Was sind 35 Jahre in der Geschichte des Erfurter Domberges? Nur eine kleine Zeitspanne, mag man sagen. Doch für Franz-Josef Wokittel bedeutet sie mehr als die Hälfte seines bisherigen Lebens. Und diese Zeit hat er auf dem Domberg zugebracht - als Pfarrer von St. Severi. Am kommenden Sonntag wird der fast 67jährige Wokittel von seiner Pfarrgemeinde verabschiedet. Gern lässt man ihn nicht gehen.
Als Pfarrer Wokittel am Allerheiligentag 1970 die Pfarrei übernahm, war er siebeneinhalb Jahre Priester und hatte Erfahrungen als Kaplan in Nordhausen und Pfarrkurat in Gerstungen gesammelt. "Und dann wurde ich Pfarrer an einer so bedeutenden Kirche. Man geht schon mit etwas Bangen daran", erinnert sich Wokittel.
"Baue St. Severi", hatte ihm Bischof Hugo Aufderbeck mit auf den Weg gegeben. Das war nicht nur bildlich gemeint. Der junge Pfarrer sollte sowohl die Gemeindearbeit auf- und ausbauen, als auch die notwendige Sanierung der Kirche in Angriff nehmen. Unter DDR-Bedingungen keine leichte Aufgabe.
Wokittel legte los, noch ehe er auf dem Domberg wohnte. Zweimal die Woche kam er von Gerstungen nach Erfurt, leistete notwendige Unterschriften, hielt Ministrantenstunden ab und traf sich mit der Gemeindereferentin und den Caritashelferinnen. "Das ging zwei Monate so, dann genehmigten die Behörden meinem Nachfolger den Einzug in Gerstungen, das im Sperrgebiet lag." Und Pfarrer Wokittel konnte endlich in Severi wohnen.
Von Anfang an legte er Wert auf Jugend- und Familienkreise, auf Eltern- und Seniorengruppen. "Für eine Gemeinde ist das wichtig, zusammenzukommen und Gemeinschaft zu erfahren", sagt Wokittel. Kindergottesdienste, damit auch die kleinsten Gemeindemitglieder einen Zugang zur Liturgie finden, wurden in St. Severi dank Wokittel eine Selbstverständlichkeit - bis heute.
Ökumene schrieb Wokittel groß und erinnert sich dankbar an die gute Zusammenarbeit mit dem evangelischen Kirchenkreis Erfurt. "In Marbach feiern wir sogar ökumenische Maiandachten." Für die evangelischen Kirchentage, die in Erfurt stattfanden, stellte Pfarrer Wokittel wie selbstverständlich die Severi-Kirche samt Wiese und einem Besprechungszimmer im Pfarrhaus zur Verfügung.
Auch außerhalb der Gemeinde engagierte sich der Pfarrer, der sich selbst keine Ruhe gönnte, aber wie die Ruhe selbst wirkt. Gern verließ er den Raum der Kirche, um dort zu sein, wo ihn Menschen brauchten. Regelmäßig besuchte Wokittel einige Stationen im Klinikum Erfurt. Erst nach der Wende erhielt er dafür eine offizielle Beauftragung im heutigen Helios-Klinikum.
Und weil er von einem Gefangenen gerufen wurde und tatsächlich kam, "rutschte" Franz-Josef Wokittel nach der Wende auch in die Gefängnisseelsorge. Bei seinem zehnjährigen Dienstjubiläum im Jahr 2000 sagte der Sprecher der Gefangenen über ihn: "Er gab mir den Mut, mir selbst zu helfen."
Wokittel hatte immer alle Hände voll zu tun. Je ein Jahr lang betreute er nach seinem Dienstantritt auf dem Domberg die Seelsorgestellen in Alach, Witterda und Stotternheim. In Marbach kam eine Gottesdienststation hinzu und seit 1997 wird die Martini-Kirche im Brühl vom Severi-Pfarrer mit versorgt. "Allein hätte ich das nicht schaffen können", sagt Wokittel bescheiden und lobt die Diakonatshelfer in Marbach, seine Gemeindereferentin und die Hilfe von Professor Claus-Peter März und anderen Priestern an den Sonntagen.
Dennoch: In seinen 35 Jahren kannte Franz-Josef Wokittel kaum einen freien Tag und nur einmal hat er den ganzen Urlaub genommen, der ihm zustand. "Mich baute immer die Gemeinde auf, besonders bei Hausbesuchen. Das freut einen, das macht einen wieder stark", berichtet er leise lächelnd von seiner Art der Erholung.
Auf die Gemeinde konnte Wokittel bauen, auch mit ihr. 1971 wurden an der Nordseite von Severi Gerüste aufgestellt, um das Dach neu einzudecken. Die Ziegel waren alt und verbraucht. Die Gemeindemitglieder spendeten und stellten ihre Arbeitskraft zur Verfügung. Auch der Pfarrer schleppte die neuen Ziegel auf das Dach, die auf dem Boden von Kindern und Erwachsenen sturmsicher verdrahtet worden waren. Die gesamte Außensanierung - Türme, Wände, Fenster und Gewölbe - sollte bis 1977 dauern. Die Innenrenovation folgte 1979/80.
Doch zuvor beging die Gemeinde im Jahr 1978 die 700-Jahr-Feier der Severi-Kirche. Ehrengast war Erzbischof Ersilio Tonini, einer der Nachfolger des heiligen Severus in Ravenna. "Der Erzbischof durfte in die DDR einreisen und wurde sogar ins Rathaus eingeladen", staunt Wokittel immer noch ein bisschen. Dem Bischof aus Italien verdankt Wokittel seine erste Reise ins kapitalistische Ausland. "Tonini hatte zu einem Gegenbesuch eingeladen. Nach einem dreijährigen Genehmigungsverfahren durfte ich 1981 mit Bischof Wanke nach Ravenna reisen." Als Gastgeschenk überreichten Wanke und Wokittel eine Reliquie des Severus, dessen sterbliche Ü;bereste in Paderborn, Mainz und Erfurt ruhen.
An Severus gefallen Franz-Josef Wokittel die Parallelen zu unserer Zeit: "Anerkennung, Verfolgung und Friede für die Kirche - von alledem haben wir auch etwas in unserer Gegenwart erfahren", gibt der geschichtsinteressierte Wokittel zu bedenken.
Der Severipfarrer bemühte sich nach Kräften, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu handeln. Während der Wendezeit leitete er in Erfurt gemeinsam mit dem evangelischen Senior des Kirchenkreises den Runden Tisch. "Mit dem Mauerfall ist viel Neues auf uns zugekommen und musste von uns ergriffen werden", sagt Wokittel. Er freut sich nach wie vor über die bis dahin nicht gekannten Möglichkeiten für die Kirche im sozialen Bereich. "Auf einmal durften wir auch in staatlichen Krankenhäusern Kapellen einrichten. Gefangenen- und Krankenseelsorge wurde möglich." Für ihn ein Grund, "Gott sei Dank" zu sagen.
Wokittel nutzte die neuen Möglichkeiten im öffentlichen Raum. Am 1. Mai feierte er ökumenische Biker-Gottesdienste, in der Adventszeit segnete er die Krippe auf dem Erfutrter Weihnachtsmarkt. Nicht jedem Mitbruder gefiel das, aber Pfarrer Wokittel glaubt an die Kraft der Verkündigung auch an ungewöhnlichen Orten.
Was Franz-Josef Wokittel bewältigt hat, erstaunt angesichts seiner gesundheitlichen Beschwerden. Osteoporose und Nierenversagen nötigten den Pfarrer zuletzt, das Krankenhaus aufzusuchen. Vor wenigen Monaten ist er nach Gispersleben umgezogen. Wenn es mit der Dialyse gut läuft, will er durchaus noch als Seelsorger tätig sein. "Schauen wir mal, was noch geht", sagt er. Seinem Nachfolger, Pfarrer Christian Gellrich, der fortan für den gesamten Domberg verantwortlich ist, wünscht er die Gaben des Heiligen Geistes: "Damit er alles, was auf ihn zukommt, in Freude verwirklichen kann." So wie es Pfarrer Wokittel immer getan hat.
2005