Wir gehen auf eine Zeit zu und leben hierzulande schon in einer solchen, in der das Christ-Sein nicht selbstverständlich ist. Wenn die Mehrzahl der Mitmenschen sich als Atheisten oder zumindest als „Agnostiker“ verstehen, stellt sich einem als Menschen, der durch Elternhaus und Mit-Leben in einer Pfarrgemeinde nahezu unmerklich in das Christentum hineingewachsen ist, die Frage, warum er eigentlich Christ ist oder gar: ob er es (angesichts der Kirchensteuer oder des moralischen Versagens von Klerikern) bleiben sollte.
Es gilt derzeit beinahe notwendig eine Art neuer, jetzt ganz persönlicher Entscheidung zu treffen, mit und aus dem Gottesglauben zu leben – oder eben nicht. Für jene, die in der alten DDR aufgewachsen sind, hat meist die Kirchenfeindlichkeit der SED-Politik diese Entscheidung schon im Jugendalter notwendig gemacht.
Es gab (wohl auch früher) und gibt Mitchristen, die zwar noch gewisse christliche Bräuche und Gewohnheiten pflegen, aber faktisch doch nicht an Gott und die Bekenntnissätze des Credo glauben. Man merkt dies meist an ihrem konkreten Verhalten, ihren Entscheidungen im Alltag und ihrer Distanz zur Kirche bzw. der Gemeinde vor Ort. (Nur nebenbei angemerkt: Das macht Priestern manchmal Kopfzerbrechen, wenn sie überlegen müssen, ob ungläubige Getaufte die Sakramente der Kirche empfangen können!) Wenn einer nicht in diesen faktischen Unglauben hineinrutschen will, braucht es eine ehrliche Rechenschaft über die eigene Überzeugung und Lebenspraxis, und das wohl wiederholt. Es braucht Entschiedenheit und Mut, sich immer wieder neu für Gott und ein Leben in der Kirche durchzuringen. Dazu ist übrigens die österliche Bußzeit sehr geeignet!
Ich möchte mit Ihnen heute drei Aspekte unseres Glaubens an Gott etwas näher bedenken: Was sind die Quellen dieses Glaubens? Was kann ihn stützen und kräftigen? Und schließlich: Was gehört zum „Stil“ eines christlichen Lebens, was macht es „schmackhaft“, ja: was zeichnet es aus?
Die Quellen unseres Glaubens
Wichtig ist die grundlegende Einsicht: Die Fähigkeit bzw. der Mut, an Gott, den Vater unseres Herrn Jesus zu glauben, ist ein Geschenk des Himmels, ein Geschenk „von oben“. Das betont die Heilige Schrift immer wieder. Paulus beispielsweise schreibt an gerade erst getaufte Neuchristen: „Ihr seid von Gott erwählt. Gott ist es, der euch berufen hat…“ (etwa 1 Thess 1,4 u.ö.). An Gott glauben können ist gemäß christlichem Selbstverständnis also ein Geschenk.
Das wirft zwar manche Fragen auf, etwa: warum werde gerade ich beschenkt - und nicht andere? Warum erwählt Gott nicht Menschen, die viel „heiliger“ sind als ich? Oder: Ist es nicht überhaupt ungerecht, dass Gott andere nicht erwählt bzw. beschenkt? Darauf ist schwierig zu antworten. Dennoch ist das die Grundüberzeugung der Kirche von Anfang an: Wir sind geliebt – und wissen nicht warum. Wir können nur sagen: weil Gott es so will, unverständlicher, ja „törichter“ Weise.
Rein menschlich gesehen hat natürlich der Gottesglaube auch irdische Quellen. Für die meisten von uns wird das eine christlich-katholische Familie sein und ein Mitfeiern des Kirchenjahres in einer Pfarrgemeinde mit allem, was dazugehört. Und dazu gehört auch ein bestimmtes von der Abstammung her geprägtes religiöses Kolorit, etwa bei mir eine Herkunft aus Schlesien.
Der Glaube speist sich ferner aus Begegnung mit Menschen, die mir als Glaubenszeugen wichtig geworden sind oder dies immer noch sind: Priester aus der Kindheit und Jugendzeit, Lehrer oder Erzieher, die sich als Christen bekannten (bei mir z.B. eine tapfere katholische Lehrerin an der sozialistischen Oberschule) oder auch große Heiligengestalten, deren Biographien mich beeindrucken, oder begnadete geistliche Schriftsteller (etwa Romano Guardini) oder einfach auch Freunde, Kollegen, Nachbarn, deren Wahrhaftigkeit und Geradlinigkeit mich überzeugen. Jeder könnte da sicher im Blick auf seine eigene Biographie Beispiele nennen. Der Glaube entzündet sich an Mitglaubenden. Er lebt vom Zeugnis anderer. Und es ist sicher auch so, dass von unserem Christ-Sein auch andere Stützung und Halt erfahren. (Die Biographien von Menschen, die heute als Erwachsene nach der Taufe fragen, zeigen das.)
Und schließlich hat mein persönlicher Glaube in meinen je eigenen Lebenserfahrungen seine Quellen. Ich habe mit Gott Erfahrungen gemacht ähnlich wie in einer Freundschaft, die allmählich und Schritt für Schritt gewachsen und immer tiefer geworden ist. Oder: Ich hatte die Chance und Gelegenheit, über den Glauben nachzudenken und zu erkennen, dass christlicher Glaube und menschliches Wissen kein absoluter Gegensatz ist, sondern beide je auf eigene Weise sich ergänzen und gegenseitig stützen. Bei mir waren in jungen Jahren die Auseinandersetzungen in der DDR-Zeit mit der kommunistischen Ideologie, die ja Gott als menschliche „Einbildung“ erklärte, eine gewisse Hilfe. Oder: Ich bin selbst schon durch Stunden der Anfechtungen, der Zweifel und Ängste hindurchgegangen („Stimmt das eigentlich alles, was uns das Credo der Kirche lehrt?“). Und schließlich: Gott schenkt uns Gott immer wieder – dem Einzelnen und uns gemeinsam – Stunden der Tröstung, Erfahrungen seiner Nähe und Führung, ja, des inneren und äußeren Gehalten-Werdens, die kostbar sind, etwa unverhoffte Hilfe in einer Notsituation – oder jüngst: die Erfahrung der friedlichen Revolution, wo ein mächtig aufgeblasener kirchenfeindlicher Ideologiestaat beinahe lautlos in sich zusammenbrach.
Mein und unser Gottesglauben hat also viele Quellen: Die Quelle schlechthin, nämlich Gottes Erbarmen, sein Anruf, seine unbegreifliche Liebe; aber eben auch menschliche Quellen, die immer wieder neu – wie einen Wanderer auf einem Weg – den Glauben innerlich überzeugend („evident“/einsichtig) machen. Nur: Das ist nicht „anzudemonstrieren“! Denn der Gottesglaube ist nicht zunächst „Lehre“, geschweige denn eine Ideologie, zu der man verführt werden könnte. (Das kann er werden – wenn er pervertiert und dann als Mittel benutzt wird, Menschen zu manipulieren. Stichwort: Religiöser Fundamentalismus!). Freilich: Andere Christen können mir helfen, den Sprung ein gläubiges Vertrauen auf den Himmel zu wagen. Das ist wie beim Schwimmen-Lernen: Die sich schon im tiefen Wasser tummeln, winken denen, die sich nicht ins Tiefe trauen, aufmunternd zu. „Komm, traut Euch – das Wasser trägt wirklich!“ Oder ein anderes Bild: Gläubige Christen können im Blick auf andere so etwas wie Hebammendienste leisten. Zwar ist es Gott, der das neue, österliche Leben schenkt. Wir können als einzelne (etwa als Eltern, Paten, Freunde…) und als kirchliche Gemeinschaft helfen, dass dem in Christus Neugeborenen ein freundliches Willkommen gesagt wird. Mehr nicht – aber das ist schon viel!
Nun einiges zum 2. Punkt: was meinem persönlichen, aktuellen Glaubensleben hilft, lebendig zu bleiben, ihn kräftig macht und stützt.
Was meinen Glauben lebendig hält
Einige Aspekte aus dem bisher Gesagten gehörten natürlich auch in diesen Abschnitt. Denn: Auf Quellen bleibt ein Fluss immer angewiesen. So auch unser „Lebensfluss“ auf das Nachströmen des Glaubens aus seinen „Quellgebieten“. Es gibt aber freilich an einem Fluss, der breiter und „behäbiger“ wird, auch manche notwendigen fluss-pflegerische Maßnahmen: Böschungen stutzen, Säuberungsaktionen, Dämme und Schutzwehren bauen und anderes mehr.
Ohne Bild gesprochen: Der Glaube braucht Pflege, Nahrung und Schutz. Er kann u.U. verkümmern – und da wäre durchaus nicht Gott schuld! Er kann verdunsten – und das läge nicht nur an der atheistischen Umwelt. Sondern das wäre meine eigene, ganz persönliche Nachlässigkeit.
Ich gehe einfach einmal von eigenen Erfahrungen aus: Ich erinnere mich an meine kritischen Jugendjahre: Ohne die geduldige Mahnung und vor allem die treue Praxis meiner Mutter bezüglich Beten und Sonntagsmesse hätte ich diese Pubertätsjahre religiös wohl nicht überstanden! Der Glaube braucht Praxis. Den regelmäßigen Kirchengang nenne ich an erster Stelle. Es ist nahezu ein Grunderfahrung der Diaspora: Wer nachlässig im Kirchgang wird oder ihn gar weglässt, gefährdet seine Gottesverbindung, verliert den Ewigkeitshorizont, gewährt sich letztlich auch an anderen Stellen „geistliche Marscherleichterungen“ und sieht am Ende die religiöse Praxis nur als Last, von der man sich dann irgendwann ganz befreit. Wer jemanden, dem er in Freundschaft verbunden bleiben will, nicht immer neu „sucht“, ihm in die Augen schaut, mit ihm kommuniziert, setzt diese Freundschaft aufs Spiel. – Es gibt ehrenhafte Entschuldigungen für den Gottesdienstbesuch. Ich habe sogar Verständnis dafür, wenn einer anderswo als konkret vor Ort eine eucharistische Beheimatung sucht – aber wenn er gar nicht sucht oder andere, zweifelhafte (etwa esoterische) „Quellen“ anzapft, bleibt er im besten Fall irgendwie religiös, aber kein Christ mehr. Mit Christus, in ihm und durch ihn dem Vater im Himmel Dank sagen (und das ist ja die innerste Mitte der Hl. Messe) – ohne diese Praxis verdunstet, zerbröselt christlicher Glaube und ist dann irgendwann ganz verschwunden.
Und manch anderes gehört natürlich auch zu einer solchen Glaubenspraxis- aber eben auch nach Zeit und Situation, nach Möglichkeiten und persönlichen Begabungen, auch nach Lebensstand und Alter je unterschiedlich und vielfarbig, wie die Frömmigkeitsgeschichte durch die Jahrhunderte hindurch zeigt. Wichtig: eine persönlich eingefärbte Gebetspraxis etwa. Für mich sind der Tagesbeginn und das Tagesende Knotenpunkte meines Geistlichen Lebens. Es braucht einen festen Rhythmus beim Beten, einen festen Gebetsschatz – aber auch (und wenn auch nur anfänglich) das Herzensgebet, das Gott nichts anders sagt als: „Ich bin da – für Dich!“ Es braucht ferner das geistliche (!) Lesen biblischer Texte (oder guter anerkannter geistlicher Lehrer). Es braucht sog. „Wüstenzeiten“, die ich mir auch als Seelsorger sorgfältig im Kalender sichern muss: Zeiten, in denen Einkehr möglich wird und Abstand von Geschäftigkeit.
Eine kleine Episode mag verdeutlichen, was ich meine. Ich erlebte einmal in einem großen Bekleidungskaufhaus, wie in der benachbarten Damenabteilung eine Frau ein Kleid für sich aussuchte – und auf einmal damit verschwand. Aber keine Sorge: Sie hatte keine bösen Absichten. Sie ging mit dem ausgewählten Stück nur aus dem Neon-Kunstlicht des Kaufhauses vor die Außentür und hielt es in das helle Tageslicht. Die Verkäuferin hatte dafür durchaus Verständnis! Denn das ist eine uns nicht fremde Erfahrung: Im Tageslicht wirkt manches anders als im Kunstlicht eines Warenhauses. Ich dachte mir im Stillen: So müssten wir Christenmenschen es machen: Uns (zumindest ab und zu) dem Licht des Evangeliums aussetzen, dem Licht „von oben“ – um dann zu schauen, ob die „Farben“ und der ganze „Zuschnitt“ unseres Lebens uns wirklich stehen! „Was kleidet mich, wenn Gott mich anschaut? Sich von Gott her „beleuchten“ lassen!
Gott ist nicht hilflos. Er findet selbst Wege und Brücken in menschliche Biographien hinein. Aber er will Herzen und Biographien nicht gewaltsam öffnen – er möchte eingeladen sein. Das braucht von unserer Seite Geduld, Phantasie und Ausdauer in einem geistlichen Leben, das feste Haltegriffe im täglichen Einerlei haben muss. Das fängt mit der brennenden Kerze beim persönlichen Beten an und hört auf mit einem Stoßgebet, das gleichsam vor alltägliche, scheinbar gottferne Beschäftigungen ein positives Plus-Zeichen setzt. Vorzeichen verändern bekanntlich den mathematischen Wert einer Klammer. Nochmals: Hier kann jeder nach seinen Möglichkeiten das tun, was ihm hilft, Gott im Blick zu behalten. Beim Hören auf das Wort Gottes und der sakramentalen Praxis fängt es an – und es hört auf, wenn wir in der Todesstunde versuchen, über unseren Leib noch einmal ein Kreuz zu schlagen.
Nicht vergessen möchte ich diese andere wichtige Grundsäule christlicher Glaubenspraxis: Das konkrete Tun und Aushalten (!) einer selbstlosen Nächstenliebe. Die großen Heiligen der Nächstenliebe haben uns dies gelehrt: Nächstenliebe ist Gottesberührung. Ja, sie ist Gottesdienst! Das wusste Elisabeth. Das wusste der hl. Vinzenz, der seinen Schwestern ans Herz legte, den Krankendienst notfalls dem Messbesuch vorzuziehen. Und das sollte jeder wissen, der beruflich oder familiär oder ehrenamtlich im Dienst an Kranken und sonst wie Hilfebedürftigen tätig ist. Im konkreten Tun der Liebe zeigt sich am ehesten, dass unser Glaube keine Ideologie ist, sondern Kraftquelle für ein Leben, das nicht nur in der Gesellschaft, sondern vom Himmel her Anerkennung findet. Und diese ist auf Dauer wichtiger als eine ehrenvolle Erwähnung in der Zeitung! Damit komme ich schon zu meinem 3. und letzten Punkt:
Was macht den „Stil“ (ich könnte auch sagen), den „Geschmack“) eines christlichen Lebens aus?
Betrachten wir noch einmal den Christen, der mitten in der Welt lebt. Er oder sie hat einen Beruf, fährt mit der Familie in Urlaub und hört ab und zu mit Genuss ein gutes Konzert oder geht ins Kino. Aber er bzw. sie geht eben auch in die Kirche, liest in der Bibel und gibt im Kollegenkreis zu erkennen, dass sie an Gott glauben und an bleibendes Leben über den Tod hinaus, das uns schon jetzt durch Taufe und Glauben geschenkt ist, freilich noch verhüllt, gleichsam in Geschenkpapier „verpackt“ und nicht immer emotional erfahrbar.
Somit überlappen sich also die Lebensfelder des Christen in seinem Alltag in eigentümlicher Weise mit denen, die jedem Menschen zur Bewältigung und zur Ge¬staltung aufgetragen sind. Jeder Mensch muss sich mit Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen. Jeder Mensch hat das Bestreben, sich in Arbeit und durch schöpferische Tätigkeit zu „verwirklichen“, wie wir heute gern sagen (und ich vermeide jeden negativen Unterton bei dieser Formulierung!).
Was ist dabei nun das Christliche? Für den Christen ergibt sich die Eigenart, dass er nicht nur das eine oder andere noch zusätzlich „leistet“ (was oben mit dem Stichwort Gottesdienstbesuch anklang), sondern dass er auch seine scheinbar rein profanen Tätigkeiten in Beruf und Alltag nochmals in einen besonderen Kontext setzt, in ein besonderes „Licht“ hält, ihm einen besonderen „Geschmack“ gibt.
Das ganze alltägliche Tun und Schaffen, darüber hinaus natürlich der ganze Lebensentwurf eines Menschen, erhält gleichsam noch einmal eine besondere „Einfärbung“, eine Art von Fermentierung, die weithin nicht von der Substanz der eigentlichen Alltagstätigkeit zu trennen ist, so wie Salz oder Zucker sich normalerweise in einer Flüssigkeit für das Auge unerkennbar in diese auflöst. Nur in einzelnen Momenten, gleichsam im Verborgenen und wie im Nebenbei kann aufleuchten, dass zwei Menschen dasselbe tun, etwa einen Kranken pflegen, aber dies auf eigentümliche Weise doch jeweils anders tun.
Am deutlichsten wird für mich dieser Unterschied zwischen Glaubendem und Nichtglaubendem in der Annahme des Sterbens, wobei ich einkalkuliere, dass der Glaubende auch eine animalische Angst vor dem Sterben hat wie wohl jeder Mensch, er aber doch im Glauben an Gott die Furcht vor dem Ausgelöscht-Werden überwinden kann, was sich dann in der willigen Annahme des Sterbens als letztem und glaubwürdigstem Akt des Glaubens und Hoffens ausdrücken mag.
Lässt sich das noch ein wenig genauer sagen? Was macht das eigentlich mit uns: aus dem Geist des Glaubens, des Hoffens, des Liebens heraus zu leben? Gibt es etwas alle Aufgaben und Tätigkeitsfelder des einzelnen Christen und der Kirche insgesamt Umgreifendes, was gleichsam die innerste Ausrichtung des Christlichen aufscheinen lässt? Ich füge also der Frage nach den Quellen bzw. der Pflege und dem Erhalt des christlichen Glaubens die Frage hinzu, ob unser Gottesglaube zu einer bestimmten, charakteristischen Gestalt, einem bestimmten geistigen Lebensstil führt.
Ich benutze dabei einmal das Bild einer „Mutter -Kind-Beziehung“. Es könnte uns helfen, diese merkwürdige Einfärbung, diese besondere Fermentierung der christlichen Existenz zu beschreiben. Denn darin ist eine uns durchaus vertraute Erfahrung eingefangen. Es ist ein Unterschied, ob ein Kind vor den Augen der Mutter (oder einer anderen geliebten Bezugsperson) einer Tätigkeit nachgeht, beispielsweise Aufgaben erledigt oder auch einfach nur spielt, oder ob es sich dabei selbst überlassen bleibt, dies also allein, ohne „Beobachtung“ tun muss.
Ich weiß nicht, ob meine Beobachtung vor dem kritischen Blick von Pädagogen oder Psychologen standhält. Aber ich habe den Eindruck, dass Kinder (manchmal auch Erwachsene) „unter Beobachtung“ sich anders verhalten, als wenn sie allein sind. Mir jedenfalls geht es so. Ich sage es einmal ganz wertfrei: Ein Kind, das eine geliebte Person in der Nähe weiß, fühlt sich angeschaut. Es kann bei jedweder Tätigkeit, selbst beim Spiel, nicht davon absehen, dass da jemand da ist, der zu ihm eine besondere Beziehung hat.
Wir alle wissen, wie wichtig für Kinder Bezugspersonen sind, Personen, die mehr sind als Aufpasser, als Betreuer, als Lehrer, als Garanten der biologischen Existenz des Kindes. Kinder wollen „angenommen“ sein, gleichsam unter Absehung ihrer möglichen Leistungsfähigkeit, ihrer menschlichen oder sonstigen Qualitäten. Sie brauchen Personen, die zu ihnen sagen: „Es ist gut, dass du da bist! Dass es dich gibt!“ Wer das als Kind erfahren hat oder auch als Erwachsener erfährt, dessen Leben kann gelingen.
Eben das ist mein Vergleichspunkt. Ein Christ betreibt das, wozu er berufen bzw. angehalten ist, sei es eine weltliche oder auch geistliche Aufgabe, richtig und gut, wenn er aus dem Wissen, dem Vertrauen heraus agiert: Ich werde von Gott angeschaut, freilich: nicht von einem Aufpassergott (à la Eugen Roth!)(2) , sondern von einem Gott, der mir (ich rede sehr menschlich!) sein „Herz“ zuwendet. Denn daraus verändert sich das WIE meines Verhaltens und meines Tuns. Inwiefern? Es wird
a) gelassen
werden. Zumindest ansatzweise.
Ein Kind wird vor den Augen der Mutter nie in existentielle Bedrängnis kommen. Zugegeben, es mag sich ängstigen, es mag auch manchmal unter Stress stehen. Doch „vor“ der liebenden Anwesenheit einer Mutter kommt eine Gelassenheit zum Tragen, die jedem normalen Kind, das unter guten familiären Bedingungen aufwachsen darf, ohnehin zu eigen ist. Das Wissen, im Letzten, was immer auch kommen mag, „aufgefangen“ zu sein, „gehalten“, nicht allein gelassen zu werden, wenn wirkliche Bedrohungen sich ergeben, ist die kostbarste Mitgift, die Eltern ihren Kindern vermitteln können.
Die Anwendung auf das unsere Frage nach einem Gesamtstil christlichen Handelns liegt auf der Hand. Es gibt nichts Schlimmeres als nervöse, hektische Pfarrer und kirchliche Angestellte, die andere mit ihren kirchlichen Untergangsvisionen bedrängen. Ich halte es geradezu für ein Kennzeichen wahrer Christlichkeit, bei allem Engagement, bei aller geistigen Wachheit, die uns als Kirchen und einzelne Christen auszeichnen sollte, diese Gelassenheit zu wahren, die weiß, dass wir Gott nicht mit unserer kirchlichen Betriebsamkeit so unter die Arme greifen müssen, als sei er ohne uns hilflos.
Und ein weiterer Aspekt ist in diesem Stichwort Gelassenheit enthalten: der hilfreiche Gedanke an die noch ausstehende Vollendung. Im Bild gesprochen: Eltern freuen sich auch über windschiefe Strichzeichnungen ihrer Kleinen. Nicht die Perfektion eines Bildes erfreut das elterliche Herz, sondern die Geste des Hinhaltens einer Gabe, bei der das Kind sagt: „Sieh, das hab ich für dich gemalt!“ Und es erfreut Eltern, wenn sie Anlagen und Begabungen ihres Kindes erkennen, die sich später einmal entfalten werden. Wirklich Liebende schauen auf den geliebten Menschen gleichsam im Potentialis, in der „Möglichkeitsform“. Sie sehen, was aus ihm werden könnte, nicht so sehr auf das, was im Augenblick bei ihm Fakt ist.
Auf unser Thema hin gewendet: Die Vollendung dessen, was auf uns wartet, ist Gottes Werk, nicht das unserer menschlichen und kirchlichen Tüchtigkeit. Wir wissen: die Hoffnung, dass Gott einmal vollenden wird, was wir auf Erden an Gutem versuchen, bewahrt uns vor der Ideologie, schon hier auf Erden das Vollkommene schaffen zu müssen. Wer das meint, muss eine kommunistische Partei gründen – oder zum Terroristen werden. Christliches Handeln erkennt man an der Haltung der Gelassenheit.
Freilich: Es muss eine engagierte Gelassenheit sein. Das meint mein zweites Stichwort in diesem Zusammenhang: Das Tun oder Spielen des Kindes vor den Augen der Mutter mag kindgemäß sein, aber es wird
b) ernsthaft
sein. Der Christ kann seine Aufgaben nur ernsthaft betreiben, also sachbezogen und menschenorientiert, soweit das eben nur möglich ist. Auch kindliches Tun ist durchaus ernsthaft, sachbezogen. Es wünscht sich Anerkennung, es erwartet Lob. Das kann aber nicht erfolgen, wenn nur Allotria getrieben oder gar Unsinn gemacht wird.
Der Christ weiß sich ständig vor den Augen seines Herrn. Er wird einmal richten in Gerechtigkeit, und er wird dabei nicht bei den anderen, sondern bei uns anfangen. Man darf die Gnadenbotschaft des Christentums, wie sie etwa Paulus in seiner theologischen Begriffsfigur von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben („der Mensch wird gerecht durch Glauben, unabhängig von Werken des Gesetzes“, Röm 3,28) nicht als „Laissez-faire-Christentum“ missverstehen. Gegen diesen Vorwurf musste sich Paulus schon zu seinen Lebzeiten verteidigen.
Natürlich gilt: Aus Gnade werden wir im Gericht gerettet, aber es gilt eine Gnade, die uns zu Werken der Liebe ermächtigt, ja herausfordert. Wer nicht antwortet, hat den Ruf umsonst gehört. Wer die Hand des Retters nicht ergreift, bleibt in seiner Eisspalte und erfriert. Auch für uns Getaufte und Gerechtfertigte bleibt die Aussage des Apostels bestehen: „Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat“ (2 Kor 5,10).
Das meine ich mit der Ernsthaftigkeit des christlichen Lebens, das für die Kirche insgesamt, aber auch jeden einzelnen Christen gilt, insofern er wirklich Christ sein will. Die Nachfolge Christi ist kein Spazierweg, und unsere eigene Existenzverwandlung in die Christus-Gleichförmigkeit wird uns nicht erlassen, nach dem Motto: „Das ist alles nicht so ernst gemeint, was da in der Bergpredigt steht!“ Natürlich wird uns letztlich das Heil geschenkt, aber nur dann, wenn wir der Art und Weise zustimmen, wie Gott es uns schenken will, d. h. wenn wir uns selbst loslassen, wenn wir – um mit Paulus zu sprechen – nicht unsere Gerechtigkeit suchen, sondern die, mit der uns Christus umkleiden kann (vgl. Phil 3,9). Und diese Gottesgerechtigkeit ist an der Lebensart Christi abzuschauen.
Dennoch, bei aller Ernsthaftigkeit, die im Blick auf das anstehende Handeln und auf die ersehnte Anerkennung, sei sie von Menschen erwartet oder als von Gott her zugesprochen ersehnt: Die Kirche wird nie aufhören, ihr ganzes Selbstverständnis und damit auch die christliche Einzelexistenz als eine Art „Spiel“ zu verstehen. Ja, ich wage dieses Wort, wiewohl es Missverständnisse auslösen kann. Aber es gehört als notwendige Korrektur zu dem eben Bedachten. Ein Kind vor den Augen seiner Mutter wird auch das Ernsthafte
c) spielerisch
verrichten. In diesem Wort schwingen für mich zwei Dimensionen mit. Zum einen ein dialogischer Aspekt. Ein Spiel kann es nur zwischen Spielpartnern geben. Mit sich selber spielen ist eine Ersatzhandlung, die letztlich nicht befriedigt. Wahre menschliche Existenz kommt ja nur zustande, wenn ich das DU entdecke, den Anderen, letztlich Gott. Das ist der Kern der biblischen Botschaft. Aber in diese Richtung weist auch das tiefere Nachdenken über den Menschen und das, was ihn umtreibt. Der einflussreiche französische Philosoph Emanuel Levinas (1905-1995) hat das beispielsweise gezeigt: Der Andere, das DU, das uns anspricht, macht uns erst zu einer Persönlichkeit, führt uns zu unserem wahren Selbst.
Ich kann mir letztlich die ganze Schöpfung nur als ein grandioses Spiel der Liebe Gottes denken, eines Gottes, der den Überschwang seiner Liebe „spielerisch“ weitergeben möchte in eine von ihm geschaffene Wirklichkeit hinein, eben die des Menschen. Ich verkenne dabei nicht die bedrängende Frage nach dem Bösen in der Welt, die sogenannte Theodizee-Frage. Warum muss es das geben: das unendliche Leid, besonders das Leid Unschuldiger? Darauf gibt es letztlich keine schlüssige Antwort. Ich verstehe das Leid, die Zulassung des Bösen in der Welt als den „Preis der Freiheit“, den Gott einer freien Schöpfung zumutet. Gott nimmt den Menschen ernst, so sehr, dass er sogar das Böse zulässt. Diesen Gedanken können wir hier nicht weiter verfolgen. Ich will hier nur abheben auf den Aspekt: Gott möchte unsere freie Antwort hervorlocken auf sein Angebot der Gemeinschaft, der Freundschaft, der Liebe.
Es gibt ein merkwürdiges Jesuswort von den „Kindern, die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen: Wir haben für euch auf der Flöte (Hochzeitslieder) gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht geweint“ (Lk 7,32). Ich verstehe dieses Wort in diesem Sinn: Gottes Liebe will nicht echo-los, nicht resonanz-los bleiben. Das Wort scheint zu bezeugen, dass Jesus manchmal auch angesichts der Erfolglosigkeit seiner Predigt Anfechtungen von Resignation hatte.
So dürfte Jesus seine Sendung verstanden haben. Er lädt zum Spiel der Liebe ein. Seine Gleichnis-Reden sind voll von Gastmahl-Geschichten. Das ist an sich eine merkwürdige Weise, von Gott und seinem Handeln an uns zu sprechen. Die Bildgeschichten Jesu sind uns so vertraut, dass wir das Befremdliche an ihnen oft nicht mehr wahrnehmen. Wir sind zu einem Fest geladen. Die Metapher des Festes ist mehr als ein Bild. Es enthält die Sache des Reiches Gottes. Es zielt im Kernpunkt auf einen Dialog nie endender, spielerischer, seliger Liebe.
Und eine zweite Dimension ist mit dem Bild des Spieles darin schon angesprochen: Im Spiel kommt es darauf an, dass der Partner reagiert. Ein Kind wird immer wieder, auch mitten in seiner Beschäftigung, bei seinem Spiel hin zur Mutter schauen oder laufen. Es wird sich vergewissern, ob und vor allem wie sie da ist. Das Kind wird antworten, so oder so, auf die Zuwendung der Mutter, mag diese nun verbal sein oder nonverbal.
Letztlich ist die Liturgie der Kirche ein solches zweckfreies „Spielen“ vor dem Angesicht Gottes. Die Liturgie ist in ihrem Kern „Antwort“ auf die vom Himmel herabsteigende Liebesofferte Gottes. Unsere Antwort darauf wird immer ungenügend bleiben. Aber wir dürfen sie ja – gottlob – an die Lebensantwort des Menschensohnes Jesus Christus binden, der in seinem Lebens- und Sterbensgehorsam den Dialog zwischen Gott und den Menschen wieder eröffnet hat. „Durch ihn“, „mit ihm“ und „in ihm“ wird Gott von der Kirche und jedem einzelnen der Gottesdienstteilnehmer geantwortet. So, nur so sind wir für Gott ebenbürtige Spielpartner. Und die in unserem Bild herangezogene Kind-Mutter- Beziehung mag andeuten, dass darin letztlich doch das Wissen um den ganz anderen, eben auch unbegreiflich bleibenden Gott uns nicht verloren geht.(3)
Was macht also den Stil eines christlichen Lebens aus? Gelassen, ernsthaft, aber letztlich wie in einem Spiel, dessen Gelingen gesichert ist und dessen Seligkeit schon jetzt geschenkt wird, so darf jeder Christ vor Gott das tun, was ihm aufgetragen ist. Und da bleiben auch heute und morgen die großen Stichworte wichtig: Umkehr, Heiligung des eigenen Lebens und selbstlose Liebe zu Gott und den Mitmenschen.
Die Frage ist: Kann man das an meinem Leben, Reden und Wirken erkennen? Vielleicht ist das Christ-Sein – bei allem Ernst und scheinbaren Kompliziertheit – letztlich doch etwas sehr Einfaches.
Der alttestamentliche Prophet Micha hat das einmal so ausgedrückt: „Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir erwartet: nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben und in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott“ (Micha 6,8). Das ist ein gutes Wort, das uns im Alltag unseres Christseins auch im angebrochenen 21. Jahrhundert begleiten kann. Und ich meine, auch unsere mancherorts derzeit so aufgeregte und verunsicherte Christenheit.
(1) Geistlicher Vortrag von Bischof em. Joachim Wanke in der Pfarrgemeinde Eisenach am 10. März 2020
(2) Vgl. Eugen Roth, Unter Aufsicht
Ein Mensch, der recht sich überlegt,/dass Gott ihn anschaut unentwegt,/fühlt mit der Zeit in Herz und Magen,/ ein ausgesprochnes Unbehagen./ Er bittet schließlich ihn voll Grauen,/ nur fünf Minuten wegzuschaun./ Er wolle unbewacht, allein,/ inzwischen brav und artig sein./ Doch Gott, davon nicht überzeugt,/ ihn ewig unbeirrt beäugt.
(3) Im „Gotteslob“ unter Lied Nr. 380 steht das nachdenkliche Wort von Karl Rahner, eines großen Theologen unserer Tage: „Glauben heißt, die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten“.