Christliche Werte - ein Angebot auch für Nichtchristen?

Vortrag von Bischof Joachim Wanke im Dessauerkreis in Erfurt

Bei Besuchen in katholischen Kindergärten des Bistums spreche ich regelmäßig die Frage an, wie nichtchristliche Eltern, die ihre Kinder einem katholischen Kindergarten anvertrauen, zu dessen Erziehungszielen stehen. Fast immer wird gesagt: Positiv! Manche dieser Eltern wünschen sogar ausdrücklich, dass ihren Kindern "christliche Werte" vermittelt werden mögen, auch wenn sie als Eltern nicht zur Kirche gehören oder sich nicht am Gemeindeleben beteiligen.


Setzen wir einmal voraus, dass solche Eltern sich doch Gedanken machen über das, was sie ihren Kindern vermitteln wollen, bleibt ein zwiespältiges Gefühl: Einerseits wird gewünscht, dass christliche Werte eine Rolle spielen, andererseits lehnt man die Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, in der diese Werte gepflegt werden, für sich ab.


Diese Haltung ist beileibe keine Ausnahmeerscheinung. Konfessionelle Schulen erfreuen sich bekanntlich gerade unter Nichtchristen einer hohen Anerkennung. Die Sozialarbeit der Kirchen findet allgemein Anerkennung und Wertschätzung. Die Kirchen werden gebeten, zu wichtigen Fragen im öffentlichen Gespräch Stellung zu nehmen, wie etwa jetzt zu den Problemen, die aus den Reformen der sozialen Sicherungssysteme oder auch aus den neuen Möglichkeiten in der Biotechnik erwachsen.


Andererseits kommt es, wie jetzt in Sachsen, zu Auseinandersetzungen, wenn im überarbeiteten Schulgesetz des Landes auf christliche Werte verwiesen wird. Im Gesetzentwurf heißt es:


"Diesen Auftrag (sc. der Bildung und Erziehung) erfüllt die Schule, indem sie den Schülern insbesondere anknüpfend an die christliche Tradition im europäischen Kulturkreis Werte wie Ehrfurcht vor allem Lebendigen, Nächstenliebe, Frieden und Erhaltung der Umwelt, Heimatliebe, sittliches und politisches Verantwortungsbewusstsein, Gerechtigkeit und Achtung vor der Ü;berzeugung des anderen, berufliches Können, soziales Handeln und freiheitliche demokratische Haltung vermittelt...."


Natürlich werden bei Auseinandersetzungen wie diesen auch politische Motive bei manchen Wortführern erkennbar. Man will den Verdacht stärken, dass christliche Kräfte, womöglich sogar die Kirchen politischen Einfluss behalten oder verstärken wollen. "Die Roten sind gegangen, jetzt kommen die Schwarzen!" Mit solcher Verdachtshermeneutik kann man natürlich bei manchen Leuten Punkte sammeln.


Doch bleibt es ein Problem: Je mehr Christen gesellschaftlich in eine Minderheitenrolle geraten, desto stärker erhebt sich die Frage, ob christliche Wertvorstellungen noch für alle anderen Menschen verbindlich sein können. Vor diesem Problem stehen ja auch Parteien, die sich in ihrem Parteiprogramm ausdrücklich zu christlichen Ü;berzeugungen bekennen. Können, ja sollen sie sich auch hinsichtlich der Mitgliedschaft Nichtchristen öffnen? Die CDU als eine Volkspartei wird das tun müssen. Aber dann erhebt sich sofort die Frage, inwieweit es gelingen kann, nichtchristliche Mitglieder für programmatische Aussagen einer Partei zu gewinnen, die zumindest in einem Zusammenhang stehen mit christlichen Ü;berzeugungen bzw. Werteinstellungen. Das gilt auch dann, wenn man voraussetzt, dass das "C" in einem Parteinamen keine Tatsachenbehauptung, sondern eine Zielorientierung, eine Selbstverpflichtung meint.


Aber auch kirchlich-katholische Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser, Seniorenheime, Berufsbildungszentren u. ä. stehen vor ähnlichen Fragen. Können wir uns christlich nennen, zumindest dem Anspruch nach, wenn immer mehr Nichtchristen oder kirchlich nicht Engagierte als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in unseren Einrichtungen tätig sind? Wenn Leitbilder für solche Einrichtungen entworfen werden, entzündet sich daran oft eine lebhafte Diskussion. Wollen wir Christen andere einfach für uns vereinnahmen? Oder ist das Attribut christlich für ein kirchliches oder von einem christlichen Verband geführtes Haus ein Angebot, auf das sich auch Nichtchristen einlassen können? Gerade hier in den neuen Bundesländern, in denen die Christen von jeher eine Minderheit bildeten, ist das für manche kirchliche Einrichtung eine ernst zu nehmende Frage.


(Ich lasse jetzt einmal die Frage weg, wie das mit der Mitarbeit von Angehörigen anderer Religionen ist, etwa mit gläubigen Muslimen.)



0. Tasten wir uns an unser Thema heran:


Man findet meist schnell Zustimmung, wenn man heute von einem Schwinden von Werten redet. Das Klagen über die schlechter gewordenen Zeiten, über den Verfall von Gemeinsinn, über mangelnde Gerechtigkeit (etwa zwischen West und Ost) oder den Missbrauch des Sozialstaates durch Einzelne gehören zu einem beliebten Einstieg in Stammtisch-Gespräche. Einzelne schlechte Erfahrungen werden generalisiert, die Raffgier einzelner Manager beispielsweise, oder das moralische Versagen hochgestellter Persönlichkeiten. Aber solches Klagen war wohl auch in vergangenen Zeiten üblich. Manchmal erschrickt man natürlich, wenn bestimmte Perversitäten öffentlich werden, die man nicht für möglich gehalten hätte, wie etwa Kannibalismus. Doch muss man nüchtern sagen: Verbrechen und moralisches Versagen Einzelner wird es zu allen Zeiten geben, auch in Zukunft. Darüber sollte man sich nicht allzu sehr aufregen.


Was eher eine Frage nachdenklicher Menschen ist, seien sie nun Christen oder Nichtchristen, bezieht sich auf etwas anderes. Es ist die Frage nach dem, was Gesellschaft überhaupt zusammenhält. Nachdenkliche Zeitgenossen klagen weniger über dies oder jenes, was in der Tat auch heute beklagenswert ist. Ihnen macht zu schaffen die Pluralisierung der Wertvorstellungen und die damit zusammenhängende Individualisierung des Ethos. Was dem einen als gut oder wenigstens noch tolerabel erscheint, ist für den anderen unerträglich oder zumindest der Anfang vom Ende. Gemeinsame, lange als selbstverständlich gehaltene Wertüberzeugungen driften auseinander.


Wie schwer ist es z. B., sich auf Fragen zu einigen, die mit der Sicherung und dem Schutz des ungeborenen Lebens zusammenhängen. Auch gehen die Vorstellungen weit auseinander, wenn über Sterbehilfe oder das Recht auf Euthanasie diskutiert wird. Hier merkt man, wie sehr doch weltanschauliche Positionen etwas von dem, was Menschenwürde ausmacht, das Meinen und Urteilen bestimmen. Es ist gut, wenn es in Art. 1 unserer Verfassung heißt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Wir spüren freilich zunehmend, dass dieser Verfassungsartikel ein bestimmtes Menschenbild voraussetzt, dessen allgemeine Selbstverständlichkeit nicht mehr vorausgesetzt werden kann.


Diese Ü;berlegung führt mich zu einem ersten Gedankengang:



1. Der Zusammenhang von Wertewandel und gesellschaftlichem Wandel


Wir müssen beachten, dass Wertewandel und gesellschaftlicher Wandel in einem engen Zusammenhang stehen. Veränderungen im politischen, wirtschaftlichen, oder kulturellen Umfeld lassen immer auch Veränderungen in den Wertvorstellungen und Verhaltensnormen der Menschen erwarten.


Beispielsweise lässt Verbreiterung von Bildung, dies freilich zusammen mit anderen Faktoren, den Freiheitsraum der Menschen wachsen. Dadurch verändert sich dann auch das Anspruchsniveau in Bezug auf persönliche, aber auch gesellschaftlich-politische Freiheit. Dies wiederum hat Einfluss beispielsweise auf Partnerschaftsbeziehungen, auf das Bindungsverhalten im privaten und öffentlichen Bereich, etwa im Sinne einer stärkeren Freisetzung des Einzelnen von sozialen oder familiären Verpflichtungen. Menschen belasten dann gegebenenfalls einander weniger. Man kann sich z. B. mit Hilfe eines liberalisierten Scheidungsrechtes schnell trennen. Aber die Kehrseite ist: Menschen stützen und tragen einander auch weniger. Die Ausweitung der Freiheitsräume bewirkt, dass Menschen weniger gebunden sind, aber auch eher allein gelassen werden.


Ein anderes Beispiel für den Zusammenhang des gesellschaftlichen Wandels mit dem Wertewandel ist die Veränderung der Arbeitswelt. Die Automatisierung und Computerisierung vieler Arbeitsvorgänge setzt den Menschen in einem Umfang von Arbeit frei, der erstaunlich ist. Dadurch wird zum einen die Aufmerksamkeit von der Arbeit auf die Freizeit gelenkt - man spricht heute von "Freizeitwerten" -, zum anderen wird Arbeit nicht mehr als der vorrangige Ort für Sinnerfüllung und Lebensglück angesehen. Nicht mehr der Lebensunterhalt steht im Vordergrund des Strebens, sondern Werte, die der Selbstverwirklichung dienen, sei es im Umgang mit Sachen oder mit Personen.


Wertewandel ist also ein gesellschaftlich-kultureller Vorgang, dessen Folie die Veränderung von Glückserwartungen ist. In einer materiell gesättigten Gesellschaft werden immaterielle, im engeren Sinn kulturelle, musische, sportliche oder Gesundheitswerte gegenüber der physischen Existenzsicherung an Bedeutung gewinnen.


Wir stellen heute durchaus auch neue Werthaltungen fest, etwa neue Formen solidarischen Verhaltens. Es ist richtig: Bei jungen Leuten - und nicht nur bei ihnen - ist sicherlich ein Rückgang überlieferter Formen von Solidarität zu beobachten, aber andererseits durchaus auch eine Zunahme von sozialem, politischem und kulturellem Engagement, wobei freilich nicht immer reiner Altruismus dominiert, sondern auch der Wille, das eigene Leben zu bereichern und inhaltliche Befriedigung durch soziale Kommunikation zu gewinnen.


Ich denke auch an manche neue Formen von solidarischer Selbstorganisation in der Zivilgesellschaft, etwa Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, Gruppen, die sich mit ökologischen oder friedensethischen Problemen oder Fragen der "Dritten-Welt" befassen, Mutter-Kind-Gruppen, Selbsthilfegruppen und ähnliches mehr. Ein gutes Beispiel für heutiges Engagement von Menschen ist die Hospizbewegung. Die Menschen bewegt die Frage: Was heißt heute angesichts der modernen Medizintechnik menschenwürdiges Sterben? Was können wir tun, uns in dieser Stunde letzter Einsamkeit nicht gegenseitig im Stich zu lassen? In diesem Sinne wären sicher noch manch andere erfreuliche Initiativen in Gesellschaft und Kirchen zu erwähnen.


Auch was innerhalb unserer Haushalte und Familien an gegenseitiger Lebenshilfe, an biographischer Stabilisierung, Kranken- und Altenpflege und Erziehung geleistet wird, sollte nicht übersehen werden. Das Ehrenamt, auch in den herkömmlichen Formen der Verbandsarbeit, ist aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken. Freilich: Die Haltung zum Ehrenamt hat sich verändert. Das heutige Leben begünstigt das zeitlich begrenzte Ehrenamt. Man fragt nach gesellschaftlicher Unterstützung bei ehrenamtlichen Aufgaben, etwa eine Sachkostenerstattung u. ä. mehr. Das alles stellt aber nicht in Frage, dass ehrenamtliche Arbeit und gemeinnütziges Engagement vieler (besonders auch älterer) Menschen heute für den Zusammenhalt in der Gesellschaft zunehmend bedeutsamer wird.


Nicht zuletzt ist das Ereignis der friedlichen Revolution im Osten unseres Vaterlandes ein Hinweis darauf, dass man nicht einfach generell von Werteverfall reden kann. Denn in der Wende hat sich eine Mehrheit der Bürger gegen eine totalitäre Staatspartei aufgelehnt, weil Freiheit und Wahrhaftigkeit als Werte eben für sie Bedeutung hatten. Und dass dies unter dem Zeichen der Gewaltlosigkeit stattfand, ist nicht hoch genug zu würdigen. (Wobei wir an anderen geistigen Verbildungen der Menschen durch das alte System hier im Osten durchaus noch weiterhin zu leiden haben; ich nenne als Beispiel das sehr verinnerlichte "Versorgungs- bzw. Betreuungsdenken").


Der Wertewandel kann also nicht allein unter einem moralischen Gesichtspunkt isoliert betrachtet werden. Auch wenn in Umbruchzeiten der Wertewandel oftmals im gesellschaftlichen wie im individuellen Bereich wie ein Werteverfall erscheint, also als Traditionsverlust, sollte das nicht zu generellen kulturkritischen oder gar pessimistischen Urteilen verleiten.


Freilich bedarf es der gemeinsamen Anstrengung, durch gesellschaftliche Wandlungen bedingte Veränderungen im Werteempfinden und Werteverhalten gegebenenfalls zu korrigieren bzw. diese Veränderungen zu ergänzen. Dazu ist die Gesellschaft als solche, aber auch die Christen und die Kirchen, die ja Teil der Gesellschaft sind, als Träger und Vermittler religiös begründeter Werte herausgefordert.


Diese Erkenntnis führt uns zu der Frage: Was können Christen dazu beitragen, den Willen zum Zusammenhalt in der Gesellschaft zu stärken bzw. stabil zu halten? Sind christliche Werte auch für nichtchristliche Menschen eine Basis, auf der Koalitionen für eine humane Gesellschaft geschmiedet werden können?


Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, noch einen kleinen Exkurs über die Frage, was denn eigentlich Gesellschaft ausmacht. Das ist natürlich ein unerschöpfliches Thema, über das Soziologen und Politikwissenschaftler viel kompetenter reden könnten. Wenn ich recht sehe, sagt die heute vorherrschende Theorie: Gesellschaft konstituiert sich durch Kommunikation: Wo immer Kommunikation sich vollzieht - in Handel, Verkehr, durch Massenmedien, durch politische Zusammenschlüsse usw. - verdichtet sich eine Ansammlung von Menschen zu einer Gesellschaft.


Ich mache mir das gern an diesem Beispiel klar: Menschen in einer Fahrstuhlkabine sind im Normalfalle eine zusammenhanglose Ansammlung von Personen. Man nimmt sich kaum untereinander wahr. Anders jedoch, wenn der Fahrstuhl einmal stecken bleibt! Dann wird aus dieser zusammenhanglosen Menschengruppe plötzlich eine Schicksalsgemeinschaft, eine "Gesellschaft", in der interessante Interaktionen untereinander ausgelöst werden!


Ü;brigens: In diesem Sinne gehen wir auf eine mehr und mehr zusammenwachsende Weltgesellschaft zu. Je mehr wir um die globalen Herausforderungen und Probleme wissen, je mehr die Völker miteinander kommunizieren, desto dichter wird das Zusammengehörigkeitsgefühl. Je mehr die Menschen erkennen: Wir sitzen alle gemeinsam in einem Boot, desto mehr wächst das Gespür und vermutlich auch die Bereitschaft zur Solidarität für das Ganze.


Das ist die desillusionierend einfache Antwort mancher Soziologen auf die Frage nach dem Zusammenhalt von sozialen Gebilden: Jedwede Art von Kommunikation hält Gesellschaft zusammen, ja Gesellschaft ist Kommunikation, unabhängig von deren Qualitäten. Je dichter das Netz der Kommunikation, desto größer der Zusammenhalt (so z. B. N. Luhmann).


Für mich bleiben freilich bei dieser Gesellschaftstheorie Fragen. Ich meine, über die Kommunikation hinaus braucht es noch andere "Bindemittel", um Gesellschaft entstehen zu lassen, zumindest eine humane Gesellschaft.


Denn sonst müsste man fragen: Sind solche Gebilde wie eine Räuberbande, ein Terrornetzwerk, eine Mafia-Organisation, ein faschistisches Staatswesen, die auf perfekter Kommunikation aufbauen, auch "gelungene Gesellschaft"?


Ich meine: eine rein funktionalistische Sicht von Gesellschaft reicht zur Zukunftssicherung nicht aus. Der Kern unseres Unbehagens an der Moderne ist diese Sorge: Vermögen die anonymen Dynamiken solcher Funktions- und Kommunikationszusammenhänge auf Dauer ohne das Gegengewicht moralischer Ansprüche zu genügen? Was Gesellschaft bloß funktional zusammenhält, reicht nicht aus, um dem Menschen Lebenssinn für sich persönlich und auch Gemeinsinn für den gesellschaftlichen Zusammenhalt aller zu vermitteln.


Wir stehen also vor der Notwendigkeit einer tieferen Begründung des Zusammenhalts der Menschen in der Gesellschaft. In unserem Kulturkreis spielte und spielt das Christentum dabei eine wichtige Rolle. Das sehen m. E. auch Menschen, die selbst religiös "unmusikalisch" sind. Eingangs haben wir ja auf dieses Phänomen aufmerksam gemacht.


Nochmals: Könnten Nichtchristen und Christen aufgrund christlicher Wertvorgaben zu Koalitionspartnern werden bei der Aufgabe, Gesellschaft ethisch zu fundieren, sie also aufgrund christlicher Werte zusammenzuhalten?


Das führt mich zu einer zweiten Ü;berlegung:



2. Was meinen wir eigentlich mit "christlichen Werten"?


Die meisten Werte eines Christen sind auch die der anderen (ordentlichen) Menschen. Grundtugenden wie Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, das rechte Maß halten (= Kardinaltugenden der Griechen) sind allen Menschen einsichtig, auch wenn sie sich nicht immer danach richten!.


Dazu kommen eine Menge anderer Werthaltungen, manchmal auch Sekundärtugenden genannt. Bei der Grundwertediskussion in den 70er Jahren wurden diese Werte z. T. diffamiert. Er erinnere mich noch solcher Parolen wie: "Mit Pünktlichkeit kann man auch ein KZ führen!" Heute ist wieder eine Neubesinnung auf diese Werte zu beobachten.


In der Tat gilt: Fleiß ist nichts spezifisch Christliches. Keuschheit vielleicht schon eher, aber da bin ich mir gar nicht so sicher, wenn ich an die römischen Vestalinnen denke. Die Nächstenliebe? Die kennt als Gebot auch das Judentum. Manchmal wird auf die Feindesliebe als Proprium christlicher Ethik hingewiesen. Was in der Tat in der Verkündigung Jesu besonders hervortritt, ist die universale Ausweitung der Nächstenliebe, also auch auf den Feind. Hier ist am ehesten ein christliches Proprium greifbar.


Es ist also gar nicht so einfach, wirklich das Proprium, die unverwechselbare Eigenheit einer christlichen Ethik zu bestimmen. Am ehesten wird in der Bergpredigt Jesu das Eigene der christlichen Wertvorstellungen sichtbar: Es ist das Leben als Nachahmung der Verhaltensweise des Vaters im Himmel. Es ist eine "Reich-Gottes-Ethik", die nicht allein innerweltlich begründbar ist, sondern mit dem Verhalten Gottes zu uns. Ethik wird hier abgeleitet als eine Reaktion auf die Liebe Gottes zum Menschen. Ethisches Verhalten bestimmt sich als ein Leben unter dem Anspruch des Reiches Gottes. Im Vergleich gesprochen: Ich respektiere die Straßenverkehrsordnung nicht wegen der Polizei, sondern wegen einer umfassenden Sicht des Lebens als einer kostbaren Gabe, die ich anständigerweise nicht gefährden darf, bei mir nicht und bei anderen nicht!


Das Eigene des Christlichen liegt also oft in den Haltungen, in der inneren "Fermentierung" eines ethischen Verhaltens begründet. Ich nehme einmal das Beispiel, wie ein Mensch seinen Tod annimmt. Der eine stirbt in der Ergebung in Gottes Willen und in der Hoffnung, von Gott aufgefangen zu werden, der andere stirbt gleichsam mit geballter Faust, unter Protest.


Ich gebrauche gern dieses Bild: Das "Plus" vor der mathematischen Klammer ist wichtig. Das Vorzeichen bestimmt den ganzen Wert dessen, was in der Klammer zusammengefasst ist. So ähnlich ist das mit dem Leben des Menschen. Der christliche Glaube verändert ja nicht die Wirklichkeit. Sterben ist für den Christen wie für den Nichtchristen eine gleich große und schwere Herausforderung. Auch Glaubende haben vor dem Sterben Angst. Der Unterschied ist: Wer um die Wirklichkeit des Gottes Jesu Christi weiß und an ihn als den Inbegriff der Liebe und des Erbarmens glauben kann, entwickelt eine größere Hoffnungskraft, eine tragfähigere Geduld, eine Bereitschaft, sich selbst angstfreier loszulassen. Er braucht nicht zu sagen: "Ich komme zu kurz!" Vielleicht wird ein Glaubender auch sonst im Leben eine größere Frustrationstoleranz haben. (Dass Religion nicht vor Fanatismus bewahrt, füge ich gleich hinzu. Religiöse Ü;berzeugungen bedürfen ständiger Selbstkritik und Reinigung, sonst "verwildern" sie!).


Christen werden etwa auch das unvermeidliche(!) Leid anders bewerten. Sie glauben ja an das erlösende Leiden Christi. Sie können darum ihrem eigenen Leid eine Sinnbestimmung geben, die in die Richtung einer Leidensgemeinschaft mit Jesus Christus geht. In allem, auch in der Situation des Leidens so werden wie er, nicht: weil das Leiden so schön ist, sondern weil in der Annahme des Leidens meine Selbstübereignung an den für mich unbegreifbaren Willen des Vaters im Himmel wachsen und reifen kann.


Wir könnten also diesen Gedanken zusammenfassend sagen: Das WIE eines Lebens, einer Lebenshaltung, seine "Gesamteinfärbung" macht oft erst erkennbar, ob man es mit einem Christen zu tun hat oder nicht. (Das tröstet einen auch selbst, wenn man manchmal zweifelt, ob man wirklich echt gläubiger Christ ist oder nicht!)


Doch auch diese Aussage hat ihr Recht: Das christliche Menschenbild hat viele materiale Elemente, die auch Nichtchristen teilen könnten: etwa das Gespür für den Menschen als ein Geschöpf. Auch Nichtchristen reden neuerdings wieder unbefangen von Schöpfung (vgl. die Frankfurter Friedenspreisrede des Philosophen Jürgen Habermas 2001). Oder ich verweise auf die allen Menschen wohl eigene Sehnsucht danach, ein gewolltes (bejahtes) Wesen zu sein. Der Spruch aus Kindermund: "Was habe ich davon gut zu sein, wenn es keiner sieht!" hat eine tiefgründige, doppelsinnige Bedeutung. Wir wollen im Ansehen stehen, "angesehen" sein. Viele spüren: Das reicht nicht, wenn nur Menschen mich ansehen. Ich nenne die Bereitschaft vieler Menschen, Grenzen zu akzeptieren. Auch Nichtchristen lehnen z. B. die Euthanasie ab, aber vielleicht mehr von der Philosophie Kants her begründet und weniger vom biblischen Tötungsverbot her.


Auch bei anderen ethischen Themen gibt es durchaus manche gemeinsame Schnittmengen, etwa: die Bejahung der einmaligen Würde des Menschen wegen seiner Personalität und seiner Freiheit (wiewohl das oft im Blick auf die sonstige Schöpfung gern eingeebnet wird), oder auch die unabweisbare Verantwortung des Menschen für die Welt und den Mitmenschen (vgl. Hans Georg Gadamer). Auch in der Frage, wie sich Hoffnung begründen lässt, kann es zu einem spannenden Gespräch zwischen Christen und Nichtchristen kommen. Ich nenne nur solche Namen aus jüngerer Vergangenheit wie den tschechischen Philosophen Milan Machovec oder Ernst Bloch.


Gerade auch im Blick auf das christliche Menschenbild kann es zu einer Begegnung zwischen Christen und Nichtchristen kommen. Geschöpflichkeit (positiv wie negativ gesehen), Würde und Verantwortung des Menschen, aber auch das Drama von Versagen, Schuld und Vergebung sind die Eckpunkte der christlichen Sicht des Menschen. Das ist für mich erzählerisch meisterhaft in dem Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn (vgl. Lukas 15) eingefangen: der Mensch ist auf einen Weg gestellt - in ein Gespräch verwickelt - für eine unfassbare Freude bestimmt (die Metapher des Festes!).


Wir sehen: Es gibt viel Gemeinsames zwischen den sogenannten christlichen Werten und den Werten, die auch aus humanistischer Haltung heraus als wichtig angesehen werden. Das liegt an der Hochschätzung der Natur, der Schöpfungswirklichkeit im Christentum, speziell im katholischen Christentum. Unser Glaube ist ja kein Glaube gegen die Schöpfung, sondern nur gegen die von der Sünde verdorbene Schöpfung. Darum gibt es in jedem Menschen Anknüpfungspunkte für die christliche Botschaft. Der altchristliche Philosoph und Theologe Tertullian hat das berühmte Wort geprägt: anima humana naturaliter christiana. In freier Ü;bersetzung: "Der Mensch ist von Natur aus offen für die christliche Offenbarung". Diese Ü;berzeugung dürfen wir auch heute teilen.


Aber wir wollen noch ein wenig tiefer fragen, wo sich genau die Brücken zwischen christlichem und nichtchristlichem Ethos befinden.



3. Brücken zwischen einem christlichen und nichtchristlichem Ethos


Ich mache einmal auf zwei Verbindungen aufmerksam, die im Blick auf unsere Fragestellung wichtig sind (und wohl im künftigen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Pluralismus noch wichtiger werden). Was verbindet Christen und Nichtchristen?


1. Die Anerkennung des Mitmenschen als meinesgleichen.


Dieser Grundsatz ist schon in der Goldenen Regel und im biblischen Gebot der Nächstenliebe verankert. Aber im Zuge der neuzeitlichen Diskussion um Menschenwürde und Menschenrechte gewinnt diese Norm eine weiterreichende, umfassendere Bedeutung. Auch Institutionen, die Gesellschaft insgesamt, auch in ihrer sich weltweit ausdehnenden Dimension, können nur auf der Anerkennung der Würde und des Selbstbestimmungsrechts aller Mitglieder der Menschheitsfamilie aufbauen. Jede Rechtsordnung, die Zukunft eröffnet, muss mehr sein als nur eine positivistische Setzung von Recht, die je nach Bedarf und Kalkül abgeändert werden kann. Sie muss auf der fundamentalen und absolut bindenden Anerkennung der Würde jedes Menschen aufbauen, auf der unbedingten Geltung seiner Würde, auch der Würde dessen, der mir die Anerkennung meiner Würde verweigert. Papst Johannes Paul II. hat einmal geschrieben (in einem Brief an die Familien 1992): "Sämtliche Menschenrechte sind letzten Endes hinfällig und wirkungslos, wenn ihrer Grundlage der Imperativ ?ehre!? fehlt; mit anderen Worten, wenn die Anerkennung des Menschen durch die einfache Tatsache, dass er Mensch, ?dieser? Mensch ist, fehlt. Rechte allein genügen nicht." Ich denke dabei auch an einen Denker der Aufklärung wie Jean Jaques Rousseau (1712-1778), dessen Lebensmaxime in dem Satz "den Menschen ehren" eingefangen werden kann.


Für uns gläubige Christen ist natürlich auch diese Begründung dafür wichtig: der Glaube, dass im Menschen Jesus Christus Gott selbst begegnet. Damit ist jeder Menschen geheiligt. Die Achtung des Anderen, des "Fremden", ja des "Feindes", als Geschöpf Gottes, ja als Ort der Erscheinung Gottes hat dort sein Fundament (vgl. das Gerichtsgleichnis Mt 25: "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan"). Für diese Begründung sollten wir bei Nichtchristen werben, aber die kann man eben - weil der Glaube ein Gnadengeschenk ist - nicht dem anderen "aufdrücken"!


Nur nebenbei bemerkt: Daraus folgt für mich diese Einsicht: Der wichtigste Beitrag der christlichen Religion zum Zusammenhalt unserer Gesellschaft ist nicht der soziale Einsatz der Kirche, sind nicht moralische Appelle von der Kanzel, sondern das Offenhalten dieses Gottesverständnisses, Gott als mit dem Menschen solidarischer Gott. Das Christentum hat in seinen konkreten geschichtlichen Erscheinungsformen vor diesem Anspruch dieses Gottesbildes sicher auch immer wieder versagt, aber es hat immer wieder durch diese Art von Gott zu reden Kräfte entbunden, die zur Achtung jedes Menschen und seiner unbedingten Würde beigetragen haben.


Damit berühre ich schon den weiteren Gedanken, der Brücke zwischen christlichem und nichtchristlichem Ethos ist:


2. Die unbedingte Anerkennung des Leidens des anderen Menschen


Das Leid hat im Christentum eine zentrale Bedeutung, genauer: die Bewältigung des Leidens. Das ist geradezu ein Proprium der christlichen Religion. Gegen dieses christliche Leidverständnis hat bekanntlich Friedrich Nietzsche (1844-1900) seine heftigsten Angriffe geführt ("Sklavenmoral"!). Sicher ist zu sagen: Die Theodizee-Frage (Warum das Leiden?), schon im Buch Hiob unübertroffen formuliert, hat das Christentum nie losgelassen. Der Schrei Jesu am Kreuz: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" beunruhigt bis heute die christliche Frömmigkeit.

Hier sehe ich eine Brücke zu einem Ethos, das sich nicht religiös definieren will. Ich bringe es auf die Formel: Das Leid des anderen als Regulativ für mein eigenes ethisches Verhalten! J. B. Metz spricht von der "unbedingten Autorität des Leidenden". Im Neuen Testament sehen wir: Jesus lässt sich vorrangig vom Leid der Menschen ansprechen!


Eine sich am Leid des anderen orientierende Haltung ließe sich sogar mit dem Autonomieverlangen des modernen Menschen verbinden. Der Anspruch Gottes begegnet dem nichtchristlichen Zeitgenossen dann nicht in einem abstrakten Moralkodex, sondern im Anspruch des Mitmenschen, besonders im Anspruch des leidenden und gequälten Mitmenschen. Es hat nicht nur zu gelten: "Meine Freiheit ist immer auch durch die Freiheit des anderen begrenzt" (Rosa Luxemburg), sondern noch mehr: "Meine Freiheit ist immer auch durch das Leid des anderen begrenzt."


Die Moral des Christentums ist an sich nicht primär sündenorientiert (so ein oft gehörter Vorwurf), sondern leidorientiert. Im Christentum gilt nicht eine formale Autorität, also die Furcht vor der Verletzung einer göttlichen Vorschrift, sondern es gilt die Autorität eines für den Menschen leidbereiten Gottes. Der Anspruch des Evangeliums an den Menschen lautet: "Du bist geliebt - bis in die göttliche Selbstentäußerung hinein. Habe den Mut, auf diese Liebe mit eigener Selbsthingabe zu antworten!"


Keine andere Religion kennt einen leidenden Gott! Das ist übrigens der Grund, warum die Vätertheologe so entschieden an der Realität des Leidens Jesu festgehalten hat. In der Passion Jesu passiert kein göttliches Theater, sondern hier geht es um Gottesoffenbarung, die Wirklichkeit offenbart. Viele Menschen haben gelitten, vielleicht sogar furchtbarer als Jesus von Nazareth. Hier aber leidet Gott um des Menschen willen. Die Autorität des leidenden Christus geht über auf alle Leidenden dieser Welt.


Darum kann der christliche Glaube sagen: Menschliche Autonomie und Emanzipation wird dort zur Farce, wenn sie macht, was sie will, auch angesichts des Leidens Gottes, der sich mit dem leidenden Mitmenschen immer neu identifiziert. Menschliche Freisetzung gelingt dagegen dort, wo sie sich der Autorität des leidenden Mitmenschen beugt und sich ihr unterordnet. Ich lasse mich vom Leid des anderen nicht nur emotional betreffen, sondern in meinem Verlangen nach Selbstverwirklichung "begrenzen".


Ob das ein Ethos wäre, dass Christen und Nichtchristen verbinden könnte? Schätzen wir das nicht als gering ein. Der gemeinsame Einsatz gegen das Leid ist ein gewaltiger Impuls, der eine Gesellschaft zusammenhalten und sie vermenschlichen kann. Aus einer solchen Gemeinsamkeit kann eine Koalition für das Leben erwachsen. Und diese brauchen wir angesichts der Todeszeichen in unserer Gesellschaft dringend!


Zum Abschluss noch einmal ein Blick auf uns Christen selbst. Was wäre für den Christen beim Zusammenwirken mit Nichtchristen im Blick auf die ethische Fundamentierung gesellschaftlichen Handelns zu beachten?



4. Wichtige Grundhaltungen des Christen beim Zusammenwirken mit Nichtchristen


Ich formuliere einmal vier Grundhaltungen, die mir für Christen in unserer heutigen gesellschaftlichen Situation wichtig erscheinen:


- Akzeptanz des weltanschaulichen Pluralismus mit seinen Chancen und Grenzen

Die gewachsene Pluralisierung der Weltsichten und Lebensentwürfe in der Moderne hat die Kirchen und Christen oftmals in eine zwar verständliche, aber eigentlich unbegründete Verunsicherung geführt.


Christen müssen lernen, den gesellschaftlichen, auch den weltanschaulichen Pluralismus anzunehmen und in ihm sich zu behaupten. Sie müssen das nicht mit Jubel und Begeisterung tun, denn es ist offensichtlich, dass der Pluralismus der heutigen Zeit mancherlei Zerrissenheiten und Konflikte in die kleinen und großen Lebenskreise der Menschen bringt, ja die Menschen oftmals existentiell überfordert. Und es ist übrigens nicht gesagt, dass diese geistige Situation der Moderne auf Dauer so pluralistisch bleiben wird. Auf absehbare Zeit wird sie sich freilich nicht ändern.


In dieser Situation liegt aber auch für das Wirken von Christen und der Kirchen eine Chance. Toleranz, Dialogbereitschaft und Argumentationsfähigkeit sind heute anerkannte Spielregeln des Zusammenlebens mit Menschen anderer Grundüberzeugungen. Die Kirchen und die Christen sollten nur stärker ihre eigene unverwechselbare Stimme in dieses gesellschaftliche Gespräch einbringen. Etwa auch durch das, was sie in einer sozialen Einrichtung, in einer Schule usw. bewirken wollen.


- Lernen, entschieden den eigenen Standort zu vertreten

Kardinal Karl Lehmann hat es einmal so formuliert: "Wenn der Pluralismus aufrichtig anerkannt wird, erlaubt er auch eine bisher vielleicht wenig genutzte Stärke. Unter der Voraussetzung, dass innerhalb des pluralistischen Gefüges jede Option Achtung und Offenheit, Toleranz und Dialogbereitschaft gegenüber anderen Positionen gewährt, kann eine eingenommene und öffentlich vertretene Glaubensüberzeugung voll und uneingeschränkt vertreten werden. Die Gewissheit, die der Glaube schenkt, braucht nicht verkürzt zu werden. Er ist gewiss nicht zu verwechseln mit einem dialogunfähigen "Fundamentalismus"; er soll aber auch mit Freimut ... die ganze Fülle der eigenen Botschaft unerschrocken zur Sprache und zur Geltung bringen. Im Pluralismus nützt es niemandem, wenn alle zum Verwechseln ähnlich sind. Zwar muss man sich um eine wenigstens minimale Gemeinsamkeit der "Grundwerte" bemühen, aber der kleinste gemeinsame Nenner vieler Optionen ist kein Weg, um im Pluralismus zu bestehen. Darum gehört zum recht verstandenen Pluralismus das Bekenntnis und das Zeugnis des gelebten Glaubens, und zwar sowohl des Einzelnen, wie auch von Gruppen und der Kirche auf allen Ebenen."


Ein gutes Beispiel für solche christliche Positionsbestimmungen ist etwa das gemeinsame Wort aller Kirchen in Deutschland zum Lebensschutz "Gott ist ein Freund des Lebens" von 1989. Es hat heute noch seine bleibende Gültigkeit. Auch die sogenannte "Woche für das Leben" ist solch eine klare Positionierung, deren Stärke eben darin besteht, das sie dialogisch angelegt ist und um Koalitionspartner wirbt. Das gibt mir Gelegenheit, kurz über die Ökumene zu sprechen und diese Haltung für den Christen im weltanschaulichen Pluralismus zu betonen:


- Eine ökumenische Grundhaltung, die nach vorn schaut, nicht nach rückwärts

Die eben genannten Worte der Kirchen hatten sicherlich besonderes Gewicht durch die Tatsache, dass hier die Kirchen gemeinsam gesprochen haben bzw. handeln. Darum nenne ich hier die Ökumene als besondere Herausforderung im Blick auf das, was die christliche Religion in die künftige Gesellschaft an Wertüberzeugungen einzubringen hat. Die ökumenische Bewegung ist ein Geschenk des Gottesgeistes am Ende dieses Jahrhunderts.


Wir stehen derzeit sicherlich vor großen Herausforderungen, Krisen und Rückschläge sind nicht ausgeschlossen. Unmittelbar vor den Gipfeln pflegen die Wege besonders steil und schwierig zu werden. Ökumene darf freilich nicht nur ein Zusammenrücken derer sein, die sich gegenseitig wärmen wollen. Wir brauchen in der Ökumene zweierlei: Wir brauchen den Mut, über den je eigenen Status quo hinauszuwachsen. Der Rückzug auf den gerade noch möglichen kleinsten gemeinsamen Nenner führt uns nicht weiter.


Darum sollten wir andererseits, wie Kardinal Lehmann einmal gesagt hat, "an den Stärken des ökumenischen Partners wachsen", und zwar gerade auch an seiner Kraft, konkret das Leben und die Welt aus seiner Frömmigkeitsüberzeugung heraus zu gestalten. Die Ökumene der ethischen Gemeinsamkeiten wird in Zukunft noch wichtiger werden! Im Vollzug erst erweist der Glaube seine Glaubwürdigkeit. Abstrakte Formeln bringen uns nicht weiter. Wir müssen in den Kirchen noch viel mehr voneinander lernen, und sei es durch die Auseinandersetzung und den Streit hindurch. Wo Christen gemeinsam etwas vertreten und bezeugen, ist ihr Zeugnis von umso größerem Gewicht. (Ich bin z. B. dankbar dafür, dass es dem Thüringer Landtag in den Jahren 2001-2003 gelungen ist, einen bedeutsamen Enquete-Bericht über den Lebensschutz zustande zu bringen. Die Gemeinsamkeit der Christen hat hier etwas positiv bewegt. Aber auch nichtchristliche Politiker haben bei diesem Bericht konstruktiv mitgearbeitet).


Ich meine, dass es die Stärke einer Partei wie der CDU ist, keine konfessionelle Partei, sondern eine konfessionsübergreifende Partei zu sein. Dieses Miteinander der Konfessionen in einer Partei ist eine Frucht des gemeinsamen Widerstandes von Christen gegen die Naziherrschaft. Man sollte dies nicht gefährden oder in Frage stellen. Dabei bin ich mir bewusst, dass es auch andere Parteien gibt, in denen Christen verantwortlich mitwirken können, wobei sie in jeder Partei kritisch bleiben müssen. - Und ein Letztes:


- Mut zum persönlichen Zeugnis

Der christliche Glaube ist in seinem tiefsten Wesen ein Bekenntnis, nicht so sehr zu einem abstrakten Lehrgebäude, sondern zu einer Person, zu Jesus Christus. Jeder christliche Glaubensweg ist darum Nachfolgeweg, Zustimmung zu dem in Jesus Christus erkennbaren Lebensentwurf. Wir haben keinen Anlass, dieses Lebensmodell als heute überholt anzusehen.


Es bedarf freilich bei uns Christen an nicht wenigen Stellen eines klaren und entschiedenen Zeugnisses, auch im Widerspruch zum herrschenden Zeitgeist, um diesem Lebensmodell Glanz und Ausstrahlung zu verleihen. Vielleicht ist unser Christentum in Deutschland ein wenig dadurch bequem geworden, dass man in ihm so leicht nach Institutionen und kirchlichen Dienstleistungen rufen kann, die gleichsam stellvertretend dieses Zeugnis geben sollen. Da ist im Augenblick, sicherlich auch durch heilsamen Geldmangel bedingt, ein Umdenken im Gang. Wenn Religion und christlicher Glaube in dieser Gesellschaft "Salz" und "Licht" sein wollen, dann geht das nur über den entschiedenen Einsatz des Einzelnen, wobei dieser immer wieder die Vernetzungen in Gruppen, Verbänden und Vereinen und eben - auch die C-Parteien braucht. In solchen und anderen "intermediären Instanzen" im Zwischenraum zwischen dem Einzelnen und der Kirche einerseits und zur Gesellschaft hin andererseits können Gemeinsinn und Bereitschaft zum Einsatz für das Ganze stark werden.


Zum Abschluss sei dieser Gedanke noch angefügt:

Es wird (im Anschluss an Ernst Böckenförde) häufig bemerkt, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst produzieren kann. Das gilt sicher von der Gesellschaft insgesamt. Es sollte darum einem Gemeinwesen nicht gleichgültig sein, wenn es denn auf Dauer auf die Anerkennung von Wertüberzeugungen angewiesen bleibt, wie es um die Kirchen und ihre Wirkungsmöglichkeiten bestellt ist. Zuallererst sind sicher die Christen und die Kirchen selbst herausgefordert, "Profil" zu zeigen (im oben aufgezeigten Sinne). Aber es wäre verhängnisvoll, wenn der Staat und die öffentliche Meinung die Kirchen in den Bereich des Privaten abschieben. Religionsfreiheit im Sinne unseres Grundgesetzes darf nicht nur negativ verstanden werden im Sinn bloßer Duldung. Der Staat, die demokratische Gesellschaft muss vielmehr der Religion einen offenen Platz einräumen, den sie in eigener Verantwortung und durch eigene Betätigung in Anspruch nimmt und gestaltet. In dieser positiven Religionsfreiheit und ihrer Wahrnehmung sehe ich die Chance, der Erosion gemeinsamer Grundüberzeugungen in der Gesellschaft entgegenzutreten.


Erfurt, den 16.2.2004

link