Evangelium: Joh 6,60-69
Liebe Wallfahrer!
Wenn wir im Alltag sagen: "Du sprichst mir aus dem Herzen!", ist damit zunächst einmal gemeint: Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Ja, so ist es, wie du sagst! Du hast auf den Punkt gebracht, was auch mich umtreibt, beschäftigt, bewegt - eine Sorge etwa, ein Problem, aber auch eine Freude, die mich erfüllt.
Vor kurzem sagte mir einer meiner Mitbischöfe aus der Altbundesrepublik, der ein paar Tage hier mit einer Gemeindegruppe zu Besuch weilte: "Du in Erfurt hast es doch gut! Du hast doch prima Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, engagierte Pfarrer, einfallsreiche Leute!" Da freute ich mich und dachte im Stillen: Gut, dass mich einer wieder einmal darauf aufmerksam macht. Im Getümmel des Alltags bin ich schon ganz blind geworden dafür, dass in der Tat der wirkliche Reichtum eines Bistums Personen sind, nicht das Bankkonto. Mein bischöflicher Mitbruder hat mir mit seinem Hinweis aus dem Herzen gesprochen.
Es gibt Menschen, die mit ihren Worten das ausdrücken können, was auch uns im Innersten bewegt. Noch mehr: die mit ihren Worten etwas in unserem Herzen wecken können! Eine Erwartung, eine Sehnsucht, eine Hoffnung.
Jesus, unser Herr, hatte diese Gabe, das Herz der Menschen anzurühren. Nein: Er hat nicht den Leuten nach dem Mund geredet. Aber er hat mit seinen Worten und noch mehr mit seinen Taten die Menschen so berührt, dass sie aufhorchten. Hier ist einer, der mehr ist als Salomo, sagten die Leute damals. Hier spricht einer, der Lahme wieder aufrichtet, der Blinde sehen lässt, der Aussätzige rein macht. Und - das noch größere Wunder: der Schuld vergibt und Mut zum Neuanfang macht.
Aber Jesus erlebte auch Gleichgültigkeit, ja Ablehnung. Das war damals nicht anders als heute. Solange der Alltag läuft, scheint das Leben unproblematisch. Da machen wir uns kaum Gedanken. Wehe aber, wenn etwas dazwischen kommt, da werden wir unruhig. Solange ich die Arbeit habe, scheint alles zu laufen. Aber was, wenn ich sie verliere? Wenn ich krank werde? Wenn ich allein zurückbleibe? Wenn ich pflegebedürftig werde?
So sind wir Menschen: Das Vordergründige hält uns besetzt. Damals, zur Zeit Jesu, sagten die Leute: Die römische Besatzungsmacht ist entscheidender als Gott. Wer die stärkeren Legionen hat, der hat das Sagen. Heute sagen die Menschen: Es kommt aufs Geld an. Die Ökonomie ist das Entscheidende. Die Wirtschaft muss florieren. Alles andere sind Sonntagsreden.
Genau hier soll unser Nachdenken ansetzen: Stimmt das wirklich? Macht die Ökonomie allein unser Leben aus? - Darum mein erster Gedanke:
Unser Herz befragen
Wenn ich manchmal durch die Stadt gehe und die Gesichter der Menschen sehe, denke ich im Stillen: Was suchen Menschen, was treibt sie um - was treibt mich zutiefst im Herzen um?
Natürlich: glücklich zu sein, frei zu sein, die Sorgen los zu werden, eine Arbeitsstelle zu haben, die Gesundheit wiederzuerlangen oder möglichst lange zu behalten - und auch diese Wünsche sind Teil unseres Lebens: sich ein neues Auto leisten können, eine schöne Reise zu machen, oder: dass es mit den Kindern gut gehen möge und was immer uns im Herzen bewegt.
Aber es ist merkwürdig. Wenn wir ehrlich sind: So ganz und rundum zufrieden sind wir eigentlich nie, zumindest sehr selten. Das alte Grimmsche Märchen vom Fischer und seiner Frau trifft schon etwas für uns Typisches. Es soll und muss immer mehr sein als man gerade hat. Im Wünschen sind wir Weltmeister.
Ich will das auch gar nicht schlecht machen. Dieses unersättliche Herz hat uns Gott geschenkt. Es ist seine Erfindung. Das unterscheidet den Menschen vom Tier, dass er alles Bestehende in Frage stellen kann. Muss das so sein wie es ist - oder könnte es nicht besser sein? Wenn dieses Wünschen und Sehnen nicht wäre, lebten wir z.B. alle immer noch in der alten DDR.
Wisst ihr er es noch? So mancher hat es mir damals gesagt:"Ich habe einen Ausreiseantrag gestellt. Ich halte es hier nicht mehr aus!" Wenn die Antragsteller dann nach langem Warten und vielen Schikanen drüben waren, merkten sie zwar, dass dort auch nur mit Wasser gekocht wurde - freilich in etwas besseren Töpfen! Aber sie lernten den Wert der Freiheit zu schätzen und manches andere mehr, was eben den Westen vom damaligen Osten unterschied. Jetzt sind wir alle "drüben" - und doch hat das Wünschen nicht aufgehört.
Darum gilt beides: Nicht vergessen, wie es früher war! Wir haben Grund zur Dankbarkeit und Freude über die Wende. ("Ostalgie" ist blanke Dummheit, sie ist so etwas wie "Opium für`s Volk"!). Aber es gilt auch das andere: nicht selbstzufrieden und unkritisch werden, als sei mit der harten Währung und den vollen Warenhäusern das Paradies gekommen. Wer mit wachen Augen ins Land schaut, sieht, - neben vielem Guten und Gelingendem - doch manches im Argen liegen. Er sieht, wie um unserer Renten willen nach Nachwuchs gerufen und zugleich das Leben im Mutterleib getötet wird. Er sieht, dass viele Ehen durchaus gelingen und Kinder in Familien geborgen heranwachsen, aber er sieht auch die Not der scheiternden Ehen und der unerzogenen Kinder.
Ein aufmerksamer Betrachter sieht - nochmals: neben allem Guten und Gelungenem - die einsam bleibenden Senioren, die nicht gebrauchten Arbeitslosen, die alleinerziehenden Mütter, die jeden Euro in der Tasche umdrehen müssen und oft nicht wissen, wie sie zurechtkommen sollen. Er sieht die Hohlheit einer Werbung, die aus einem Gebrauchsgegenstand wie dem Auto einen religiösen Kultgegenstand macht und aus einer Automesse eine Art Gottesdienst!
Die Heilige Schrift sagt: Wo euer Schatz ist, da ist euer Herz! Woran lohnt es sich, sein Herz zu hängen? An die Automarke? An die Börsenkurse? An die Lebensversicherung? - Darum mein zweiter Gedanke und zwar ganz aktuell heute bei unserer Bistumswallfahrt im Jahr der Bibel:
Hören, was das Evangelium sagt!
Jesus spricht in seinen Gleichnissen durchaus unser Wünschen und unsere Sehnsüchte an. Ich wundere mich manchmal, welch weltliche Geschichten er als Illustration für seine Reich-Gottes-Predigt heranzieht. Den reichen Schatz finden, die kostbare Perle - wir würden heute sagen: mal richtig im Lotto gewinnen! Mal richtig feiern können - eingeladen zu werden zu einer Hochzeit, zu einem Festmahl, bei dem sich die Tische biegen! Oder der ungerechte Verwalter: Wie geschickt er den Kopf aus der Schlinge zu ziehen sucht! Die murrenden Langzeit-Arbeiter, die mehr haben wollen als die Kurzzeit-Arbeiter! Wie gut können wir uns in diesen Geschichten Jesu wiederfinden.
"Du, Jesus, sprichst mir aus dem Herzen!" So bin ich. So sind wir: lebenshungrig, dem Wohlstand nachjagend, trickreich und listig, wenn es ums eigene Wohlergehen geht, aufs Glück der anderen neidisch - und ab und zu auch mal großzügig und selbstlos, wenn wir nur dabei selbst nicht zu kurz kommen.
In der Bibel wird der Mensch sehr realistisch beschrieben. Auch die schlimmen Dinge, die dort erzählt werden, gehören zu unserer menschlichen Wirklichkeit. Aber noch mehr macht uns die Heilige Schrift aufmerksam auf die Vision Gottes, die er vom Menschen hat: dass der Mensch durch das Zwielicht dieser Welt und alle Verlockungen einer falsch verstandenen Freiheit hindurch ihn, Gott selbst sucht und findet, und in der Gemeinschaft mit ihm für immer glücklich wird.
Teilhabe am Leben Gottes - also: für immer angenommen und geliebt zu werden ohne Angst, doch irgendwann wieder fallen gelassen zu werden; reich zu sein ohne am Reichtum zu ersticken; frei zu sein ohne die Sorge, dass ich oder andere die Freiheit missbrauchen.
Ja, so müsste man leben können. Größeres kann vom Menschen und seiner Zukunft nicht gesagt werden. Nicht: Ausreise-Anwärter werden, sondern "Reich-Gottes-Anwärter" sein! Teilzuhaben an der Wirklichkeit, aus der Jesus lebte und für die er uns einen "Pass", ein Einreisevisum vermitteln möchte: Bürger dieses Gottesreiches zu sein, dass hier und jetzt schon anfängt mit denen, die auf Gott setzen. Leben aus der Anwartschaft auf Gottes Reich: das ist für mich die Mitte meines Christ- Seins.
"Du, Jesus sprichst mir aus dem Herzen!" "Auch dort, wo du mich hart anfasst, wo du mir unbequeme Wahrheiten sagt! Auch dort muss ich zugeben: Ja, eigentlich hast du recht! So ist es! So, wie du es sagst, müsste man leben!"
Das Wort Gottes kann auch bittere Medizin sein, aber es ist Medizin zum Leben! Wahrhaftig sein, die Lüge ablegen, die Ungerechtigkeit beseitigen, die Habsucht bekämpfen, das Buckeln nach oben und das Treten nach unten, die gespaltene Existenz, die Treue sagt und Untreue lebt. Auch davon redet Gottes Wort. Es gibt kein christliches Leben ohne Umkehr, ohne Buße, ohne Kraftanstrengung, der eigenen Angst und Gier Herr zu werden.
Ihr, liebe Wallfahrer, habt damit Ernst gemacht. Ihr habt euch dem Evangelium Christi unterstellt - und ihr habt die Erfahrung gemacht, dass ein solches Leben aus der Nachfolge Christi frei macht, damals im DDR-System und auch jetzt, wo wir in der Gefahr stehen, unser Knie vor dem Euro zu beugen.
Lasst euch nicht irremachen: Was wirklich zählt, ist die Anerkennung, die wir vor Gott gewinnen. Und ich füge hinzu - ich habe das nach der Wende schon oft gesagt: Was unser Leben wirklich reich macht, ist nicht, dass wir viele Dinge haben, sondern dass wir einander haben. Und dass wir ihn haben - unseren Herrn und Heiland, dessen Worte "wendefest" sind, "weltanschauungsresistent", tragfähig fürs Leben und fürs Sterben.
Schließlich meine Bitte, die mir ein Herzensanliegen ist:
Werdet Vermittler dieser Frohbotschaft!
Für eure Kinder und Kindeskinder! Für die Menschen, mit denen ihr im Alltag Kontakt habt. Thüringen muss wieder mehrheitlich christlich werden. Dieses Land hat es nicht verdient, dass in ihm das Licht von oben erlischt. Die Menschen hier in Thüringen sind keine geborenen Atheisten. Sie haben spirituelle Sehnsüchte. Sie haben Fragen. Die Tage nach den Mordtaten im Gutenberg-Gymnasium haben es mir wieder deutlich gemacht. Es war bewegend, was sich hier auf dem Domberg abgespielt hat. Helft den Menschen, Jesus Christus zu entdecken, sein Wort und die Verheißung, die er mit seinem Leben und Sterben und Auferstehen zur Realität gemacht hat.
In drei Wochen wird hier in Erfurt ein Pastoralkongress stattfinden, der diesem Anliegen dienen soll: Das Evangelium - Licht für uns, Licht für alle! Ich danke allen, die mir im Vorfeld dieses Kongresses zu diesem Thema geschrieben haben. Danke für alle Anregungen, für alle Initiativen, das Evangelium zum Leuchten zu bringen, von dem Offenhalten der Kirchen angefangen bis hin zur Präsentation des Gemeindelebens im Internet oder Lokalfernsehen.
Seid Botschafter Jesu Christi! Geht mit Vertrauen auf Menschen zu, bei denen ihr spürt: Da ist eine Offenheit für Fragen des Glaubens vorhanden. Habt keine falsche Scheu! Sagt mit ganz einfachen Worten, was euch im Leben wichtig geworden ist. Sprecht von euren Erfahrungen mit Gott, mit seinem Wort. Lasst euch ab und zu einfach einmal ins Herz schauen und rückt mit euren Ü;berzeugungen heraus - und mit Sicherheit wird es dann Menschen geben, die zu euch sagen: "Eigentlich sehe ich das auch so. Du sprichst mir aus dem Herzen!"
Liebe Wallfahrer! Um diese drei Anliegen ist es mir in dieser Predigt gegangen:
- Uns selbst fragen, was unser Herz im Tiefsten bewegt und umtreibt;
- auf Jesus Christus hören, ihm, unserem Herrn ins Herz schauen und von ihm her sich anstecken lassen mit der heißen Sehnsucht nach Gott und seinem Reich,
- und so (drittens) wie von selbst zu Botschaftern dieser Frohbotschaft werden.
Ich hoffe, dass keiner von euch wie damals die Leute bei der Rede Jesu in Kafarnaum sagt: "Diese Rede ist hart, wer kann sie hören!" Und zu murren anfängt! Ich bitte euch um eine andere Reaktion, nämlich diese: "Vielleicht hat der Bischof recht! Die Thüringer sind gar nicht so fern vom Reiche Gottes wie wir Kircheninsider manchmal denken. Ob wir nicht doch einmal versuchen sollten mit ihnen zu reden?"
Versprecht diese Bereitschaft dem Herrn heute im Gebet. Und dann wird er zu euch sagen: "Ja, so sprecht ihr mir aus dem Herzen!" Amen.
link