In der Haltung des Guten Hirten gewirkt

Predigt von Karl Kardinal Lehmann beim

Elisabethempfang anlässlich der Verabschiedung von Bischof Dr.

Joachim Wanke

Predigttext: Lk 19,1-10 (Jesus und der

Zöllner Zachäus)

Zachäus ist

zunächst eine Randfigur der Evangelien. Von dem Oberzöllner Zachäus ist ohnehin

nur im Evangelium des Lukas die Rede, ganz abgesehen, dass im Alten Testament

an einer einzigen Stelle der Name Zachäus vorkommt (vgl. 2 Makk 10,19). Der

Evangelist Lukas beschreibt ihn ausführlicher. Er wohnte in Jericho, durch das

Jesus ging. Zachäus war der oberste Zollpächter, Steuereinnehmer, er war ein

reicher Mann. Die Zöllner waren beim Volk verhasst, weil sie als Pächter für

die römische Besatzungsmacht die indirekten Abgaben (Zölle) eintrieben. Dabei

gingen sie oft rücksichtslos und richtig erpresserisch vor, weil sie sich das

den Römern im Voraus entrichtete Geld ohne große Hemmungen zurückholten. Lukas

verwendet im Mund des Zachäus dafür ein kräftiges Wort und spricht regelrecht

von "Abpressen" (19,8). So werden den Zöllnern allgemein Habgier und

ungerechte Geschäftspraktiken zugeschrieben (vgl. 3,12f.). Sie sind deshalb

verhasst und werden verachtet. Außerdem gelten die Zöllner wegen ihres

Kontaktes mit den Heiden besonders den Pharisäern als unrein und somit als

Sünder. Der Oberzöllner Zachäus hatte möglicherweise mehrere Zollstellen

gepachtet und war dadurch zu seinem besonderen Reichtum gekommen. So entsteht

ein großer Zwiespalt: Er ist ein reicher Mann und hat eine gute Stellung, aber

er gehört zu den sozial Deklassierten. Ein gesetzestreuer Jude gibt sich nicht

mit einem Zöllner ab. Dieser Zwiespalt ist im Evangelium wichtig.

Dieser Zachäus

hat von Jesus gehört. Er möchte ihn dringend sehen. Dieses Interesse ist

vielleicht zu einem guten Teil von Neugier bestimmt. Aber dafür nimmt er manche

Mühen in Kauf, um Jesus zu Gesicht zu bekommen. Irgendetwas treibt ihn doch

herum, "wer (denn) dieser Jesus sei" (3). So etwas wie eine innere

Sehnsucht treibt ihn irgendwo an. Die vielen Menschen lassen ihm keinen Platz

und versperren ihm die Sicht, "denn er war klein" (3). Zachäus ist

jedoch erfinderisch. Er läuft dem Zug voraus. In der Zeit, die er dadurch

gewonnen hat, steigt er auf einen relativ bequem zu erkletternden

Maulbeerfeigenbaum, "um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen musste"

(4). Es ist ein geschickter Schachzug, denn in den Zweigen des Baumes kann sich

Zachäus gut verstecken. Er selber sieht gut, kann sich aber auch in den Ästen

etwas verbergen. So bleibt er auch in einer gewissen Distanz.

Da dreht sich die

ganze Geschichte (5). Zachäus sucht aus welchen Motiven immer Jesus. Aber nun

entdeckt Jesus Zachäus auf dem Baum und ruft ihn an. Deshalb spricht man mit

Recht von dieser Erzählung als einer "Suchgeschichte": Zachäus sucht

Jesus, aber Jesus sucht auch Zachäus. Jesus hat ihn wirklich als konkreten

einzelnen Menschen im Blick. Deshalb ruft er ihn mit seinem Namen an. Jesus

holt Zachäus aus seinem Versteck im Baum und lädt sich selbst bei ihm zu Gaste:

"Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muss heute in deinem Haus zu Gast

sein." (5) Jesus hat sich auch sonst im Unterschied zum Verhalten vieler

Menschen von Zöllnern zum Mahl einladen lassen (vgl. 5,27-32; 15,2). Gott hat

auch die Zöllner nicht abgeschrieben. Die Tischgemeinschaft deutet schon an,

dass auch sie zur Gemeinschaft mit Gott gerufen sind. Dies wird noch deutlicher

werden.

In der Erzählung

ist nun die Reaktion der Menschen wichtig. Dabei geht es nicht nur um die

Kritik weniger oder einer Gruppe, wie der Pharisäer. Mehrfach ist von einer "Menschenmenge"

(3), ja von "den Leuten" (7), d.h. von allen die Rede. Sie empörten

sich und murrten: "Er ist bei einem Sünder eingekehrt:" (7) Sie

stehen unübersehbar mit Protest zwischen dem Zöllner und Jesus.

Nun geht alles

sehr schnell. Jesus sagt: Zachäus komm schnell

herunter! Unmittelbar danach heißt es: "Da stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf." Zachäus

achtet nicht auf das Gerede der Leute. Auch Jesus lässt sich durch das Urteil

der Menge nicht von seinem Vorhaben abbringen, selbst wenn er sich den Unwillen

der Leute zuzieht. Jesus weist die Härte der Menschen ab. Hinter dem raschen

Handeln beider steht so etwas wie ein höheres Drängen, fast schon ein

göttlicher Ansporn zum baldigen Handeln. Ohne Umschweife kehrt Zachäus von

seinem bisherigen Weg um. Rasch erklärt er Jesus, dass er sich seiner ethischen

Verantwortung bewusst ist: "Herr - er nennt ihn also ganz bewusst ‚Kyrios‘

-, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von

jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück." (8)

Jetzt wird diese

Geschichte in einzigartiger Weise geradezu spannend. Zachäus wird ja kein

Jünger, wie andere, die alles aufgeben und ihm nachfolgen. Er behält

offensichtlich auch sein Eigentum, selbst wenn er zum Teilen bereit ist. Der

Wunsch des Zachäus, Jesus zu sehen, wird mehr als erfüllt. Es ist von Freude

die Rede. Er findet zu tatkräftiger Umkehr. Zachäus wird durch Jesus Rettung

zuteil: "Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser

Mann ein Sohn Abrahams ist." (9) Kurz vorher hatte Jesus ja noch einem der

führenden Männer gesagt, er solle alles verkaufen. Dieser war auch sehr reich.

Dazu Jesus: "Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das

Reich Gottes zu kommen!" (18,24) Und die Leute sagten: "Wer kann dann

noch gerettet werden?" (18,26). Aber Jesus bleibt im Blick auf Zachäus bei

seinem Wort: "Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden." (9) Heute - jetzt ist es real möglich. 

Zachäus steht

hier nicht allein. Dies gilt gerade heute. Es gibt viele Suchende, Zweifelnde,

Abständige, Distanzierte, ja vielleicht sogar solche, die sich für Atheisten

halten. Wir haben oft ein fertiges Urteil über sie. Jesus verurteilt sie nicht.

Er lässt sie suchen. Er entdeckt sie, auch wenn sie sich verstecken. Ihre

Wahrheit ist mit dem, wie sie sich selbst bisher einschätzen und wofür sie von

anderen gehalten werden, noch nicht zu Ende. Gott hat Zeit mit uns Menschen. Er

hat viel mehr Geduld, als wir ahnen. Der Weg kann weit sein. Niemand ist ganz

verloren. Auch Hindernisse lassen sich überwinden: Zachäus muss auf einen Baum

steigen; er ist in seiner kleinen Gestalt benachteiligt; die Menschen murren.

Aber da ist einer, der alle sucht, der für den Einzelnen - gerade wenn er von

anderen verachtet wird - Zeit hat. Mit ihm kann man ein neues Leben beginnen,

auch wenn es belastet ist. Auch die Heiden im Vorhof des Tempels haben eine

Chance. Es ist wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn, wo der Vater sagt: "Denn

mein Sohn war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden

worden." (vgl. 15,24.32)

Man hat diese

Erzählung, die vieles aus dem Lukasevangelium zu einem Höhepunkt bringt, das "Evangelium

der Ausgestoßenen" genannt (vgl. auch 5,27-32). Es wird durch den

programmatischen Satz Jesu am Ende der Erzählung auf einen Höhepunkt gebracht: "Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu

suchen und zu retten, was verloren ist." (10; vgl. 5,32; Mt 9,13; Mk

2,17) So können wir auch verstehen, warum diese für den ersten Anschein

nebensächliche Randfigur Zachäus eine große Rolle spielen kann und dass er in

der christlichen Bildgeschichte auf den Sakrophagen, den Evangeliaren und auch

in Fresken oft dargestellt worden ist. Luther sieht in ihm den Menschen als "simul

iustus et peccator", als gerecht und Sünder zugleich.

Dieses Evangelium

entspricht in ganz besonderer Weise dem Leben und Wirken des Bischofs Joachim

Wanke. Als Schüler und Nachfolger des großen Exegeten Heinrich Schürmann hat er

sich in der Schriftauslegung besonders dem Lukasevangelium gewidmet, aber auch

sein gesamter pastoraler Einsatz ist von dieser Haltung des Guten Hirten

geprägt. Er wusste dieses Evangelium ganz besonders unter den Bedingungen des

kirchlichen Lebens in kommunistischer Zeit zu verkündigen und auszulegen. Dabei

hat die recht verstandene missionarische Perspektive im Sinne einer Einladung

an alle einen zentralen Ort inne. Dies hat er nach der deutschen Einigung immer

wieder auch in unsere nun gesamtdeutsche Bischofskonferenz eingebracht,

besonders als langjähriger Vorsitzender der Pastoralkommission. So wollen wir

Bischof Dr. Joachim Wanke für den über 30 Jahre währenden Dienst als ein

Bischof, der in diesem Sinne das Evangelium Jesu Christi verkündete, ein

herzliches Vergelt´s Gott sagen und für die Zukunft Gottes Segen erbitten. Amen.


Predigt gehalten im

Wortgottesdienst beim Elisabethempfang am 20.11.2012 im Rahmen der politischen

und gesellschaftlichen Öffentlichkeit des Freistaates Thüringen anlässlich der Verabschiedung

von Bischof Dr. Joachim Wanke in St. Nicolai und Jacobi (Schottenkirche), Erfurt.

Die in Klammern gesetzten

Zahlen beziehen sich auf die jeweiligen Verse im o.g. Predigttext.

20.11.2012