Dem Leben trauen

Predigt von Bischof Joachim Wanke zum Osterfest 2007


Bischof Joachim Wanke

Predigt von Bischof Joachim Wanke zum Osterfest 2007...

Gehalten im Erfurter Dom am Ostersonntag, 8. April 2007.


"Wie hältst du es mit dem Sterben?" Das ist eine etwas ungewöhnliche Frage, zumal in einem festlichen Ostergottesdienst. Aber diese Frage bewegt derzeit viele Menschen. In der Tat: Wenn man sieht, wie armselig manche Patienten durch die Apparatemedizin am Leben gehalten werden, macht man sich seine Gedanken. Könnte da eine Patientenverfügung helfen? Aber wie muss die gestaltet sein, um wirklich das, was ich in der Situation des Sterbens will, zum Ausdruck zu bringen? Und wie geht das mit dem ärztlichen Ethos einher, das gehalten ist, nicht aktiv den Tod herbeizuführen, sondern höchstens das Sterben eines Menschen zuzulassen? Wahrlich, keine einfachen Fragen, über die sich mit gutem Grund auch die Abgeordneten des Bundestages derzeit den Kopf zerbrechen.


Es ist merkwürdig: Die Möglichkeit der Lebensverlängerung bringt neu die Frage nach dem Sterben ins Gespräch. Dabei ist das doch eine Binsenwahrheit: Das Sterben gehört zu meinem Leben. Wir können dieses Wissen verdrängen, den Gedanken an den eigenen Tod niederhalten - aber unweigerlich meldet sich, früher oder später, das Sterben als unausweichliche Realität zu Wort.


Das Sterben fängt bekanntlich schon mit der Geburt an. Ich plädiere übrigens dafür, dass dies durchaus auch unsere Kinder und Jugendlichen wissen sollten. Es ist heilsam, wenn ein junger Mensch das Sterben eines nahen Angehörigen aus der Nähe miterlebt. Gerade angesichts der virtuellen Bilderwelt, der unsere Kinder und Jugendlichen ausgesetzt sind, wäre dass wichtig. Denn die Unterhaltungsmedien und Computerspiele gaukeln Realität vor, aber können sie nicht vermitteln. Sich der vollen Realität des Lebens stellen, heißt, auch das eigene Sterben im Blick zu behalten. Verdrängen wir also nicht den Gedanken an den Tod, auch nicht am Ostertag.


Ich möchte heute freilich eine andere Frage stellen. "Wie hältst du es mit dem Leben?" Das ist die Frage, die das Osterfest an uns richtet. Diese Frage ist aus meiner Sicht gewichtiger. Und zudem ist in ihr die andere Frage, wie ich`s mit dem Sterben halten soll, eingeschlossen.


"Wie hältst du?s mit dem Leben?" Elisabeth von Thüringen ist vierundzwanzig Jahre alt geworden. Jesus von Nazareth lebte vermutlich dreißig Jahre. Ich frage einmal etwas spitz: Was ändert sich in meinem Leben, wenn ich weiß, dass ich siebzig Jahre alt werde? Oder achtzig? Oder noch einige Jahre mehr, wenn es die Medizintechnik möglich macht?


Sicher, jeder Mensch möchte lange leben. Da schließe ich mich nicht aus. Aber ist langes Leben unter allen Umständen wirklich erstrebenswert? Sobald man zu dieser Frage durchgedrungen ist, stellt sich unweigerlich die Frage, was denn eigentlich das Leben wertvoll macht.


Eine erste Antwort, die sich auch viele nichtchristliche Menschen geben, sagt: Nicht die Länge meines Leben ist entscheidend, sondern die Lebensqualität. Ob ich etwas vom Leben habe, ob ich gesund bleibe, meine Verstandeskräfte behalte, ob ich rüstig und beweglich bleibe, ob ich mir selbst helfen kann, ob ich gute Menschen um mich habe, eine Familie, die mir beisteht - das, und dazu noch manch anderes, macht für mich Leben aus. Ein solches, gleichsam intensives Leben wünsche ich mir, möge es dann auch kürzer sein.


Und eine andere Facette dieser Antwort geht in diese Richtung: Mein Leben soll etwas Gutes bewirken. Was ich aus meinem Leben mache, das macht mein Leben wertvoll. Deshalb sollte ich mich fragen: Werden wenigstens einige Menschen durch mich etwas glücklicher, meine Kinder, Enkelkinder, - oder wird mir einmal keiner nachtrauern? Wird die Welt durch mein Leben und Wirken ein Stück heller, menschlicher, zukunftsfroher- oder ist es egal, ob ich da war oder nicht? Also: ein Leben führen, das Sinn macht und Gutes bewirkt, so die Gedanken vieler Zeitgenossen.


Das sind durchaus respektable Sichten vom eigenen Leben. Ich meine: Wenn Christen und Nichtchristen sich über Ostern austauschen, könnte das eine gemeinsame Basis der Verständigung sein: Noch so moderne Kliniken und noch so raffinierte Therapien verlängern vielleicht das Leben, aber machen es dadurch nicht wertvoller. Man muss vom Leben eine Vision haben, um dem Sterben seinen angemessenen Ort geben zu können.


Und wie sieht die christliche Vision vom Leben aus?

Am Ostertag lesen wir im Gottesdienst die Mahnung aus dem Kolosserbrief: "Richtet euren Sinn auf das Himmlische und nicht auf das Irdische". Das klingt zunächst gar nicht lebensbejahend. Das scheint alte Vorurteile vom angeblich lebensfeindlichen Christentum zu bestätigen. Aber hören wir, wie der Apostel fortfährt: "Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott."


Also doch: Leben. Zwar noch verborgenes Leben. Aber der Text geht weiter: "Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit". Leben in Herrlichkeit! Der Apostel weiß um die Sehnsucht, um den Lebenshunger unseres Herzens.



Die christliche Osterbotschaft redet von einem Leben inmitten der Sterblichkeit.

Dazu müssen wir freilich die Vorstellung korrigieren, das bleibende Leben, also unser in Gott verborgenes Leben, fange erst nach dem Sterben an. Nein, so der Apostel: Es fängt jetzt an. Er erinnert deshalb die Christen an ihre Taufe. Das liturgische Geschehen bei der Taufe, das Hinabsteigen in das Wasser, ist ihnen in der Taufkatechese als ein Mitsterben mit Christus gedeutet worden. Sie sind also schon in gewisser Hinsicht dem Irdischen gestorben, wenngleich ihr neues Leben zwar real gegeben ist, aber noch in Christus verborgen ist, so wie ein Keim einer Blume schon real da ist, aber noch in der Erde verborgen ist.


Um diese Aussage unseres Glaubens ein wenig besser zu verstehen, braucht man nur an das zu denken, was wir eben bedacht haben. In unserem irdischen Leben ist Sterblichkeit ebenfalls "verborgen" anwesend, realiter von Geburt an, auch wenn diese Ausgerichtetheit auf das Sterben nur zeitlich gestreckt erfahren wird. Aber eigentlich ist es - um einmal ein drastisches Bild zu gebrauchen - für einen zum Tode Verurteilten unwichtig, wann er zu Tode kommt. Er ist ja mit dem gesprochenen Urteil gleichsam schon tot und vom Leben abgeschnitten.


Die Botschaft des Apostels ist also durchaus auch unserem Denken verständlich. Viele Philosophen, Künstler und Dichter haben das ebenso empfunden. Weite Teile der Weltliteratur, auch heutiger Literatur sind von einer großen Melancholie, vom Grundgefühl der Vergeblichkeit erfüllt. Das Leben als ein makabrer Maskenball, dessen nahes Ende keiner wahrhaben will. Aber es wird weitergetanzt! Wir sind in gewissem Sinn schon gestorben, auch wenn wir noch eine zeitlang leben dürfen.


Aber genau darauf käme es an, wie ich mein jetzige, vorläufiges Leben verstehe. Der Christ sagt: Dieses vom Sterben eingegrenzte Leben hat unmittelbar etwas mit meinem bleibenden Leben für Gott zu tun. Es empfängst seine Zielgerichtetheit, seine letzte Sinnhaftigkeit von dem, der mich eingeladen hat, auf seine Liebe einmal ohne Ende zu antworten. Der Anruf Gottes, der mich bei meiner Erschaffung getroffen hat, soll nicht abbrechen und im Nichts enden. Dieser schöpferische Anruf Gottes ist ganz darauf ausgerichtet, über dieses irdische Leben hinaus anzudauern, ohne Zeitbegrenzung in eine Vollendung hinein, die wir nur erahnen, aber jetzt noch nicht erfassen können, höchsten in Spitzenaugenblicken irdischer Seligkeit, in denen mir - wie wir sagen - Zeit und Stunde schon jetzt manchmal versinken.


Die christliche Vision vom Leben heißt: Dem Leben trauen - auch angesichts meiner Sterblichkeit. Nicht mehr für sich selbst leben, sondern für ihn, der Jesus Christus nicht im Tode gelassen hat, und der uns um Jesu willen nicht im Tode lassen wird. Aus dieser österlichen Verheißung leben, ihr trauen, sie zum unerschütterlichen Fundament meines Lebens machen - das ist Osterglaube.


Dieser Osterglaube erklärt übrigens die Gelassenheit, mit der viele Heilige die Unvollkommenheit der Welt und auch ihrer eigenen Lebensumstände ertragen haben. Wenn es ein Kennzeichen des Neuheidentums gibt, das vom Christentum nichts mehr wissen will, dann ist es die Entrüstung darüber, nicht sofort und auf der Stelle glücklich sein zu können. Man sucht überall nach einer Stelle, wo man sich über die Unvollkommenheiten und Ärgernisse dieser Welt beschweren kann. Irgendeiner muss doch daran schuld sein! Verbote und Gesetze sollen möglichst alle Ü;bel dieser Welt beseitigen. Man riecht förmlich in unseren Zeitungen und im Fernsehen den säkularen Tugendschweiß. Manchmal muss ich ob dieses Eifers lächeln. Aber er schlägt ja auch oft genug in Zynismus um.


Der Osterglaube bewahrt vor beidem, vor blinden Eifer und vor Zynismus, dem alles egal ist. Er weiß: Das vollkommene Glück an unserem Schöpfer und Erlöser vorbei herbei zwingen zu können ist genau die falsche Vision vom Leben.


Der Osterglaube weiß, dass auf Erden weiter gestorben werden muss, solange diese Weltzeit geht. Denn das ist für ihn gewiss: Wer sich vom Gott und Vater unseres auferstandenen Herrn Jesus Christus anschauen lässt, wie wir es jetzt in diesem Gottesdienst tun, der gewinnt das Leben - und das mit oder ohne Patientenverfügung. Amen.



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