Abladen können

Beitrag von Bischof Joachim Wanke für die Thüringer Allgemeine


Johannes unter dem Kreuz Jesu: Skulptur in der Erfurter Brunnenkirche

Wohin mit den schlimmen Nachrichten, die uns derzeit aus Japan, aus Libyen, aus anderen Krisenherden der Welt erreichen? Ich muss bekennen, dass die Fülle des Elends und menschlicher Hilflosigkeit, von Medien hautnah vermittelt, mich bedrückt. Natürlich - wir sollen und können helfen. Wir können mitfühlen. Wir können uns auch aufregen, empören, Konsequenzen fordern. Aber die aufwühlenden Bilder bleiben. Ich kann sie nicht einfach wegstecken.

Ich weiß, dass es anderen ähnlich geht. Es gibt Dinge, die man nicht so einfach ausblendet, abschaltet, auf Kommando vergisst - und dann zur Tagesordnung übergeht. Erst kürzlich hörte ich wieder von einem Selbstmord. Einer hat über zwei Jahrzehnte ganz für sich allein die Not herumgeschleppt, früher einmal als MfS-Zuträger gepresst worden zu sein. Er brachte es nicht fertig, mit anderen darüber zu reden. Er hatte keinen Ort, wo er seine Lebensschuld abladen konnte. Er war mitten in unserer geschäftigen Welt schrecklich allein.

Es gibt Nöte und Lasten, die drücken schwer. Eine bedrohliche Krankheit, eine zerbrochene Beziehung, eigene oder fremde Schuld mit ihren unaufhebbaren Folgen. Da hilft keine Behörde, kein Psychologe, keine Ablenkung oder Zerstreuung. Da hilft nur: Abladen können bei jemanden, der mehr als ein vertrauter Mensch tragen kann, was mir zu schwer wird.

Wir nähern uns den Passionstagen, an denen wir in Gottesdiensten und Passionsmusiken an das Leiden und Sterben Jesu denken. In der Liturgie bekennen wir von Jesus Christus: Er trägt die Schuld der Welt. Wie ein Lastträger, der im Begriff ist, eine große Bürde aufzuheben, so nimmt er das auf, was ich bei ihm ablade.

Ich gebe zu: Das ist ein Bild, das dennoch eine unfassbare Wahrheit zum Ausdruck bringt. Gott trägt, was mir zu schwer ist zum Tragen. Er trägt sogar ein verkorkstes Leben. Er übernimmt meine Lebensschulden. Er lässt mich dort nicht allein, wo alle - Angehörige, Freunde, Ärzte - einmal zurückbleiben müssen.

Das Sterben anderer erinnert mich an den Weg, den auch ich gehen werde. Jeder Tag, der vergeht, führt mich diesem letzten Loslassen-Müssen näher. Soll ich das verdrängen? Hilft Ablenkung und Geschäftigkeit? Oder soll ich gar das Leben wegwerfen, weil alle Fluchtwege versperrt sind?

"Wirf deine Sorge auf den Herrn, er hält dich aufrecht!" So betet der Psalmist (55,23). Als Christ habe ich einen Ort, wo ich abladen kann - fremde und eigene Not: im Gebet vor Gott. Auf ihn werfe ich, was mir zu schwer wird. Vor dem Kreuz meines Herrn fällt mir das nicht schwer.


Erschienen am 2. April 2011