"Auf die Liebe setzen - das Maß unserer Menschlichkeit"

Predigt von Bischof Joachim Wanke bei der Männerwallfahrt 2001

Leitwort der Wallfahrt: "Auf die Liebe setzen"

Am 18. Mai dieses Jahres haben wir eine wichtige Rede gehört. Es lohnt sich, diese in Ruhe nachzulesen. Ich meine die Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau. Sie hat die Ü;berschrift: "Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß".

Es geht in dieser Rede um eine Grundfrage unserer Gesellschaft: Wie gehen wir mit menschlichem Leben um? Ihr alle wisst, welche rasanten Fortschritte derzeit die Bio-Wissenschaften machen. Große, derzeit freilich noch unrealisierbare Hoffnungen verknüpfen sich damit: Bekämpfung schlimmer Krankheiten, Verlängerung des Lebens, Kinder - ohne mögliche Behinderungen und maßgeschneidert nach elterlichen Wünschen. Was ist eigentlich gut für den Menschen? Ein Fortschritt um jeden Preis?

Bundespräsident Rau, der erste Repräsentant unseres Staates, plädiert für einen Fortschritt nach menschlichem Maß. Ich kann jedem Satz seiner Rede aus vollem Herzen zustimmen. Es ist gut, dass diese Rede gehalten wurde. Es wäre noch besser, wenn sie auch gehört und in praktische Politik umgesetzt würde.

Unsere heutige Wallfahrt hat ein Leitwort, dass genau dieses Problem aufgreift: Was muss das Maß unserer Menschlichkeit sein - auch im Fortschritt? "Auf die Liebe setzen!"

Ich gebe zu: Das ist ein anspruchsvolles Leitwort. Der Bundeskanzler würde sagen: "Das schafft keine Arbeitsplätze." Das mag sein. Aber dieses Wort konkretisiert das, was Bundespräsident Rau meint, wenn er für einen Fortschritt nach menschlichem Maß plädiert.

Manche von euch kennen vermutlich das Märchen von Wilhelm Hauff: Das kalte Herz. Das kleine Glasmännlein verspricht dem Kohlenmunk-Peter allen Reichtum der Welt, Golddukaten in Fülle - wenn er ihm sein warmes, lebendiges Herz abgibt. Der junge Bursche lässt sich auf den Handel ein. Aber er wird mit seinem kalten Herzen aus Stein trotz aller Golddukaten nicht glücklich. Er sucht, wieder an sein warmes Herz zu kommen. Es passt besser zu ihm. Es hat "menschliches Maß"!

Nichts gegen neue Arbeitsplätze. Nichts gegen die Erforschung von Krankheitsursachen und deren mögliche Bekämpfung. Aber um jeden Preis? Auch um den der Tötung menschlichen Lebens? Auch der Fortschritt muss am Menschen Maß nehmen, nicht umgekehrt: der Mensch am ungehemmten Fortschritt.

Was heißt das nun: Auf die Liebe setzen? Auf die Liebe setzen heißt

1. sich Grenzen setzen.
Grenzen setzen dem uns innerlich angeborenen Egoismus, dieser Haltung, die sagt: Zuerst einmal Ich - und dann vielleicht die anderen (vorausgesetzt, es tut mir nicht weh!).

Ein typisches Kennzeichen unserer Zeit ist das schwindende Gespür für das Einhalten von Grenzen. Maßlosigkeit breitet sich aus - im Großen wie im Kleinen. Ich erinnere an die hohe Zahl der Verkehrstoten im Eichsfeldkreis. Sagt nicht: "Das liegt an unseren gut ausgebauten Straßen." Das wäre für den Landrat ein fatales Lob! Nein - das liegt an der Haltung: Für mich gibt es keine Grenzen. Ich bin hier der "king", und wenn es auch fremdes Leben kostet, oder gar mein eigenes.

Menschliche Maße einhalten: Das fängt im Umgang der Einzelnen untereinander an, mit der Höflichkeit, der Selbstbeherrschung, mit dem, was man nennt das Einhalten "guter Sitten" und Gepflogenheiten. Und das hört im Großen auf: mit dem Schutz des Lebens im Mutterleib und der Achtung des Lebensrechtes alter Menschen, auch wenn sie gebrechlich sind und Pflege kosten, und mit einer friedfertigen Gesinnung zwischen Völkern und Staaten.

Natürlich ist Liebe mehr als die Respektierung von Grenzen. Aber das Reden von Menschenliebe und Humanität wird zum leeren Geschwätz, wenn wir nicht zunächst einmal lernen, Grenzen zu respektieren. Und damit meine ich nicht nur die Regeln des Straßenverkehrs, sondern auch unser Verhalten in der Familie, in der Arbeitswelt, im öffentlichen Leben, auch in der Kirche. Ich bin bestürzt darüber, dass unter Eichsfelder Jugendlichen, auch aus unseren kirchlichen Familien, der Alkohol die Droge Nr. 1 ist. Mein Jugendpfarrer im Marcel-Callo-Haus hat meine volle Rückendeckung, wenn er 15-jährige, die mit Taschen voller Bierdosen zum Wochenendkurs anreisen, wieder heimschickt. Aber noch mehr bestürzt es mich, dass manchmal Eltern nicht mehr wagen, ihren Halbwüchsigen Grenzen aufzuzeigen, Grenzen, mit denen sie sich auseinandersetzen können, ein Maß, an dem sie wachsen könnten.

Es gibt kein gelingendes Mensch-Sein ohne Selbstbegrenzung. Und es gibt keine gelingende Liebe ohne die Bereitschaft zur Rücksichtnahme. Man muss gelernt haben, eigene Wünsche zu zügeln und aufeinander zu achten. Irgendwo las ich einmal das Wort "Richtig verheiratet ist erst der, der jedes Wort versteht, das seine Frau nicht gesagt hat!" Ü;berlegt einmal auf die Schnelle, ob ihr richtig verheiratet seid!

Lasst mich zu diesem Stichwort "Verheiratet sein" an dieser Stelle auch dieses in aller Öffentlichkeit sagen: Es ist immer noch richtig, dass die volle Geschlechtsgemeinschaft zwischen Mann und Frau in die Ehe gehört, auch wenn beinahe jeder Fernsehfilm das Gegenteil propagiert. Und es ist auch kein Argument zu sagen: "Die Anderen tun es doch auch!" Und wenn alle Leute klauen würden, dürften wir dennoch nicht sagen: "Klauen ist in. Das machen wir jetzt auch!" Wie bei vielen ethischen Argumentationen, etwa beim Lebensschutz, gilt auch hier: Nicht was viele oder angeblich alle machen, ist im Streitfall richtig, sondern was ich vor Gott oder im eigenen Gewissen als richtig erkenne - das ist zu tun.

Es ist für eine Gesellschaft und für die Beziehung der Geschlechter auf Dauer tödlich, wenn wir Sexualität von Treue, von Verlässlichkeit, von der Bejahung der Lebensweitergabe abkoppeln. Ihr seht ja selbst, wie weit wir schon gekommen sind: Die Vorrangstellung von Ehe und Familie wird mehr und mehr ausgehöhlt, die je eigene Selbstverwirklichung zum letzten Lebenszweck hochstilisiert. Kein Wunder, dass Prostitution beinahe wie ein ehrenwerter Berufsstand gehandelt wird.

Versteht mich recht: Ich warne vor einer Lebenseinstellung, die kein Maß mehr kennt. Das wird es immer geben, dass bei manchen schon vor der Ehe die Sicherungen durchbrennen. Aber die Sicherungen einfach kaltblütig ausbauen und so zu tun, als sei es egal, ob Kinder nur Lebensabschnittsgefährten als Eltern haben oder ob sie richtige Eltern haben, Eltern, die ihnen vorleben können, was es heißt: in guten und bösen Tagen zusammenzuhalten und füreinander und für ihre Kinder einzustehen - das ist doch ein Unterschied! Dafür wird es nicht den Segen der Kirche geben, und wenn ich als Bischof dafür noch so beschimpft werde (und manche meiner Pfarrer dazu!).

Liebe Männer! Das Eichsfeld ist Eichsfeld geblieben, weil es in macher Hinsicht gegen alle Trends bei guten alten Sitten geblieben ist: z. B. sonntags den Blaumann abzulegen, am Samstag mal die Straße vor dem Haus zu fegen und die Festtage im Dorf nicht allein, sondern gemeinsam zu feiern. Natürlich kann jeder von euch jetzt auch nach Mallorca fahren und über Ostern zum Schnäppchen-Urlaub an die Adria. Aber ist nicht manches gerade deshalb schön und macht Freude, weil wir es gemeinsam tun - in unseren Orten, in den Verbänden, in den Pfarrgemeinden? Diesen Satz habe ich nach der Wende schon oft gesagt: Nicht dass wir viele Dinge haben, macht unser Leben reich, sondern dass wir einander haben!Darum rate ich euch: Bleibt in manchen Punkten wie etwa diesen genannten durchaus ein wenig "altmodisch"! Es bekommt uns besser. Das Festhalten an guten, bewährten Sitten macht unser Leben menschlicher. Die angestrengte Jagd nach Lustgewinn um jeden Preis verzerrt nur das Gesicht.

Das gilt auch für die Heiligung unserer Ehen und Familien. Gottes Gebot schützt unser Mensch-Sein. Es gibt unserem Leben - gerade weil es Grenzen setzt - Maß und Halt. Der Zustand deiner Ehe ist wichtiger als die Größe deines PKW; und die Werte, die ihr in euren Familien lebt, ist nicht von der Menge der Wertpapiere abhängig, die deine Bank für dich verwaltet. Wichtiger als die Börsenkurse für unsere Gesellschaft ist es, ob Gottes Gebot hoch im Kurs steht. Für uns zumindest sollte das gelten - und das wäre durchaus ein Beitrag für einen gesellschaftlichen Fortschritt nach menschlichem Maß, wie ihn Bundespräsident Rau gefordert hat.

Das ist das eine: Auf die Liebe setzen heißt, sich Grenzen setzen, an Gottes Gebot Maß nehmen, das hochhalten, was sich an guten Sitten und Gewohnheiten bewährt hat.
Auf die Liebe setzen heißt aber auch

2. sein Gesicht zeigen.
Was ist damit gemeint?
Ich benenne einmal folgende Erfahrung. Man kann, wie ihr wisst, neuerdings sogar online einkaufen, per Mausklick am Bildschirm. Die Experten der Verkaufsketten sagen freilich: Das greift nur bei relativ billigen, belanglosen Waren. Das große Geschäft ist damit nicht zu machen. Warum? Bei wichtigen, teuren Dingen, die ein Kunde erwerben will, braucht es immer noch einen geschulten, vertrauenswürdigen Verkäufer. Das ist eine interessante Beobachtung! (Ein Trost für alle Verkäufer und Kundenberater!)

Bei wichtigen Entscheidungen im Leben kommt es darauf an, ein Gesicht zu sehen, einer Person, einer Persönlichkeit gegenüberzustehen. Das ist in der Politik so - wo bekanntlich Männerfreundschaften manches bewirken -, das ist auch im Alltagsleben so. Die Banken und Autohäuser legen größten Wert auf gute Kundenberater (möglichst -beraterinnen!). Auch heute im Zeitalter digitaler Kommunikation benötigen wirklich wichtige Geschäfte eine Vertrauensgrundlage. Vertrauen aber lebt davon, in ein offenes Gesicht schauen zu können: Was bist Du für einer? Willst Du mich nur über den Tisch ziehen - oder kann ich Dir trauen?

Auf die Liebe setzen - das erfordert: Gesicht zu zeigen, sein Profil kenntlich zu machen, sich dort, wo es wirklich auf tragfähige Brücken zwischen Menschen ankommt, sich ins Herz schauen zu lassen. "Meinen Nachbarn, meinen Kollegen - den kenne ich doch! Der macht so etwas nicht. Für den lege ich meine Hand ins Feuer!" Wohl dem, von dem so etwas gesagt werden kann.

Ich gebe zu: Eine solche Offenheit, die den Panzer einer falschen Selbstbehauptung ablegt, die sich weigert, sich hinter Masken zu verstecken - eine solche Haltung macht angreifbar, macht verletztlich. Hinter einer Panzerung lebt es sich sicherer - aber auch langweiliger. Spannend und letztlich menschlich und schön wird mein Leben erst dann, wenn ich mich auf Mitmenschen einlasse, auf Aufgaben, die mich herausfordern, auf Ziele, die mich wachsen lassen, auf eine partnerschaftliche Liebe, die mich im anderen mich selbst, mein eigenes Glück finden lässt. Darum: Das Gesicht zeigen, das Herz investieren, sich nicht abschotten, sondern sich mit dem, was man ist und was man kann, einbringen in das Ganze - zu Hause, in der Kirche, in den Lebensfeldern, in denen ich gefordert bin.

Lasst mich diesen Gedanken hier anfügen: auch als Christ sein Gesicht zeigen. Gerade weil wir dieses Land lieben und uns die Menschen um uns herum nicht gleichgültig sind, darum sollten wir ihnen auch nicht Gott vorenthalten. Gott hat uns in Jesus Christus sein Gesicht gezeigt, sein Herz aufgetan. Ich rufe euch auf zu einem lebendigen missionarischen Zeugnis in diesem Bundesland Thüringen - und darüber hinaus!

In DDR-Zeiten haben wir dieses Zeugnis gegeben. Jetzt, in der Situation einer offenen, freien Gesellschaft soll das erst recht gelten. Zeigt als Christen Flagge! Ich erinnere an meinen offenen Brief an alle katholischen Christen in Deutschland. Besorgt euch diesen Text von eurem Pfarrer oder aus dem Internet und sprecht einmal darüber! Fragt, wie ihr in eurem Lebensumfeld das gute Evangelium Jesu Christi auf den Leuchter stellen könnt, als Einzelne und gemeinsam! Wir sind reicher als wir meinen. Ein profiliertes Leben weckt auch heute Aufmerksamkeit, Neugier und Interesse. Gerade dort, wo alle Katzen grau sind, gewinnt das Unterscheidende Ausstrahlungskraft. Dieses Land braucht uns Christen - aber es braucht profilierte Christen, es braucht euch!

Das führt mich zu meinem letzten Punkt. Auf die Liebe setzen heißt:

  • sich Grenzen setzen
  • sein Gesicht zeigen

und heißt

3. der Liebe Gottes trauen.
Nur so ist es übrigens möglich, christliches Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wer nur mit dem Rücken an der Wand steht, der fängt mit der Zeit an, um sich zu treten und zu beißen. Wer sich aber getragen und angenommen weiß, der bleibt souverän, auch dann, wenn er mal ans Schienbein getreten wird. Mit gleicher Münze heimzuzahlen heißt, sich auf das Niveau einer Steinzeit-Kultur zu begeben. Ihr seht derzeit im Nahen Osten, wohin das führt.

Nochmals: Die Liebe macht verletztlich. Jesus hat nicht nur am Kreuz aus vielen Wunden geblutet. Aber auf die Liebe kann setzen, wer mit Jesus Christus um die Auferstehung weiß, um das neue österliche Leben, das Gott zu schenken vermag - jetzt noch verborgen, in der Verherrlichung Christi aber schon offen und endgültig. Das ist ja der Inhalt des heutigen Festes: Einer ist schon als erster von uns in den Himmel aufgenommen.

Im Aufschauen zu dem, der zum Vater geht, wird aus den verängstigten, eingeschüchterten Jüngern des Karfreitags die Schar der mutigen Apostel, die eine ganze Welt und Kultur für das Evangelium gewinnen.

Selbst der Liebe Gottes trauen! Seine Liebe ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist, wie Paulus sagt. Nichts vermag uns zu scheiden von der Liebe Gottes, sagt er an anderer Stelle - weder Sozialismus noch Marktwirtschaft, - das füge ich jetzt hinzu -, weder ein Krebsgeschwür noch eine gescheiterte Ehe, weder missratene Kinder noch ein anderer Schicksalsschlag, wie z. B. auch Arbeitslosigkeit. Ja, es gibt schlimme Lebenslasten. Die sind nicht einfach wegzureden.

Aber ich bitte euch: Lasst euch davon nicht fixieren! Setzt diese und manch andere Dinge, die euch bedrängen, euch ängstigen und euch das Leben verdunkeln, setzt sie dem Licht des Osterglaubens aus. "In deinem Licht, Christus, schauen wir das Licht" - auch wenn es manchmal nur wie ein Licht am Ende eines langen, dunklen Tunnels erscheinen mag!

Jesus Christus hat auf die Liebe des Vaters im Himmel gesetzt. Das war sein Programm. Es ist nicht das Programm dieser Welt. Wer mit Jesus Christus auf die Liebe setzt, wird durch Sterben und Tod hindurch müssen, so wie Jesus. Aber er wird auch so mit ihm zum österlichen Leben gehen. Und dieses Leben beginnt schon hier und heute - jetzt in der Eucharistie und zu Hause, wo ihr die Liebe guter Menschen an eurer Seite erfahren dürft. Darin verkostet ihr schon jetzt auf Erden, was einmal die Seligkeit des Himmels ausmachen wird: geliebt zu werden.

Traut der Liebe! Sie ist mächtiger als alles andere in der Welt. Eben: weil Gott selbst in ihr am Werk ist und anfängt, die Welt zu verwandeln. Wir können ihm dabei helfen. "Herr, fang mit dieser Verwandlung bei mir an!" So könnte ein Wallfahrtsstoßgebet heute lauten. "Lass mich, mein Gott, auf die Liebe setzen - Liebe, die Grenzen anerkennt, Liebe, die bereit ist, Gesicht zu zeigen, Liebe, die sich von deiner Liebe entzünden lässt!"

Aber, damit ihr nicht meint, Liebe sei nur eine Sache des Gefühls, gebe ich euch noch diesen Satz mit auf den Weg: "Wenn eine Treue Spaß macht, dann ist es Liebe!" Nicht heilige Eide machen die Liebe aus, sei es die Liebe zu deiner Frau oder die zu Gott. Liebe bewährt sich in der Treue, in der ehelichen Treue und in der Glaubenstreue. Und das soll es ja geben, dass Treue, auch die Treue, die wir Gott halten, Freude bereitet - wie heute hier im Klüschen Hagis. Amen.

Klüschen Hagis im Eichsfeld, den 24. Mai 2001

Brief von Bischof Wanke an die katholischen Christen in Deutschland