verstanden werden, auf denen das Grundgesetz insgesamt beruht. Diese Wertvorstellungen stehen in ihrer Wirkung in einem bis heute prägenden geschichtlichen Zusammenhang mit der abendländischen Tradition und ihren christlichen Wurzeln. Der christliche Begriff der Menschenwürde gründet in der Überzeugung, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist. So heißt es in Gaudium et Spes, einem Grundtext des Zweiten Vatikanischen Konzils: „Ein besonderer Grund für die menschliche Würde liegt in der Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott.“ (Gaudium et Spes, 19,1).“ Aus solchen Sätzen spricht zugleich eine allen Christen gemeinsame Glaubensüberzeugung, und auch für viele Menschen anderer Religion oder Weltanschauung ist die Menschenwürde ein hohes Gut.
Die Reaktionen auf meine Predigt an Christi Himmelfahrt haben mir gezeigt, dass viele Menschen meine Auffassung teilen, dass wir um diese Menschenwürde heute kämpfen müssen. Artikel 1 des Grundgesetzes ist eine aktuelle Verpflichtung: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Das Grundgesetz versteht die Wahrung der Menschenwürde als Verpflichtung für die Vertreterinnen und Vertreter der staatlichen Gewalt – im Parlament, in der Regierung, in der Justiz und in staatlichen Behörden, bei der Polizei und in öffentlichen Einrichtungen. Wir betreten hier ein unendlich weites Feld von Konsequenzen. Die Menschenwürde ist die Grundlage, auf der Menschenrechte und andere Freiheitsrechte formuliert werden. Im Lauf der Geschichte werden immer wieder andere Konsequenzen aus dem Bekenntnis zur Menschenwürde entdeckt.
Heute Abend kann ich nicht den ganzen unendlich weiten Bereich von Folgen aus der Menschenwürde abschreiten. Aus Anlass des 75. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte hat der Vatikan am 25. März 2024 eine umfassende Erklärung über die menschliche Würde unter dem Titel „dignitas infinita“ veröffentlicht. Darin wird auch der Aspekt der Menschenwürde behandelt, der zurzeit auf der politischen Agenda ganz oben steht, nämlich der Umgang mit geflüchteten Menschen. Es heißt dort: Den Migranten wird „in ihren Ländern nicht nur die Würde abgesprochen, sondern auch ihr Leben gefährdet. (…) Sobald sie in den Ländern angekommen sind, die in der Lage sein sollten, sie aufzunehmen, werden sie als nicht würdig genug angesehen, um wie jeder andere am sozialen Leben teilzunehmen, und man vergisst, dass sie die gleiche innewohnende Würde besitzen wie alle Menschen.“
Ich kann hier nicht auf alle Aspekte der Würde geflüchteter Menschen eingehen, sodass ich mir erlauben möchte, nur einen Teilaspekt davon anzusprechen: „Die Arbeit gehört zur Würde des Menschen“, so lautete der Titel eines Vortrags, den Prof. Dr. Hans Joachim Meyer, der damalige Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, im Jahr 2000 gehalten hat. Dass die Arbeit zur Würde des Menschen gehört, ist weit umfassender als die im Grundgesetz Artikel 12 garantierte Freiheit, „Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ In einem gemeinsamen Wort der Kirchen mit dem Titel „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ heißt es: „Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen.“ Diese Grundüberzeugung schlägt sich auch in den Integrationsthesen nieder, die die deutschen Bischöfe vor zwei Jahren veröffentlicht haben: „Unter gerechten Arbeitsbedingungen können Menschen durch ihre Arbeitskraft schöpferisch tätig werden und aktiv einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und zum Gemeinwohl leisten. (…) Politik, Gesellschaft und Kirche sind aufgerufen, menschenwürdige Arbeit als Grundrecht hochzuhalten und die Integration in Arbeit unter diesem Gesichtspunkt zu fördern.“ (Anerkennung und Teilhabe – 16 Thesen zur Integration) Aus meiner Sicht heißt das, dass auch geflüchtete Menschen die Möglichkeit erhalten müssen, sich durch Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Voraussetzungen dafür sind – wie Sie wissen – Sprachkurse, Integrationskurse, zügige Anerkennung von Ausbildungsabschlüssen, Kinderbetreuung – und natürlich unsere eigene Offenheit für Menschen aus anderen Kulturen.
Wenn Arbeit ein Ausdruck der Würde des Menschen ist, bedarf es aber auch innerer und äußerer Motivation, eine geeignete Arbeit anzustreben und anzunehmen, d.h. dass auch geflüchtete Menschen durch geeignete Maßnahmen dazu gebracht werden, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen, und das heißt, dass es nicht reizvoll sein darf, von staatlicher Alimentation zu leben, denn: „Die Arbeit gehört zur Würde des Menschen.“ Arbeit ist nicht nur Erwerbsarbeit, sie ist auch Familienarbeit oder ehrenamtliche Arbeit, aber Arbeit ist eben auch Erwerbsarbeit. Es ist ein Ausdruck der Menschenwürde, dass der Mensch sich seinen Lebensunterhalt selbst verdient. Die katholische Soziallehre fordert Strukturen, unter denen es möglich ist, dass die Menschen unter menschenwürdigen Bedingungen arbeiten können und dass sie vom Ertrag ihrer Arbeit leben können. Beides entspricht der Würde des Menschen. Das heißt aber auch, dass dort, wo immer es möglich ist, die Menschen als Ausdruck ihrer Menschenwürde auch einer Erwerbsarbeit nachgehen sollen.
Artikel 1 des Grundgesetzes ist eine „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.
Vom Bundeswandertag, der Ende September in Heilbad Heiligenstadt stattgefunden hat, habe ich darüber hinaus eine wichtige Anregung mitgenommen. Nach einem schönen ökumenischen Gottesdienst, bei dem ich in der Predigt den Wanderern biblische Impulse mitgegeben habe, fand ein Festakt im Kulturhaus in Heiligenstadt statt. Der Festvortrag thematisierte aber nicht das Wandern, sondern die Herausforderungen der Menschenwürde mit einem Rückblick auf die Friedliche Revolution, der sicher für die zahlreichen Gäste aus ganz Deutschland sehr interessant war. Der Festredner Ralf-Uwe Beck – vielen hier sicher bekannt – referierte seine Erfahrungen aus der sogenannten Wiedervereinigung: „Eine gemeinsame Verfassung wurde nicht angepackt. Dabei hatte sich die DDR-Bürgerrechtsbewegung vorbereitet. Am Zentralen Runden Tisch wurde von Dezember 1989 bis Anfang April 1990 eine Verfassung für eine DDR 2.0 ausgearbeitet. Die sollte der Beitrag des Ostens für die deutsch-deutsche Verfassungswerkstatt sein. Da finden sich im Artikel 1 der uns vertraute und unaufgebbare Satz: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ und dahinter: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher.“ Hier geht es nicht nur um das Verhältnis des Staates gegenüber dem Einzelnen, sondern um unser Verhältnis untereinander. Das war diese Erfahrung aus dem Herbst ´89, dass es auf Jede und Jeden ankam. Wie wertvoll könnte diese Erinnerung bei den Verwerfungen heute sein, wo bei manchen sogar auf den Restanstand kein Verlass mehr ist. Die neu gewählte Volkskammer nahm den Verfassungsentwurf entgegen und: ignorierte ihn. – Da war die Mauer gefallen, aber nicht der Groschen. Für den Zusammenhalt der Gesellschaft ist es unerlässlich, dass jeder die Würde seines Mitmenschen respektiert mit der schlichten Einstellung: Der ist ein Mensch wie ich. Oder um es anders auszudrücken: Jeder muss bei sich selbst jede Einstellung bekämpfen, die andere Menschen diskriminiert. Das ist nicht einfach. Es kostet Mühe. Das kann ich aus meiner eigenen Erfahrung bestätigen.
Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als Messdiener zum ersten Mal einen Menschen mit dunkler Hautfarbe näher kennengelernt habe. Es war ein Priester aus Nigeria, der in Rom studierte und in den Sommerferien Urlaubsvertretung in meiner Heimatgemeinde übernommen hatte. Ich war als Kind völlig unsicher, wie ich diesem Priester begegnen sollte. Immerhin hat er recht gut Deutsch gesprochen und die Heilige Messe genauso gefeiert wie mein Heimatpfarrer. Als er uns dann im Pfarrheim Dias von seiner Heimat zeigte, war das Eis recht schnell gebrochen. Ich muss oft an dieses Erlebnis denken, wenn ich heute Menschen mit anderer Hautfarbe begegne. Wir haben in unserem Bistum acht Priester aus Afrika und Indien und ich hoffe, dass auch sie zu solch einem Umdenken beitragen können.
Gegen Altersdiskriminierung bin ich aktiv vorgegangen. Im Laufe der Priesterausbildung war ein vierwöchiges Sozialpraktikum vorgesehen. Ich war vier Wochen als Praktikant in einem Altenheim, weil ich mir sagte: Außer meiner Oma kenne ich keinen alten Menschen näher. Ich hatte es dort als junger Theologiestudent sehr gut, aber ich lernte auch das Leben alter Menschen kennen mit körperlichen Gebrechen, mit dem Verlust der Selbstständigkeit, mit Langeweile und mit der Trauer um Verstorbene. Vor allem lernte ich, dass alte Menschen nicht anders sind als junge Menschen, sodass ich heute nicht erstaunt bin, den Eindruck zu haben, noch derselbe zu sein wie vor 40 Jahren. Ich bin jedenfalls froh, dass in diesem Jahr der Schutz vor Altersdiskriminierung Eingang in unsere Thüringer Verfassung gefunden hat.
Den unbefangenen Umgang mit behinderten Menschen habe ich erst als Kaplan gelernt. In meiner ersten Kaplanstelle wurde eine Wohngruppe für junge Menschen eingerichtet, obwohl die Nachbarschaft dagegen protestierte. Einige Jugendliche dieser Wohngruppe kamen auch zum Gottesdienst und luden mich in ihrer Wohngruppe ein. Ich war regelmäßig dort und habe die unbekümmerte Aufgeschlossenheit dieser Menschen sehr schätzen gelernt. Ich bin froh, dass wir in unserem Bistum mit dem Johannesstift in Ershausen und der Raphael-Gesellschaft in Heilbad Heiligenstadt große Behinderteneinrichtungen haben, sodass ich regelmäßig diesen Menschen begegnen kann.
Erst relativ spät habe ich gelernt, auch homosexuell veranlagten Menschen aufgeschlossen und unvoreingenommen zu begegnen. Ich musste mich tatsächlich einüben, jemanden, von dem ich wusste, dass er mit einem gleichgeschlechtlichen Menschen verheiratet ist zu fragen: „Wie geht es Ihrem Mann?“ oder „Wie geht es ihrer Frau?“ Hier sind wir als Kirche, aber sicher auch als Gesellschaft, immer noch auf dem Weg.
So weiß ich aus eigener Erfahrung, dass es durchaus eine Herausforderung ist, die Würde eines jeden Menschen zu respektieren und ihn nicht in irgendeiner Weise zu diskriminieren.
Sicher haben Sie auch Erfahrungen gemacht im Ablegen von Diskriminierung in Ihrem persönlichen Leben. Im politischen Geschäft ist der Respekt vor dem politischen Gegner sicher eine bleibende Herausforderung. Auch bei aller Auseinandersetzung in der Sache darf der menschliche Respekt nicht verloren gehen, sonst verliert am Ende die parlamentarische Demokratie. Das gleiche gilt für Angriffe auf Politiker, sei es in den sogenannten „sozialen Medien“ oder sogar physisch. Daran dürfen wir uns niemals gewöhnen!
Es gibt eine gute Motivation, für die Würde anderer Menschen einzutreten. Diese Motivation geht von der persönlichen Erfahrung aus, dass jeder Mensch um seine Würde weiß. Mir ist das bewusst geworden, als ich jemanden mit einem T-Shirt sah, auf dem gedruckt war: „Unkompliziert ist unter meiner Würde.“ Das fand ich zunächst witzig, dann ist mir aber bewusst geworden, dass jeder Mensch sagen kann, was unter seiner Würde ist. Die Antworten fallen natürlich unterschiedlich aus, aber jeder Mensch weiß um seine eigene Würde. Für mich ist es zum Beispiel unter meiner Würde, auf eine unflätige, beleidigende E-Mail zu antworten. Es ist aber nicht unter meiner Würde, nach einer Sitzung den Beratungsraum selbst aufzuräumen. So weiß jeder Mensch um seine Würde. Das Nachdenken und das Gespräch darüber, wann die eigene Würde verletzt wird oder wann man selbst unter seiner Würde handelt, löst natürlich nicht alle Probleme und hilft der Menschenwürde nicht allein zur Verwirklichung, aber es ist ein interessanter Impuls zum Nachdenken und zum Gespräch.
Zum Schluss sei Papst Franziskus zitiert, der in seiner Enzyklika „Fratelli tutti“ sehr deutlich und mahnend geschrieben hat: „Wenn man die Würde des Menschen in jeder Situation respektieren soll, dann nicht etwa deshalb, weil wir die Würde der anderen erfinden oder annehmen, sondern weil sie wirklich einen Wert besitzen, der über die materiellen Dinge hinausgeht. Dass jeder Mensch eine unveräußerliche Würde besitzt, ist eine Wahrheit, die der menschlichen Natur unabhängig jeden kulturellen Wandels zukommt.“
Ich danke Ihnen, liebe Anwesende, dass Sie sich um die Würde des Menschen an so vielen Stellen ganz konkret bemühen. Allen, die in der oder für die Politik arbeiten, wünsche ich in diesen Zeiten alles Gute, Gottes Segen und stets das Bewusstsein, worum es eigentlich geht.