Vortrag am 12.2.2003 in Erfurt im Rahmen einer Vortragsreihe zur Vorbereitung auf eine Aufführung der Johannespassion von Johann Sebastian Bach durch Studenten der Universität Erfurt und Jena
"Mein teurer Heiland, lass dich fragen,
da du nunmehr ans Kreuz geschlagen
und selbst gesagt: Es ist vollbracht,
bin ich vom Sterben freigemacht?
Kann ich durch deine Pein und Sterben
Das Himmelreich ererben?
Ist aller Welt Erlösung da?
Du kannst vor Schmerzen ja nichts sagen,
doch neigest du das Haupt
und sprichst stillschweigend: Ja." (1)
Es gehört zu den prägenden Charakteristika der Bachpassionen, dass dem durch den Evangelisten vorgetragenen Schrifttext der Johannespassion betrachtende Texte zugeordnet werden, vorgetragen durch Solisten und vor allem auch dem Chor. In gewissem Sinn haben diese Texte sogar den Vorrang, zumindest was ihr musikalisches Gewicht und ihre emotionale Aussagekraft betrifft. Was wären die Bach?schen Passionen ohne die Choräle oder die großen Gesangsarien, wie etwa die oben zitierte!
Bach hat diese Texte zeitgenössischer Gebetsliteratur und der religiösen Dichtung entnommen, zum Teil wohl auch bearbeitend eingegriffen. Er folgte damit einer vorgegebenen Weiterentwicklung dieser kirchenmusikalischen Gattung, führte freilich dieses gleichzeitig durch seine musikalische Genialität auf einen Höhepunkt. (2)
Wir Heutigen tun uns - zugegebenermaßen - schwer mit diesen frommen, der Barockfrömmigkeit entliehenen Texten. Ihre leidenschaftliche Inbrunst ist uns fremd. Solche Texte scheinen weitab unserem heutigen Denken und Empfinden zu liegen. Passionsmystik? Meditation über Tod und Sterben? Was sollen und können wir damit anfangen?
Dieser Frage wollen meine Ü;berlegungen ein wenig nachgehen. Mir haben sie die Freude geschenkt, mich wieder einmal etwas gründlicher mit der Johannespassion zu beschäftigen - aber eben nicht als Musikfachmann, der ich nicht bin, sondern als laienhafter Liebhaber der Bach?schen Musik und als ein Theologe, der bei der Musik nicht von Texten absehen kann.
Nun liegt ja unserer Zeit das Interesse an den großen "Erzählungen" der Weltreligionen, also ihren Grundlagentexten und deren künstlerischen Umsetzungen nicht fern. In diesem Jahr feiert Erfurt beispielsweise seinen Mitbürger Meister Eckart. Er ist einer der großen Vertreter der deutschen Mystik. Seine Gestalt und sein Lebenswerk findet heute wieder neues Interesse. Die Texte und Predigten dieses Mystikers sind ja wahrlich keine leichte Lektüre. Aber sie waren wohl schon zu ihrer Zeit keine leichte Kost. Ich möchte einmal wissen, was sich die frommen Schwestern, denen Meister Eckart diese Predigten meist gehalten hat, wohl beim Anhören gedacht haben. Es bedurfte wohl schon damals einer gewissen Offenheit für die Welt, in die der Prediger einführen wollte - und eine Bereitschaft, überkommene eigene Denkschemata in Frage stellen zu lassen.
Aber formulieren wir zunächst einmal einige unserer Anfragen an diese Art von Leidensmystik, wie sie uns in der Johannespassion begegnet.
Da ist zunächst die Frage: Warum gerade dieses Leiden meditieren? Es gibt unendlich viele leidende Gerechte, unschuldig Verurteilte und Gequälte in der Weltgeschichte, mit denen sich niemand beschäftigt, es sei denn aus historischem Interesse.
Da ist die weitere Frage: Was bringt eine solche Art von Einfühlung, von empathischem Gedenken mit einem Leiden, das ein Einzelner - zugegeben - unschuldig zu erdulden hatte, uns Heutigen? Ist das nicht Gefühlsduselei? Gäbe es nicht ganz andere Konsequenzen aus dem Leid in der Geschichte zu ziehen als solche subjektiven Gefühlsanwandlungen zu pflegen?
Diese Anfrage bringt ein Gedicht von Bertold Brecht auf den Punkt:
"Ich benötige keinen Grabstein, aber
Wenn ihr einen für mich benötigt
Wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Vorschläge gemacht. Wir
Haben sie nicht angenommen.
Durch eine solche Inschrift wären
Wir alle geehrt." (3)
Die Botschaft lautet: Kein nostalgischer Rückblick, sondern ein energischer Ausblick ist angesagt! Es gilt Lehren zu ziehen aus der Geschichte, Mahnungen zu beherzigen. Hier spricht der große Moralist Bertold Brecht.
In der Tat kann man fragen: Ist nicht Gedenken immer auch eine gewisse Form der Verdrängung dessen, was wirklich Not tut? Ich lasse noch einen anderen Schriftsteller zu Wort kommen, Friedrich Dürrenmatt. Er schrieb einmal im Rückblick zu einer Reise an die Wirkungsstätten Jesu in Judäa und Galilea: "Hier hat er geredet. Aber auf dem Berg stand eine Kirche, eine Ideologie ... Doch wenn dieses Gebäude auf dem Berge für mich eine Ideologie ist, so vermag sie für andere etwas Existentielles zu sein: eine heilige Erinnerungsstätte an die Bergpredigt etwa; während mich gerade die Erinnerungsstätte stört, mich an die Bergpredigt zu erinnern" (4)
Erinnerungskultur als Alibi? Gedenken als eine Gefahr, weil Gedenken vom kraftvollen Handeln abhält, ja die Augen vor dem verschließt, was hier und heute eigentlich ansteht?
Das ist ja der Grundvorwurf so mancher Religionskritiker, die religiösen Glauben und Leben, Beten und Handeln als Gegensätze auffassen. Dieser Vorwurf träfe dann auch diese Art von Passionsmystik, wie wir sie bei Bach, aber auch sonst in der christlichen Passionsfrömmigkeit antreffen.
Dieser Vorwurf verkennt freilich die Lebensmacht von Religionen und gelebter Religiosität. Religionen sind in sich ambivalent, das ist zuzugeben. Religionen können verwildern. Sie bedürfen der sorgsamen Pflege. Aber sie sind von allergrößter Wichtigkeit auch für das konkrete Handeln von Menschen. Meine Erfahrung ist: Wer betet, lebt anders. Vielleicht gilt das auch für die Betrachtung der Passion Jesu.
Ich setze mit einer ganz allgemeinen Feststellung ein. Wer für Passionsgeschichten von Menschen, überhaupt für fremdes Leid empfindsam wird, sieht die Welt mit anderen Augen.
Unsere heutige Welt ist geprägt von einer zunehmenden Sensibilität für Opfer. Reinhart Kosellek hat jüngst im Blick auf die Toten-Gedenkstätten des 20. Jahrhunderts die Kontinuitäten und Brüche in den Mentalitäten aufzuweisen versucht, wie sie in der Gestaltung und Aufnahme der Opfer-Denkmale für die Gefallenen der Schlachten und Kriege sich nachweisen lassen. (5)
Solche Denkmale für die Toten stehen in vielen unserer Städte und Gemeinden. Errichtet wurden sie weithin am Anfang des vergangenen Jahrhunderts, weithin als Glorifizierung des Heldentodes der Gefallenen. Erinnerung wird hier instrumentalisiert. Der Sieg über den Erbfeind Frankreich etwa (vgl. die Sedan-Denkmale) legitimiert alle gebrachten Opfer. Die Verherrlichung der Todesbereitschaft blendet jede Frage nach dem möglichen Unrecht in dem Geschehenen aus.
Aber es zeigen sich später interessante Wandlungen. Kosellek schreibt: "Die Denkmalsbotschaften erheischen in einer ersten Phase bis zum Ersten Weltkrieg von sich aus Zustimmungsfähigkeit. Trotz aller Einwände und Kritik bezog sich die Aussage affirmativ auf die Vorgänge und Ereignisse, die den Tod gewaltsam herbeigeführt hatten ... In einer zweiten Phase, zunehmend seit dem Ersten Weltkrieg, lautet die Botschaft, dass der Sinn nicht mehr vorausgesetzt, vorgefunden oder aufgefunden wird. Sinn wird vielmehr gesucht, beschworen oder eingefordert. In einer letzten Phase tauchen Denkmale auf, deren primäre Botschaft das Fehlen jeglichen Sinnes überhaupt ist, die Sinnlosigkeit, die Absurdität ... Der Bedeutungsverlust unreflektierter patriotischer Sinnvorgaben ebnet den Weg, der die Sinnsuche selbst zum Gegenstand werden lässt". (6)
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Mahnmal-Debatte, die jüngst mit großer Leidenschaft um die Errichtung eines Holocaust-Denkmals in Berlin geführt worden ist. Hier ist die Wende von früheren Bedeutungen solcher Totenmale sehr deutlich. Jürgen Habermas schrieb am 31. März 2002 in DER ZEIT: "Das geplante Denkmal wird den Blick der Besucher nicht mehr verehrend auf die eigenen Toten lenken. So verhält es sich auch noch beim nicht mehr triumphierenden Vietnamdenkmal in Washington. Jetzt muss sich aber der öffentliche Blick auf Opfer richten, die das Tun und Lassen der eigenen Eltern und Großeltern einmal zu Fremden gemacht, als Feinde ausgegrenzt, als Untermenschen gedemütigt, als Menschen, die keine mehr sein sollten, geschunden und vernichtet hat."
Hier wird das Erinnerungszeichen zum Mahnmal: Nie wieder! Es wird in uns selbst die Frage nach der eigenen Schuld am Tod derer ausgelöst, für die das Denkmal errichtet wird. Darum auch die Leidenschaft, mit der für und wider ein solches Mahnmal in Berlin gestritten wurde. Die Haltung, "es nicht gewesen zu sein", wie Odo Marquard es einmal ausgedrückt hat, zeitigt ja seltsame Blüten. Das Erinnern an das Leiden, an die Opfer der Geschichte hat also durchaus eine subversive Kraft. Es ist von höchster Bedeutung für unser Menschsein, für die Sicherung und Bewahrung von Humanität insgesamt.
Hier sei eine in diesem Zusammenhang wichtige Unterscheidung eingeführt, die unsere Frage nach der Bedeutung von Passionsmystik im Heute besser verorten kann. Man muss unterscheiden das kommunikative Gedächtnis der Menschen vom kulturellen Gedächtnis. Das kommunikative Gedächtnis, weithin auf die Alltagskommunikation bezogen, hat einen beschränkten Zeithorizont. Man sagt, es reiche etwa drei bis vier Generationen zurück- In diesem Gedächtnis wird weithin das bewahrt, was biographisch erlebt und als biographisches Erleben überliefert werden kann.
Davon ist abzuheben das kulturelle Gedächtnis, das sich nicht so sehr durch Alltagsnähe auszeichnet, das sogar eine gewisse Alltagsferne hat. Das kulturelle Gedächtnis übersteigt den Lebensalltag von Menschen und ist weithin religiös grundiert. Diese Form des kollektiven Gedächtnisses, der gemeinsamen Erinnerung ist für Gruppen wichtig, für Völker, für Gesellschaften. Schicksalhafte Ereignisse der Vergangenheit werden durch kulturelle Formung, also durch Texte, Riten, auch Denkmäler, wachgehalten, und zwar nicht in individueller Kommunikation, sondern in einer institutionalisierten Form kollektiver Weitergabe des Erinnerns.
Das in den Kirchen gefeierte Abendmahl, die Eucharistie ist ein Beispiel für kulturelles Gedächtnis. Thomas von Auquin hat über die Eucharistie im einem bekannten Hymnus gedichtet: "Denkmal, das uns mahnet, an des Herren Tod ... (Katholisches Gesang-und Gebetbuch "Gotteslob" Nr. 546, 5. Strophe). Wenn man so will: Hier, in diesem memoriale der gefeierten Eucharistie bleibt im gemeinsamen Gedächtnis, als Form einer kulturellen Erinnerung lebendig, was Urimpuls des Christentums ist: Dass die Hingabe eines Menschen, der freilich von den Glaubenden als Gottgesandter verstanden wird, als ein Heilsangebot für Menschen auch künftiger Generationen gesehen wird. Jan Assmann hat es einmal so formuliert: "Das kulturelle Erinnern mit seinen Riten, Festen und Traditionsbräuchen ermöglicht es dem Einzelnen, "dazuzugehören, das heißt sich als Mitglied einer Gesellschaft im Sinne einer Lern-, Erinnerungs- und Kulturgemeinschaft zu verwirklichen." (7)
Die christlichen Feste haben hier ihre anthropologischen und soziologischen Wurzeln. Der Mensch als soziales und natürlich auch religiöses Wesen (wie immer man hier Religion definiert) kann seine Identität nur finden in kommunikativen und kulturellen Kontexten, die er in seiner Umwelt vorfindet bzw. für die er sich entscheidet. Bekannt ist auch, dass totalitäre Staatsgebilde, die mit einem ganzheitlichen, quasireligiösem Anspruch auftreten, eigene Feste und Riten herausbilden, die als Medien des kulturellen Gedächtnisses dienen sollen. Sie sind häufig den religiösen Festen und Riten nachempfunden. Ich erinnere etwa an die "Jugendweihe" der DDR-Zeit. Sie dienen vordergründigen Zwecken, etwa der Stärkung der nationalen Identität oder der Festigung des jeweiligen ideologisch gefärbten Staatsbewusstseins. Aber auch demokratischen Gemeinwesen ist dieses Phänomen nicht unbekannt. Ich weise etwa auf die säkular-religiöse Einfärbung US-amerikanischer Gedenktage hin.
Die Karfreitagsliturgie, aus der sich ja als besondere Form die gesungene Passion mit ihrer besonderen Mystik entfaltet hat, ist ein weiteres Beispiel für solche Formen des kulturellen Gedächtnisses der Menschheit. Natürlich kennen die christlichen Kirchen noch andere Formen, in denen sie ihre Grundbotschaft festhalten. Dazu gehört vor allem die Bibel, und zwar weniger als geschriebenes oder gedrucktes Buch, sondern als öffentlich rezipierte und im Gottesdienst gefeierte Erinnerung an die Heilige Geschichte, die Gott selbst mit den Menschen geschrieben hat.
Wir dürfen ja nicht vergessen, das der ursprüngliche "Sitz im Leben" auch der Bach?schen Passionen der Gottesdienst ist. Wir führen heute die Passionen konzertant auf. Wir rezipieren sie als eine Art ästhetisches Ereignis, als Kunstgenuss. Die Leipziger Bürger der Bachzeit kamen am Karfreitag nachmittags dagegen zum Gottesdienst, in dem an sich die Predigt und das Gebet im Mittelpunkt standen. So hat Bach auch selbst seine Musik verstanden. Sie war und sollte sein: Gottesverehrung, Antwort des Glaubens, gemeinsame Verinnerlichung der Botschaft von Jesu Heilstod auch für den heute lebenden Menschen. Hier ist der Grundimpuls dafür zu suchen, den Evangelientext durch Texte zu ergänzen, die das Geschehen der Passion auf den Hörer heute applizieren.
Ich erinnere an die bekannte Erzählung aus dem Alten Testament, dem 2. Samuelbuch. König David spannt dem Hethiter Urias seine Frau Batseba aus. Er schickt den Offizier, um das zu verschleiern, bewusst in das vorderste Kampfgetümmel des Krieges, damit er getötet werden soll. Der Prophet Natan hält ihm das vor, und zwar so, dass er ihm zunächst eine Unrechtsgeschichte erzählt, wie ein armer Mann von einem Reichen um sein einziges Schaf, gleichsam sein Ein und Alles, geprellt wird. Der König empört sich darüber und will wissen, wer so schurkisch an dem Armen gehandelt hat. Und darauf sagt der Prophet: "Du bist dieser Mann!" (vgl. 2 Samuel 12). Die Opfergeschichte sensibilisiert für geschehenes Unrecht, hier: dass Unrecht an dem Hethiter Urias. Die Passionsgeschichte Jesu soll beim Betrachter analog ähnliches erreichen: Der Hörer soll bedenken, dass dieses Sterben damals etwas mit ihm selbst und seinem Leben, mit seiner Hoffnung heute zu tun hat.
Der Gottesdienst der Kirche also, nicht so sehr das Wort, der aufbewahrte Text, das heilige Buch als solches ist der eigentliche Ort des kulturellen, näherhin des religiösen Gedenkens. Darum lebt die Kirche und das, was sie durch die Jahrhunderte transportieren will, nicht in Bibliotheken fort, sondern in den gottesdienstlichen Versammlungen. Das erlaubt den Umkehrschluss: Wenn keine Gottesdienste mehr gefeiert werden, verliert sich das Christentum. Es duftet dann - im Bild gesprochen - noch etwas aus der Parfümflasche an christlichem Duft in die Gesellschaft hinein, aber dieser Duft verblasst bald und verliert sich, wenn die Kirchen an den Sonntagen auf Dauer leer bleiben. Das ist besonders hier in Mitteldeutschland zu studieren, aber auch anderswo.
Kehren wir noch einmal zu unseren Ausgangsfragen zurück: Ist Erinnerung nicht doch so etwas wie ein Alibi, eine Art Verdrängen dessen, was eigentlich zu tun wäre?
Zu dieser Frage gibt es ein sehr interessantes Gespräch zwischen Jürgen Habermas und dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz. Dabei geht es um die Wechselbeziehung, aber auch die Differenz zwischen der biblischen Erinnerung, der "biblisch-anamnetischen Vernunft" (wie Metz sagt) einerseits und der philosophischen Vernunft und ihren Möglichkeiten andererseits.
Habermas kommt ja von einer philosophischen Denkrichtung her, die im Gefolge von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno das Phänomen der neuzeitlichen Selbstbefreiung des Subjekts aus der Erinnerungspflicht und den Bindungsmächten der Tradition beschrieben hat. Freilich hat diese (Frankfurter) Schule auch kritisch die "Dialektik der Aufklärung" in den Blick genommen. Der von allen Zwängen der Tradition befreite Mensch wird wiederum selbst in neue Entfremdungsvorgänge verwickelt. Die Aufklärung produziert also aus sich selbst neue Entfremdungen. Es bedarf sozusagen immer wieder der Aufklärung über die Aufklärung. Es bleibt in der Moderne trotz aller Selbstbefreiung des Subjekts Unabgegoltenes bestehen, eben die Erinnerung an die ganze Zwiespältigkeit des Bewusstseins, die aus der Erinnerung an das Vergangene einerseits Rache erwachsen lassen kann, aber andererseits auch Versöhnungsbereitschaft und Bereitschaft zu einem Neuanfang.
Die zwiespältige Art der Erinnerungskraft zeigt sich paradigmatisch am jüdisch-palästinensischen Konflikt. In der jeweiligen Erinnerung an die Leidgeschichte des jeweiligen Volkes nährt sich der Furor des Vergeltungszwanges. Derzeit scheint nichts in Sicht, was diese Spirale von Gewalt und Gegengewalt zwischen den Juden in Israel und den Palästinensern stoppen könnte. Eine besondere Zuspitzung erhält dieser Konflikt, wenn auf jüdischer Seite, wie das hie und da geschieht, der Gedanke der Einzigartigkeit der Schoah, des furchtbaren Massenmordes am jüdischen Volk durch uns Deutsche, ins Spiel gebracht wird. Gerade religiöse Juden sehen durch die Shoah alle Juden in eine einzigartige Opferrolle gedrängt. Sie entdecken geradezu in der Shoah eine geheimnisvolle Auszeichnung ihres leidgeprüften Volkes gegenüber anderen Völkern.
Ich zitiere für diese nahezu mystische Betrachtungsweise der Shoa einen Text von Elie Wiesel: "Jeder Jude, der vor, während oder nach dem Holocaust geboren wurde, muss wieder hinein, um ihn auf sich zu nehmen. Wir alle standen am Berg Sinai; wir alle hatten dort dieselbe Vision; wir alle hörten das Anochi - `Ich bin der Herr ...` Wenn dies wahr ist, dann sind wir auch mit Auschwitz verbunden. Diejenigen, die damals nicht dort waren, können es heute entdecken. Wie? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass es möglich ist ... Aber das hat natürlich nichts mit Worten zu tun. Man spricht nicht darüber. Man spricht nicht über den Beginn der Schöpfung und das Ende der Zeiten ... Warum also denken wir an den Holocaust eingestandenermaßen mit Scham? Warum beanspruchen wir ihn nicht als ruhmreiches Kapitel unserer ewigen Geschichte?" (8)
Dies ist ein bewegender Gedanke, im Letzten ein mystischer Ansatz, die Leidgeschichte des jüdischen Volkes zu verstehen. Das Christentum hat diese Art des Denkens, des "Eingedenkens" im Ansatz letztlich aus dem Judentum übernommen, aber es hat diesem Denken in seiner eigenen Geschichte, bedingt durch eine andere Art der Theologie und des gelebten Glaubens, zu wenig Raum gegeben, wie Johann Baptist Metz immer wieder betont.
Es liegt auf der Hand, wie gefährlich andererseits ein solches Denken sein kann, wenn der Gedanke der Stigmatisierung aller, auch heute lebender Juden mit dem Holocaust politisch gegen die Palästinenser eingesetzt wird. Wenn dann umgekehrt auch die Gegenseite eine besondere Opferrolle für sich beansprucht und dies sogar noch religiös untermauert, mit alten und neuen Opfergeschichten unterlegt und diese ständig wach hält, wird Versöhnung und Neuanfang nahezu aussichtslos. Wenn z. B. jedes neue Attentat von radikalen Splittergruppen den Dialog zwischen den beiden Parteien abbrechen lässt, kann es keinen Fortschritt in Richtung Aussöhnung geben.
Wir können dies hier nicht näher verfolgen. Aufgebrochen werden kann diese einseitige Erinnerung an Täter- und Opfergeschichten nur durch gemeinsame Erinnerung beider Völker, und zwar miteinander, in einer Erinnerung, die in der Schuld des anderen auch die eigene Schuld erkennt. Es bedarf der Compassion, der Empathie in das Leid des anderen, damit aus dem eigenen Leiden eine neue Zukunft erwachsen kann. So allein wird aus der gemeinsamen Opfergeschichte eine gemeinsame Heilsgeschichte werden, in der Schuld vor dem gemeinsamen Gott bereut, gegenseitig vergeben und darin überwunden wird.
Ein Satz von Theodor W. Adorno, schon 1966 in seinem Werk Negative Dialektik formuliert, bringt auf den Punkt, worum es bei der Leiderinnerung, und wenn man so will: bei Passionsmystik geht: "Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit". (9)
Worin kann aber Leiden "beredt" werden? - Allein in der Erinnerung, im Angedenken, in der Anamnese, die etwa auch in der medizinischen Therapie Medium der Heilung werden kann, zumindest deren Voraussetzung.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den im antiken Strafprozess vorgesehene "damnatio memoriae", also die Auslöschung jeder Möglichkeit des Andenkens. Die vorgeschriebene Ignorierung sollte eine Art befohlenes Vergessen werden. Man wollte sich bewahren vor der Betroffenheit durch Eingedenken, so wie das ja auch heute im Blick auf die DDR-Vergangenheit geschieht mit dem Ruf nach einem Schlussstrich oder gar einer Generalamnestie.
Nur als kleine kulturhistorische Anmerkung: Zum ersten Mal in der uns bekannten Geschichte wird eine allgemeine Amnestie nach dem Ende des Peloponnesischen Krieges zwischen Sparta und Athen (403 v.Chr.) ausgerufen. Das griechische Wort amnestos heißt ja: nicht erinnern! Amnestie also als "Kraft des Vergessens". Winston Churchill sprach einmal 1946 im Blick auf den letzten Weltkrieg vom "segensreichen Akt des Vergessens". Freilich: Diese Art Schlussstrichdenken ist eine geistige Kapitulation. Sie kapituliert vor der Unfähigkeit, den Toten, den Opfern der Kriege und der Gewalt in der Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Genau diese Herausforderung aber ist der Impuls des theologischen Denkens von Johann Baptist Metz. Er mahnt in seinem Lebenswerk Theologie und Kirche unaufhörlich, nicht die Leidensgeschichte der Opfer zu vergessen, auch jener Opfer, die selbst durch christliche Siegermentalitäten produziert wurden. Das Inquisitionsdenken ist ja auch heute nicht ganz ausgestorben.
Gerade die Kirche, die um ihren vorläufigen und dienenden Auftrag weiß, müsste sensibel sein für die Leidgeschichte der Menschen. Zum einen deshalb, weil sie selbst durch das Leiden Jesu Christi konstituiert wird. Zum anderen aber auch deshalb, weil sie sich von ihrem ganzen Selbstverständnis her nicht als Siegerin auf Kosten anderer verstehen darf. Die Kirche trägt die ständige Erinnerung an ihre Vorläufigkeit in sich. Sie kann sich nicht verabsolutieren, weil sie im Letzten nur ein Werkzeug in der Hand Gottes ist. Er allein kann die Herzen der Menschen berühren und verwandeln. Das wurde zu oft in der Kirchengeschichte vergessen. Mit Recht hat deshalb der derzeitige Papst im Jahr 2000 ein öffentliches Schuldbekenntnis für unsere Kirche und die in ihrem Namen begangenen Unrechtstaten abgelegt. Das darf nicht vergessen werden: Nicht Menschen können das Gottesreich herbeizwingen. Gott selbst ist es, der seine Herrschaft herbeiführt, freilich nicht ohne unsere freie Zustimmung.
Ich gebrauche immer gern für die Grundaufgabe der Kirche das Bild des Resonanzraumes bei einem Instrument. Ein Ton, ein Geigenton etwa bekommt erst durch den Resonanzraum Klangfülle und Lieblichkeit.
Die Grundbotschaft der Kirche, das Evangelium, ist wie ein von Gott in die Welt gebrachter Ton, wie eine Melodie, die das Herz ergreifen möchte. Diese Melodie spricht vom Anbruch einer zweiten Schöpfung, die durch das Sterben und Auferstehen Jesu Christi angefangen hat und in die alle hineingezogen werden, die sich auf eine Umwandlung ihrer Existenz nach Jesu Vorbild einlassen.
Dieses existentielle Angebot wird durch die Kirche präsent gehalten, immer neu in jeder Generation den Menschen angeboten, wenn man will: im kulturellen Gedächtnis der Menschheit gehalten und durch das gemeinsame Erinnern, vor allem im Gottesdienst, bewusst gemacht.
So können an diesem Evangelium auch die Nachgeborenen Anteil gewinnen. Alle Verkündigung, etwa auch das erinnernde Erzählen des Passionsgeschichte, zielt letztlich auf das Angebot der Ü;bernahme einer neuen Existenzweise, die sich am Lebensstil Jesu ausrichtet, und zwar nicht nur insofern Jesus Vorbild eines edlen Menschen ist, sondern im Vertrauen darauf, dass in dessen Leben und Sterben ein Raum aufgetan wird, der richtiges Leben inmitten des falschen Lebens (wie es Adorno einmal formuliert hat) ermöglicht. Dieses Leben mache ich mir im Glauben und in der Taufe zu eigen, besser: ich lasse es mir schenken.
Kehren wir noch einmal zu dem Grundansatz des Denkens von Johann Baptist Metz zurück. Er steht hier nur als Kronzeuge für eine andere Art von Theologie, die im Gefolge des 2. Vatikanischen Konzils wieder breitere Akzeptanz gefunden hat. Ich zitiere hier einmal eine Passage aus einem autobiographischen Rückblick, den Metz 1996 verfasst hat. Metz schaut auf seine Konfrontation mit jener Geschichte, "die einen so katastrophalen Namen wie Auschwitz trägt. Immer wieder habe ich mich seitdem gefragt, warum man unserer Theologie eine solche Katastrophe, wie überhaupt die Leidensgeschichte der Menschen, so wenig ansieht und anhört. Haben wir womöglich für die theologische Interpretation der Geschichte viel zu ?starke? Kategorien benutzt, die alle geschichtlichen Verletzungen viel zu schnell überdecken und das Sensorium für Gefahr verkümmern lassen? Heilt die Theologie wirklich alle Wunden? Auschwitz wirkt da wie ein Ultimatum auf mich. Von da an spielen für mich die vermeintlich ?schwachen? Kategorien der Erinnerung und der Erzählung ... wie überhaupt die Aufmerksamkeit für die in der jüdischen Geschichte entfaltete anamnetische Kultur eine immer größere Rolle" (10)
Darum gilt aus solchem Bedenken das Fazit zu ziehen: Das Erinnern an das Leiden ist bitter, aber notwendig. Weil wir uns oft nicht erinnern wollen, müssen wir uns geradezu zur Erinnerung zwingen.
Um einmal eine etwas weltliche Analogie zu wählen, die diese Dialektik auf den Punkt bringt, berichte ich einmal von einer Erfahrung, die ich bei meinem ersten Flug gemacht habe. Diese Erfahrung ist mir jetzt bei jedem Flugzeugstart innerlich präsent. Bekanntlich werden vor dem Abflug durch eine Stewardess, durch einen Steward den Fluggästen die Sicherheitsvorschriften erläutert. Es werden die entsprechenden Geräte, wie etwa der Gebrauch der Sauerstoffmasken erklärt und die Notausgänge gezeigt. Da dies bei jedem Flug wiederholt wird, und zwar meist mit den gleichen Worten und Gesten, schauen und hören die Vielflieger oft gar nicht hin.
Ich dachte mir beim ersten Mal, als ich diese Prozedur erlebte: Das ist wie in der Kirche. Du predigst von den himmlischen Rettungswerkzeugen, und die Leute hören weg und denken sich im Stillen: Hoffentlich brauche ich diese Geräte nicht! Aber die Stewardessen und die Pfarrer bleiben unbeirrt bei ihrem Tun, immer wieder neu und mit langem Atem: Heilsame Erinnerung. Irgendwann braucht man das, woran da erinnert wird, doch einmal. Beim Fliegen hoffentlich nie - aber beim Bedenken des eigenen Lebens, des eigenen Sterbens vermutlich doch. Anleitung zur Mystik für Flugreisende!
Haben wir uns zu weit von J. S. Bach und seiner Johannespassion entfernt? Die Passionsmystik seines großen Werkes partizipiert an der heilsamen, von den Kirchen wachgehaltenen Erinnerung an ein Sterben, das uns alle angeht. Es ist ein Gedenken, das auch uns modernen Menschen Not tut, den säkularen Menschen und den Frommen. Und ganz nebenbei gesagt: Ich halte nicht viel von Leuten, die den Dialog der Kulturen fordern, aber nicht bereit sind, ihre eigene Kultur, nämlich die christliche, wenigstens zu kennen, geschweige denn, in ihr zu leben.
Ich möchte diese Heilsamkeit der christlichen Passionsmystik abschließend in drei Sätze fassen. Diese Sätze sind so etwas wie mein persönlicher Zugang für eine Betrachtung des Leidens Jesu, etwa in der Art, wie mir das die Johannespassion nahe legen will. Die beiden ersten Sätze wären meines Erachtens auch von nichtgläubigen Menschen heute nachzuvollziehen. Etwa dieser erste Satz:
1. Die Betrachtung des Leidens Jesu macht sensibel für die Leidgeschichte der jeweils anderen in der Menschheitsgeschichte.
Ohne solche Sensibilität für das Leiden anderer, ohne eine Kompassionsfähigkeit für fremdes Leid werden wir keine menschliche Zukunft gewinnen. Unser Denken über den Fortschritt sieht anders aus, wenn wir uns stets bewusst sind, zu wessen Lasten dieser Fortschritt geht.
Oder anders gesagt: Die modernen Denkmale müssten nicht den Siegern, sondern den Verlierern, den Opfern der Geschichte errichtet werden. Im gewissen Sinn gehört Jesus dazu. Er kann zumindest für diese Verlierer stehen. Ich weise in diesem Zusammenhang auf diese interessante Tatsache hin: Es gibt meines Wissens keine Religion in der Welt, die von einem leidenden Gott spricht, außer der christlichen. Dieses Alleinstellungsmerkmal des Christentums wird im kommenden Weltgespräch der Religionen noch eine wichtige Rolle spielen.
Auch dieser zweite Satz könnte meines Erachtens von nichtreligiösen und religiösen Zeitgenossen bejaht werden: :
2. Die Betrachtung des Leidens Jesu ist heilsame Erinnerung daran, wozu der Mensch, also auch ich fähig ist.
Man könnte diesen nachfolgenden Choraltext aus der Johannespassion auch nichtreligiös verinnerlichen, wenn man für den Begriff Sünder einmal den Begriff Unmensch, und für Sünde Unmenschlichkeit einsetzt.
Ich zitiere einmal diesen Choral (Nr. 11) :
Wer hat dich so geschlagen
Mein Heil und dich mit Plagen
So übel zugericht??
Du bist ja nicht ein Sünder
Wie wir und unsre Kinder
Von Missetaten weißt du nicht.
Ich, ich und meine Sünden,
die sich wie Körnlein finden
des Sandes an dem Meer,
die haben dir erreget
das Elend, das dich schläget
und das betrübte Marterheer.
Für diesen Choral gälte also in gewissem Sinn das Brechtwort: Hier ist einer gestorben, "der Vorschläge gemacht hat". Und wir haben diese Vorschläge nicht angenommen. Freilich. Ob uns das ehrt, wie Brecht behauptet, bezweifle ich. Dennoch: So auf die Passion Jesu zu schauen ist besser, als sich hinter dem Sterben Jesu zu verstecken, ihn als eine Art Sündenbock (im Sinne von Rene Girard) anzusehen, auf den wir all unsere Schuld laden, um dann doch fröhlich so weiterzuleben wie bisher. Das hieße Jesus in der Tat umsonst gestorben sein lassen, mit Bert Brecht gesprochen: Vorschläge haben machen lassen, die ins Leere laufen.
Solche Ü;berlegungen bleiben freilich im gewissen Sinne noch einer ethischen Betrachtungsweise verhaftet. Passionsmystik im eigentlich christlichen Sinn ist trans-ethisch zu verstehen. Das Leben und Leiden Jesu ist in einem engen Sinne des Wortes nicht "notwendig". Es ist über-notwendig, nämlich als eine Art Gratis-Geschehen, so wie menschliche Liebe und Zuneigung nicht zwangsnotwendig, sondern eine überraschende Zugabe zu unserem Leben sind.
Ich formuliere deshalb meinen 3. Satz, und zwar (im gegenwärtigen Meister-Eckart-Jahr sehr angemessen) in Anlehnung an ein Zitat von Meister Eckart:
3. "Alles Leid kommt her von Liebe und Zuneigung"
Das gilt in einem herausragenden Sinn von der Passion Jesu Christi. (11)
Der Satz von Meister Eckart spiegelt eine tiefe Erfahrung, die uns in eine ganz andere Art des Gottesbildes hineinführt als jene, die heute bei manchen Zeitgenossen verbreitet ist. Viele verwechseln den Gott Jesu Christi mit einem omnipotenten Machtzentrum, einem Blitze schleudernden Super-Zeus oder auch mit einem Aufpassergott, dessen einziges Interesse an der Durchsetzung seiner Autorität bestünde. Das wäre, im Blick auf den Menschen hin gesehen, ein Konkurrenzgott zu unserer Freiheit und Autonomie, ein Gott, unter dem der Mensch nicht atmen und sich frei entfalten könnte. Friedrich Nietzsches Gottesbild war so geprägt, als er seinen Zarathustra schrieb. Er litt unter einem Gott, dem er keine Leidensfähigkeit aus Liebe zuerkennen konnte. Er konnte nicht fassen, dass es Freiheiten gibt, die nicht miteinander konkurrieren, sondern die sich gegenseitig ergänzen, ja die erst im Miteinander Lebensqualität in Fülle eröffnen.
Das führt mich persönlich in die tiefste Schicht der biblischen Passionsmystik hinein, die ich hier nur andeuten kann: Im Kreuz Jesu leidet Gott um des Menschen willen, um seiner Freiheit willen, um seines Heiles willen. Ist das verstehbar? Es mag Zugänge dazu geben, etwa aus unseren mit- und zwischenmenschlichen Erfahrungen. Warum ist echte Liebe immer leidensbereit? Eine letzte Erklärung dafür gibt es nicht. Man kann nicht selbstlose Solidarität "erklären", geschweige denn Liebe, die sich für den anderen die Hände schmutzig macht, sich für ihn in Gefahr oder gar in den Tod begibt.
In Jesus erkenne ich jemanden, dessen Passion es ist zu lieben - ohne Risikoabsicherung, es sei denn diese, sich in dem Gott geborgen zu wissen. Jesus nennt Gott "Vater". Das aramäische Wort Abba ist sogar eine Koseform dieses Wortes. Jesus empfiehlt uns, dass auch wir Gott mit dieser Anrede anrufen. Bekanntlich ist Jesus mit einem Schrei gestorben. Ich interpretiere diesen Schrei als den Urschrei des Menschen nach Gott, dem letzten Geheimnis seines Lebens. Vielleicht hat Jesus im Sterben den Psalm 22 gebetet ("Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"). Die Anfangsworte dieses Psalmes werden ihm am Kreuz in den Mund gelegt. Dieser Psalm aber, zu Ende gebetet, endet mit dem Ausdruck tiefen Vertrauens auf Gottes rettende Macht.
Aus einem KZ der Nazizeit wird berichtet: Die angetretenen Gefangenen mussten zuschauen, wie ein Kind gehängt wird. In die Todesqual des Kindes hinein fragt einer leise: Und wo ist Gott? Und ein anderer antwortet ihm: Da vorn hängt er.
Es stimmt mit unserer menschlichen Erfahrung überein: Es gibt keine Liebe ohne Schmerzen. Es gibt keine Wahrheit ohne das Opfer. Es gibt kein Sich-Selbst-Gewinnen ohne Loslassen-Können. Und das ist immer schmerzhaft.
Wem dies unmenschlich erscheint, wer den Verdacht hat, angesichts des Kreuzes Christi einem masochistischen Gottesbegriff aufzusitzen, der sei an die innere Logik des Spieles erinnert. Ein Spiel gelingt nur, wenn die Spielregeln eingehalten werden, und zwar mit unerbittlichem Ernst.
So ähnlich ist das mit dem Spiel Gottes, zu dem er den freien Menschen als Partner einlädt. Gott hat keine Freude am Leiden, aber er lässt die Regeln gelten. Er straft nicht, er lässt nur Konsequenzen zu. Darum ist für mich das Leiden Christi Ausdruck einer letzten, im Grunde göttlichen Freiheit. Hier begegne ich einem unauslotbaren Meer an Liebe und Hingabe, das mich in sich hineinziehen will.
Diesem Geheimnis sinne ich nach, wenn ich auf das Leiden Jesu schaue. Und ich kann es umso besser, wenn ich mich dabei in das gewaltige Gebirge der Bach?schen Johannespassion hineinbegeben kann.
Anmerkungen:
(1) J.S. Bach, Johannespassion, Bass-Arie Nr. 32
(2) Zur Johannespassion vgl. M. Walter, Erschallet ihr Lieder, erklinget ihr Seiten! J.S. Bachs Musik im Jahreskreis, Zürich- Düsseldorf 199,64ff.
(3) B. Brecht, Ausgewählte Gedichte, Frankfurt 1967, 78.
(4) F. Dürrenmatt, Zusammenhänge. Nachgedanken, Zürich 1980, 14ff.
(5) R. Kosellek, Die Transformation der politischen Totenmale im 20. Jahrhundert: Das Gedächtnis des Jahrhunderts, in: Transit. Europäische Revue 22 (2002) 59-86.
(6) Ebd. 74.77.
(7) J. Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Kultur und Gedächtnis, hrsg. Von J.Assmann und T.Hölscher, Frankfurt a.M. 1988, 9-19, hier 15.
(8) Zit. nach J.-M.Chaumont, Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität und Anerkennung, Lüneburg 2001, 108.
(9) Th.W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1975, 29.
(10) J.B. Metz, Ein biographischer Durchblick: "Wie ich mich geändert habe" (1996), in: Ders., Zum Begriff der neuen politischen Theologie: 1967-1997, Mainz 1997, 209.
(11) Zit. nach Lexikon für Spiritualität, Freiburg i. Br. 1988, 1097.
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