Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
wenn heute von Kirchenleuten die aktuelle Situation der katholischen Kirche in Deutschland beschrieben wird, etabliert sich immer mehr das Bildwort von der „Im-plosion“. Es lohnt sich, über dieses Bildwort nachzudenken. Wie bei jedem Vergleich ist auch dieses Bildwort in mancher Hinsicht zutreffend, in mancher Hinsicht aber auch völlig unzutreffend. Eine Implosion entsteht dann, wenn in einem Gerät Unterdruck herrscht und der Außendruck soviel größer ist, dass das Gerät oder das Gefäß zerstört wird. Es gibt drei Ursachen für eine Implosion; entweder ist der Innendruck im Gefäß zu gering oder der Außendruck zu hoch oder das Material der Bindehaut zu schwach oder ermüdet. Bei Metalltanks mit bestimmten Flüssigkeiten oder Chemikalien kann es dazu führen, dass der Tank wie durch eine unsichtbare Faust vollkommen zerquetscht wird. Früher sind solche Implosionen immer wieder bei Bildschirmen aus Glas vorgekommen, wie sie in Fernsehapparaten oder als Bildschirme im Computer verwendet worden sind.
Im Blick auf die aktuelle Situation der katholischen Kirche in unserem Land kann man durchaus davon reden, dass der Innendruck bedenklich sinkt. Der Grund dafür ist aus meiner Sicht im Wesentlichen das Geschehen sexualisierter Gewalt in unserer Kirche. Die offizielle Lehrmeinung der Kirche und auch viele Priester haben eine regide Sexualmoral vertreten und im Beichtsuhl mitunter auch nachgefragt. Dann stellte sich heraus, dass 3-5 % der Priester in zum Teil eklatanter Weise gegen diese Sexualmoral verstoßen haben und die Bischöfe und Verantwortlichen mehr Verständnis für die Priester hatten als für die Opfer. Dies hat verständlicherweise zu einem enormen Ansehensverlust der Kirche, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei Kirchenmitgliedern geführt. Darüber hinaus scheinen auch die Glaubensfreude und Glaubensfestigkeit, die überzeugte Kirchenzugehörigkeit und die innere Gläubigkeit rückläufig zu sein: Das, was Bischof Joachim Wanke als „geistlichen Grundwasserspiegel“ bezeichnet. Zumindest legen die Zahlen dies nahe: Zahlen der Kirchenmitglieder und der Gottesdienstbesucher, der Sakramentenspendung und der Teilnahme am Religionsunterricht sowie Befragungen zum Glaubenswissen und zu Glaubensfestigkeit scheinen zu belegen, dass der Innendruck in unserer Kirche sinkt.
Ich wage allerdings zu bezweifeln, dass der Außendruck gestiegen ist. Zumindest im Vergleich zu den Verhältnissen bis 1990 hierzulande kann davon nicht die Rede sein. Wir leben in einer freiheitlichen Demokratie. Viele Politikerinnen und Politiker pflegen gute Beziehungen zu den Kirchen. Die Medien berichten auch über das Positive, das in unserer Kirche geschieht. Natürlich berichten sie eher über das Negative, was allerdings daran liegt, dass auch wir als Medienkonsumenten uns mehr für das Negative interessieren. Uns interessiert weniger, wenn ein Verein gut dasteht, als wenn ein Mitglied der Vereinsführung sich bereichert hat. Allerdings ist die Individualisierung in unserer Gesellschaft ein Faktor, der es nicht nur Vereinen, Parteien und Nichtregierungsorganisationen schwierig macht, sondern auch den Kirchen.
Schauen wir noch auf die dritte Voraussetzung für eine mögliche Implosion: Die Ermüdung der Trennung zwischen Außendruck und Innendruck, sei sie aus Stahl wie bei einem Metalltank oder aus Glas, wie bei einer Bildröhre. Man kann tatsächlich von einer Materialermüdung reden: Seit mindestens 40 Jahren laufen Erstkommunion- und Firmvorbereitungen nach demselben Schema. Seit mindestens 40 Jahren wird eine Trauung in der Regel in einem, zwei oder vielleicht auch drei Gesprächen mit dem trauenden Geistlichen vorbereitet. Dasselbe gilt für die Taufe von Kindern. Für die Erwachsenentaufe und für diejenigen, die sich für den christlichen Glauben interessieren, gibt es in einigen Pfarreien feste Angebote, allerdings bei Weitem nicht überall. Wir machen seit Jahrzehnten Pastoral nach demselben Schema. Das Material ist ermüdet. Dahinter steht ein Bild von Kirche, das den inneren Aufbau der Kirche den Priestern überlässt, bestenfalls noch den Diakonen, Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten, während die Getauften und Gefirmten sich um einige Veranstaltungen in der Gemeinde kümmern und um ihre Familie. Ich mochte gar nichts daran ändern, dass die erste christliche Berufung der Getauften und Gefirmten ihrer Familie gilt sowie dem Glaubenszeugnis der Welt, in der sie leben. Aber wenn wir sie einladen, Kirche mitzugestalten, müssen sie wirklich in die Gestaltung miteingebunden sein und ihre Fähigkeiten und Talente einbringen können.
Aus dem Bildwort von der „Implosion“ habe ich nun drei Aspekte aufgeführt, in denen der Vergleich zur Situation der katholischen Kirche in unserem Land heute durchaus zutreffend ist. In einem Punkt ist er dies allerdings nicht: Eine Implosion zerstört das Gerät oder das Gefäß vollständig. Es ist zu nichts mehr zu gebrauchen. Es würde an Unglauben grenzen, würden wir befürchten, dass die katholische Kirche in der Welt oder in unserem Land gänzlich zerstört werden könnte. Sie ist ja nicht unser Menschenwerk. Sie ist Sakrament des Heiligen Geistes. So, wie sich das göttliche Wort in der Person des Jesus von Nazareth zum „Jesus Christus“ verbunden hat, so hat sich der Heilige Geist mit dem Sozialgefüge unserer Kirche verbunden. Es mag sein, dass wir geringer und kleiner werden, aber verschwinden werden wir nicht. Wenn wir in die Geschichte zurückschauen, besteht sie aus einem ständigen Auf und Ab. Im Buch Kohelet heißt es: „Es gibt eine Zeit zum Aufbauen und eine Zeit zum Niederreißen“. Man sollte beim Niederreißen genauso wenig rabiat sein wie beim Aufbau. Welchen Sinn macht es, hier auf dem Domberg zwei große Kirchen nebeneinander zu bauen. Das war rabiates Verhalten in Zeiten des Aufbaus. In manchen Bistümern ist zwischen der Zeit der Einsegnung einer Kirche und der förmlichen Kirchweihe ein Zeitraum von über 100 Jahren vergangen, weil man absehen wollte, ob sich an diesem Ort wirklich ein Kirch- und Gottesdienstort etabliert. Das war Aufbau mit Weitblick.
Damit ist deutlich geworden, dass ich mit dem Bildwort von der „Implosion“ wenig anfangen kann. Wir sollten besser von „Transformation“ sprechen. Es ist ja auch der Begriff für die großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwandlungen in den neuen Bundesländern nach der Wende. Viele haben daran sehr schmerzhafte Erinnerungen. Vieles wurde niedergerissen, vieles aber auch aufgebaut. Wir sind in unserer katholischen Kirche in einer Zeit der Transformation, von der heute niemand sagen kann, wohin sie führen wird. Aber wir können sagen, dass der Heilige Geist unsere Kirche auf diesem Weg begleiten wird. Papst Franziskus wird nicht müde, Synodalität einzufordern. In einem langen internationalen Prozess soll Synodalität eingeübt werden: Alle, denen die Kirche am Herzen liegt, sollen gemeinsam Wege der Kirche durch die Zeit suchen und gehen. Kirche ist Volk Gottes unterwegs. Das ist das große Selbstverständnis unserer Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil.
Und noch aus einem anderen Grund ist mir vor Transformation nicht bange. Wir kennen ja Veränderungsprozesse in der Quelle und dem Höhepunkt unseres kirchlichen Lebens, nämlich im Sakrament der Eucharistie. Wir sprechen von Transsubstantiation: Der Wesenskern verändert sich, rein äußerlich bleiben die Gestalten Brot und Wein. Wir sprechen von Transfinalisation: Brot und Wein dienen nicht mehr der Nahrung und der Freude, sondern der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Herrn Jesus Christus. Unsere Kirche ist ständig in einem Prozess der Transformation. Das Wichtigste in unserer katholischen Kirche ist die Heilige Messe. Das Wichtigste in der Heiligen Messe ist die Wandlung, also ist das Wichtigste in unserer katholischen Kirche die Wandlung.
Die Predigt hielt Bischof Ulrich Neymeyr auch beim Gesamttreffen der Diakonatshelfer am 1. April 2023 in Erfurt.