Liebe Schwestern und Brüder in den christlichen Konfessionen,
liebe Gäste, die sie vielleicht keinen religiösen Hintergrund haben,
alle gemeinsam sind wir den Weg der großen Leidensprozession hier in Heiligenstadt gegangen. Sei es in der Prozession oder am Rande stehend, sei es singend oder in Stille betend, sei es dankend, dass wir die Prozession wieder gehen dürfen oder eben auch fragend und zweifelnd.
Die Prozession mit ihren Bildern und Liedern nimmt uns mit hinein in das Leiden Jesu, in seine Lebenshingabe für die Menschen, in seine Liebe, die letztendlich stärker als der Tod ist. Wir schauen auf das Geheimnis des christlichen Glaubens, dass eben durch den Kreuzestod Jesu der Weg der Auferstehung neues, gewandeltes, hoffnungsvolles Leben möglich ist.
Welche Botschaft hat diese Prozession für uns heute? Auf welche Weise finden wir uns in ihr, mit unserem Leben wieder?
Schauen wir auf die Figuren: in ihnen können wir zwei Aspekte und Impulse für uns und unser Leben entdecken.
Einen Ersten: Menschliches Leben ist nicht perfekt
Obwohl wir im privaten wie im öffentlichen Alltag alles für ein perfektes Leben, in Gesundheit, Wohlstand und Zufriedenheit tun, wir wissen, menschliches Leben ist nicht perfekt.
Beim letzten Abendmahl schenkt sich Jesus den Seinen in Brot und Wein. Er deutet die eucharistischen Gaben dahin, dass in ihnen der Mensch Gottes Gegenwart erfahren kann. Eine traurige Folge der Coronapandemie ist die, dass es nur noch wenige sind, die dieses Geschenk der Gegenwart Gott in der Eucharistie mitfeiern. Vielen fällt es schwer sich auf die Feier der Eucharistie einzulassen und finden eben keinen rechten Zugang mehr zu ihr. Beim Blick auf das Abendmahl sehen wir unsere leeren Kirchen und die Glaubensnot, Christus in seiner Lebenshingabe in Brot und Wein, nicht mehr zu verstehen.
Der Blick auf Jesus, der am Ölberg Isolation und Todesangst spürt und erfährt, lässt uns an die Menschen unter uns denken, die selber am Leben zweifeln, die Angst vor dem Lebensweg haben, die keinen Ausweg aus den Zwängen finden, die ihnen das Leben bringt.
Das Bild Jesu, der verspottet wird, rückt die Menschen in unseren Fokus, die heute öffentlich, wie privat vorgeführt werden. Denken wir an die, über die in den sozialen Medien hergezogen wird, an die, über die Lügen verbreitet werden, an diejenigen, denen nach Fehlern keine zweite Chance gewährt wird.
Das schwere Kreuz öffnet uns den Blick für die Menschen, die Opfer von Hass, Krieg, Terror und Gewalt geworden sind. Wir sehen am Kreuz die vielen Menschen weltweit, die durch Verfolgung unschuldig das Geschenk des Lebens verloren haben.
Welchen Schmerz Maria (Pieta) erfahren hat, als sie ihren toten Sohn in den Armen hielt, das können nur die Väter und Mütter nachvollziehen, denen es auch so ergangen ist. Wir Außenstehenden können ihn nur erahnen.
Am vergangenen Montag habe ich zusammen mit Pfarrer Möller eine Beisetzung für Sternenkinder auf dem Friedhof in Heiligenstadt gehalten. Beim Blick auf die Pieta denke ich heute an die jungen Väter und Mütter, deren Kinder früh vollendet wurden.
Und das Grab? Wir fühlen uns mit den vielen Menschen verbunden, deren Verwandte und Angehörige in den ersten Monaten dieses Jahres verstorben sind:
Frauen und Männer, Junge und Alte, Menschen, die von schwerem Leiden erlöst wurden, andere die plötzlich gestorben sind. Wie viele stehen an Gräbern und ihre Tränen wollen nicht trocknen, weil der Platz des geliebten Mitmenschen leer ist, die Stimme von ihm verstummt ist.
Menschliches Leben ist nicht perfekt. In den Bildern der Leidensprozession finden wir alles wieder, was unser Leben zerbricht und endlich werden lässt.
Wir können aber auch mit hoffnungsvollen Augen auf diese Bilder schauen und mit der Botschaft des Auferstehungsglaubens daher dieses benennen:
Ein zweiter Aspekt: Menschliches Leben darf wachsen und reifen
Diese Aussage wird für uns nur dann plausibel, wenn wir uns von der Hoffnung unseres Glaubens tragen lassen, dass Gott auch auf Totem und Leblosem neues Leben schenkt.
Mit dem Verweis auf die Bilder Leidensprozession beginnt unser Blick mit dem Heiligen Grab und geht den Weg zurück bis zum Abendmahl.
Die österliche Botschaft ist das leere Grab. Die Jüngerinnen und Jünger sehen am Ostermorgen, dass der Stein weggerollt ist, dass der tote Jesus lebt: Dies entfacht ihren Glauben auf Gott, der alles wieder neu und lebendig macht. Dieser Glaube machte sie fähig, hinter all dem Scheitern des Lebens immer neu Gottes Herrlichkeit zu sehen, die die Erfüllung menschlichen Lebens mit sich bringt.
So ist das Heilige Grab für uns ein Hoffnungszeichen und ein großer Trost, das auch für uns der Tod nicht das Ende, sondern der Beginn von Neuschöpfung in Gott ist. Der Auferstehungsglaube lädt uns daher ein, dass wir Menschen werden und dahin auch als Menschen wachsen und reifen, die durch ihr Tun Gottes
neue Wirklichkeit erfahrbar machen.
Haben wir Mut mit dem Blick auf die Pieta, eben die Menschen mit zu stützen und zu tragen, die am Verlust anderer Menschen besonders leiden.
Hören wir nicht auf, uns für Frieden und ein gemeinschaftliches Miteinander einzusetzen. Das Kreuz erinnert uns an diesen Auftrag, für den Frieden zu beten und immer wieder neu Wege der Versöhnung zu ebnen und zu bauen.
Setzen wir uns ein für die Wahrheit. Der verspottete Jesus macht uns deutlich, unseren Mitmenschen in Würde und mit Respekt zu begegnen. Plappern wir nicht jedes Gerücht ungefiltert nach, machen wir uns ein eigenes Bild, setzen wir
unseren Verstand ein, holen wir eine zweite Meinung ein, lassen wir uns korrigieren.
Jesus, den am Ölberg Isolation, Angst und Zweifel befallen: Dieser Jesus lässt mich heute an die vielen Zeitgenossen denken, die psychisch krank sind und für sich keine Lebenshoffnung finden, deren Seele finster ist und die allem ein Endesetzen möchten. Nehmen wir sie in den Blick, nicht mit einem billigen "es wird schon wieder", sondern mit liebender und wertschätzender Annahme, die ihnen und ihren Familien vermittelt: "egal wie, ihr und euer Leben seid kostbar und wertvoll".
Das Abendmahl Jesus ist für uns neu eine Einladung von Jesus selbst. Wie er seine Jünger an seinem Tisch zusammen ruft, sollen auch wir zusammenkommen, um sein Vermächtnis zu feiern. Es ist eben doch ein fundamentaler Ausdruck unseres Glaubens, wenn wir von seinem Brot essen, weil die Gemeinschaft mit ihm die Dimension unseres Lebens auf Gott hin weitet.
Als Christen müssen wir uns treffen, sonst verlieren wir genau diese Dimension auf Gott hin.
Über die Form lässt sich streiten. Haben wir Mut, Formen unserer Zeit zu finden, um aus der Gemeinschaft mit Christus leben zu können.
Liebe Schwestern und Brüder!
Menschliches Leben ist nicht perfekt. Menschliches Leben darf wachsen und reifen.
Diese beiden Aspekte geben uns die Figuren und Bilder unserer Leidensprozession heute mit.
In der Lesung aus dem Johannesevangelium haben wir Teile der Geschichte von Jesus und Lazarus gehört. Im Dialog Jesu mit Marta spürt man deren Zweifel. Lazarus ist schon vier Tage Tod, wie kann da noch Leben in ihm stecken? Die Antwort Jesu auf ihre Zweifel ist sehr einfühlsam: Marta, wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen!
Dies ist für mich ein sehr tröstlicher Satz. Wenn wir glauben, wie Marta im Evangelium, dann werden auch wir die Herrlichkeit Gottes sehen. Möge uns die heutige Leidensprozession in diesem unseren österlichen Glauben bestärken und jeden Tag neu Mut machen, durch das Leiden hindurch Gottes Herrlichkeit zu sehen. Amen.