Meine lieben Schwestern und Brüder im Herrn,
mitten auf der Altarinsel steht die Osterkerze, die heute Nacht am Osterfeuer im Kreuzgang des Domes angezündet wurde und dann in einer feierlichen Prozession in den dunklen Dom getragen wurde. Der liturgische Brauch einer speziellen Osterkerze ist erstmals für das Jahr 384 in Piacenza bezeugt. Wachskerzen wurden aber schon früher im Gottesdienst der Christen als Symbol für Jesus Christus entzündet.
Die kleine Flamme einer brennenden Kerze entfaltet nicht nur einen warmen und feierlichen Glanz, sondern sie ist auch verletzlich. Vor 30 Jahren gingen die Menschen mit brennenden Kerzen auf die Straße und auch heute halten bei vielen Kundgebungen und Mahnwachen die Demonstranten eine brennende Kerze in der Hand. Sie greifen nicht zur Fackel, sondern zur Kerze. So ist die Kerze zum Symbol gewaltfreier Meinungsäußerung und gewaltfreien Widerstands geworden. Die Menschen, die sie in den Händen halten, wollen keine Gewalt anwenden und doch mit ihrem Feuer die Welt verändern, wie die berühmten Vorbilder Mahatma Gandhi und Martin Luther King. Auch Jesus Christus hat das Licht des Evangeliums nicht wie eine Fackel durch Israel getragen, mit der er alle Widerstände hätte niederbrennen können, sondern er hat das Evangelium als Zimmermannssohn und Wanderprediger zu den Menschen gebracht.
Die Verletzlichkeit hat Jesus erfahren müssen, als sein Lebenslicht nach grausamer Folterung am Kreuz ausgelöscht worden ist. Eine ausgelöschte Kerze ist ein sehr emotionales Bild für Sterblichkeit, Tod und Trauer. Das ist mit ein Grund, weshalb das Lied „Candle in the wind“ zum erfolgreichsten Lied aller Zeiten wurde. Elton John hat es beim Tod von Marilyn Monroe gesungen und später bei der Beisetzung von Diana Spencer. Am Karfreitag haben wir uns wieder der Erinnerung an den Tod Jesu Christi ausgesetzt.
Die Wachskerze ist auch deshalb ein Symbol für Jesus Christus geworden, weil sie sich selbst verzehrt, wenn sie brennt. Bei jeder Feier der Heiligen Messe erinnern wir uns daran, dass Jesus Christus sein Blut vergossen hat für alle Menschen, die das Geschenk der Erlösung in Umkehr und Glaube annehmen. Nicht nur sein Kreuzestod war eine Hingabe für das Leben der Welt, sondern auch seine Menschwerdung und sein ganzes irdisches Leben war eine Gabe für die Menschen. Die Theologen sprechen von der Proexistenz Jesu Christi.
Heute Nacht war die Osterkerze ein Hoffnungslicht des Lebens. Ihr kleines Licht erleuchtete den großen dunklen Dom so, dass man die Gesichter der Menschen, die im Dom waren, erkennen konnte. So ist die Kerze ein ausdrucksstarkes Symbol dafür, dass das Licht stärker ist als das Dunkel und dass das Leben stärker ist als der Tod. Tod und Auferstehung Christi ereigneten sich an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit, haben aber Bedeutung über den Ort und über die Zeit hinaus. Dies bringen die Symbole auf der Osterkerze zum Ausdruck:
Das Kreuzeszeichen wird in seiner Geschichtlichkeit und in seiner Grausamkeit hervorgehoben durch fünf Wachsnägel, die an die fünf Wunden Jesu an den Füßen, an den Händen und an der Seite erinnern. Bei der Segnung der Osterkerze in der Osternacht werden dazu die Worte gesprochen: „Durch seine heiligen Wunden, die leuchten in Herrlichkeit behüte uns und bewahre uns Christus der Herr. Amen.“ Bevor die Wachsnägel in die Osterkerze gesteckt werden, wird ein Weihrauchkorn in das dafür vorbereitete kleine Loch gesteckt. So wie die Kerze nur brennen kann, wenn ihr Wachs sich verzehrt, so kann Weihrauch nur duften, wenn die Weihrauchkörner verbrennen.
Das Zeichen des Kreuzes auf der Osterkerze ist umfasst von den griechischen Buchstaben Alpha und Omega. Das historische Ereignis des Kreuzestodes des Jesus von Nazareth ist eingebunden in die göttliche Wirklichkeit Christi, der aus der Ewigkeit des himmlischen Vaters gekommen ist und in die Ewigkeit des himmlischen Vaters wieder zurückgekehrt ist. In den letzten Versen der Bibel, in der geheimen Offenbarung des Johannes, stehen die Worte Christi: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende.“ (Offb 22,13).
In diesen großen zeitlosen Rahmen der Ewigkeit Jesu Christi ist nur das historische Ereignis seines Kreuzestodes eingetragen sondern auch das historische Ereignis des Osterfestes 2019. Wir leben hier und heute, aber als getaufte Christen wurden wir auch in die Ewigkeit des dreifaltigen Gottes hineingetaucht. Bei der Segnung der Osterkerze wird zu den Jahreszahlen gesagt: „Sein ist die Zeit und die Ewigkeit. Sein ist die Macht und die Herrlichkeit in alle Ewigkeit. Amen.“