Sehen, mit dem Auge - und dem Herzen
Predigt zum 4. Fastensonntag von Udo Montag, Erfurt
Die Zuwendung Jesu ist heilsam
Wenn wir einen blinden Menschen mit Stock oder Hund oder in Begleitung eines Sehenden bemerken, dann kann uns schon der Gedanke kommen: Was wäre, wenn ich erblinde - plötzlich oder langsam - wie könnte ich dann weiterleben?
Vermutlich würde erst einmal eine Welt zusammenbrechen - die Welt, die für mich die sichtbare und damit die wahre Welt gewesen ist. Ich müsste mir schrittweise und ganz langsam die Welt neu erobern, mühsam tasten und hätte sicher auch gegen Verzweiflung anzukämpfen; immer mit der Frage im Hinterkopf, ob es denn noch etwas so Verlässliches gäbe, wie die bisherige Erfahrung meines Sehens. Denn normalerweise gilt das ohne großen Zweifel: Was wir mit eigenen Augen sehen, ist richtig und wahr. Oder?
Beim weiteren Nachdenken kommen Zweifel ins Spiel. Gehen wir Sehenden wirklich immer sehend durch die Welt? Gibt es nicht viele blinde Flecken, Stellen, die wir gar nicht mehr bemerken, weil wir zwar sehen, aber nicht hinsehen, etwas anschauen, aber nicht durchsehen?
Ist es nicht auch so, dass unsere Sicht der Dinge zusammenhängt mit den typischen Erfahrungen unseres eigenen Lebens, mit unseren Motivationen, den gegenwärtigen Stimmungen, Neigungen und Abneigungen. So sieht jeder Mensch die Welt durch seine eigene Brille; und damit hat natürlich jeder auch seine eigene Wahrheit.
Und die sogenannten Blinden? Ist es entgegen dem äußeren Augenschein nicht oft so, dass sie sogar mehr sehen? Der Verlust des äußeren Augenlichtes wird ersetzt durch den Aufgang eines inneren Lichtes. Sie werden empfänglich für die Tiefenschichten des Lebens. Vielleicht kennen Sie selbst blinde Menschen, bei denen das so der Fall ist. Solche Menschen haben ein Gespür für andere. Sie können ganz intensiv hören und zuhören, sei bemerken Untertöne, hören Bewegung in der Stimme, sie können staunen und sich freuen. Sie sind dankbar aus der Erfahrung, dass nichts selbstverständlich ist. Ihr Geheimnis ist uns von Saint-Exup?ry beschrieben: "Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."
Ein Mensch mit einer Behinderung, der aber dadurch vielleicht innerlich wacher ist, kommt mit Jesus in Berührung, mit dem, der mit dem Herzen sieht, der den Menschen mit dem liebenden und heilenden Blick Gottes anschaut. Bei dem Blindgeborenen ist wohl die Sehnsucht sehen zu wollen so offenkundig, dass es dafür gar kein Wort braucht. Auch für Jesus ist auf den ersten Blick alles klar. Er weiß schon, was hier geschehen soll: Das Wirken Gottes soll an diesem Blinden deutlich werden. Hier geht es nicht um eine Ursachenforschung, eine genauere Anamnese und schon gar nicht um Schuldfragen oder Schuldzuweisungen. Für Jesus ist dieses Unglück, dieses Schicksal so etwas wie die Folie, auf der die Herrlichkeit Gottes aufleuchten und sichtbar werden soll.
Die Zuwendung Jesu öffnet für einen persönlichen und entschiedenen Weg
In einem mehrstufigen Vorgang geschieht Heilung. Zuerst das Bestreichen der Augen, die persönliche Berührung, dann der eigene Weg und das Waschen im Wasser. Der innere Vorgang der Heilung wird deutlich in einem mehrfachen Verhör, dem dieser geheilte Mensch dann ausgesetzt ist. Er muss Stellung beziehen und im Verlauf dieser Stellungnahme klärt sich sein eigenes Verhältnis zu dem, der ihn geheilt hat. Das, was sich mit ihm ereignet hat, ist von solchem Wert, dass es sich sogar im Ausschluss aus einer bisherigen Gemeinsamkeit bewährt. Die geschenkte Beziehung zu dem, der Augen geöffnet hat, ist tragfähig geworden und leuchtet jetzt aus dem eigenen Leben heraus.
Der vom Evangelisten beschriebene Vorgang hat Ähnlichkeiten mit unserem Glaubensweg. Am Anfang ist es wohl so gewesen, dass andere mit ihrem Bekenntnis auch für uns eingestanden sind. Aber die Lebensfragen aus unserer Umgebung sind dann auch an uns herangekommen und haben uns zur eigenen Stellungnahme herausgefordert. Die neue Identität in der Begegnung mit Christus wurde am Anfang für uns in Zeichen ausgedrückt - das fließende Wasser, das angezündete Licht, das weiße Kleid, die Salbung. Dahinter stand die Einladung in eine persönliche Beziehung, auf einen persönlichen Weg in dieser neuen Gemeinschaft. Dieser eigene Weg braucht die persönliche Begegnung mit dem Herrn nicht nur als Anfangserfahrung, sondern auch als vertiefende Wegbegleitung - wie auch dem Geheilten des Evangeliums die erneute Begegnung mit Jesus geschenkt wurde, damit die Beziehung noch mehr in die tiefere Erkenntnis wächst. Ein so angerührter Mensch in der geschenkten Beziehung zum Herrn braucht dann auch weniger die äußeren Autoritäten, die ihm sagen möchten, was richtig und falsch ist, die den richtigen Blickwinkel und Standpunkt vorschreiben möchten, die Schuld zuweisen wollen; ein in der Tiefe angesprochener Mensch entwickelt aus der neuen Beziehung heraus ein eigenes Urteilsvermögen und kann sogar die vermeintlich Sehenden auf ihre Fehlsichtigkeit aufmerksam machen.
Erst zum Ende der Geschichte, sozusagen im Nachspiel, ist vom Glauben die Rede. Denn der Glaube ist nicht die Voraussetzung dafür, dass Gott sich uns zuwendet und uns heilt. Die Möglichkeit zu glauben wächst vielmehr aus der Erfahrung, von Gott wahrgenommen, geliebt und zu wahrhaft menschlichem Leben befreit zu sein. Es liegt eine eigentümliche Innerlichkeit über diesem letzten Zwiegespräch zwischen Jesus und dem Blindgeborenen. Als Jesus hört, dass sie ihn ausgestoßen hatten, spricht er ihn auf seinen Glauben hin an. Es ist, als erkenne Jesus in ihm einen Schicksalsgefährten, einen, der schon an seiner Passion Anteil hat, weil er sich - mit Jesus - auf den Gott eingelassen hat, der öffnet und befreit.
Die Zuwendung Jesu lädt ein, sich in Dienst nehmen zu lassen für seine heilsame Botschaft
Immer, wenn wir uns als Gemeinde zum Gottesdienst versammeln, geht es auch darum, Abstand zu gewinnen, zur Ruhe zu kommen, bei uns selber einzukehren und bei dem, der in uns wohnt. Und immer geht es darum, dass wir uns von solcher Tiefe her neu öffnen, genauer wahrnehmen, wer wir sind, was um uns herum geschieht, wie wir mit anderen und mit uns selber umgehen, besonders mit unseren Grenzen.
Dazu will uns das Evangelium die Augen öffnen. Es berichtet nicht nur, wie die Behinderung eines Mannes von ihm genommen wird, sondern auch davon, wie sehr die anderen um ihn herum Blinde sind. Sie sehen den Mann, der seit seiner Geburt blind war, aber sie sehen ihn offenbar anders als Jesus.
Mit der Verdrängung und Verhärtung der einen Seite wächst allerdings auch die Öffnung und Befreiung des Blindgeborenen. Er ist entwickelt sich zur souveränen Gestalt in dieser Gesprächsphase. Er lässt sich nicht mehr nur Fragen stellen, sondern stellt seinerseits Fragen: "Warum wollt ihr noch einmal hören, was ich euch bereits gesagt habe? Wollt ihr auch seine Jünger werden?" (Vers 27)
Das Besondere bei dieser Heilungsgeschichte ist, dass jetzt der Geheilte selbst vor anderen sagen kann: "Ich bin es" (Vers 9). Das spricht von der neuen Identität, dem neuen Selbst-Bewusstsein, das aus der geschenkten Nähe gewachsen ist, der erfahrenen Zuwendung, dem Licht, das ins Leben gekommen ist.
Jetzt ist dieser Geheilte selbst fähig geworden, heilsam zu wirken. Er spricht die Blindheiten an, die er wahrnimmt, er wächst unter den Autoritäten zu einer Größe, die man ihm nicht zugetraut hätte. Er kann in seiner Person aufmerksam machen auf die Finsternis, die da entsteht, wo Menschen das Menschliche dem Institutionellen opfern, wo man Schuldige sucht für das, was Fakt geworden ist; er kann für seinen neuen Dienst sogar den Ausschluss aus der Gemeinschaft in Kauf nehmen.
Wir gehen mit diesem Sonntag wieder einen Schritt auf Ostern zu. Christus, das Licht der Welt soll in die Dunkelheit unserer Lebenswelt hineinleuchten. Er nimmt uns dafür in Anspruch, anderen dieses Licht zu bringen.
Ein Sprichwort sagt: Narben sind Augen. Jede Verletzung, jeder Schmerz, den ich wahrnehme, jede Dunkelheit, in die ich gerate, bringt Gottes Einladung an mich heran, dem größeren Licht zu trauen und die Sehnsucht zu erhalten nach heilsamer Begegnung mit dem Herrn - dem Licht, das in die Finsternis gekommen ist.
Fastenpredigten: "Von Christus berührt - den Glauben leben"