"Elisabeth will uns in Bewegung bringen"

Predigt von Bischof Wanke zur Eröffnung des Elisabeth-Jahres im Bistum Erfurt


Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,


Barmherzigkeit hat heute kaum Konjunktur. Das Schlüsselwort des heutigen gesellschaftlichen Grundgefühls lautet: Gerechtigkeit. "Ich muss mir meine Rechte einfordern!" "Das steht mir zu!" Oder auch in der Variante: "Keiner darf diskriminiert werden!" Wir haben heute Gleichstellungsbeauftragte, sogar ein Gleichstellungsgesetz. Ich bedaure heute schon die Richter, die nach Maßgabe von Paragraphen beurteilen müssen, ob jemand diskriminiert worden ist oder nicht.


Nichts gegen Gesetze. Es ist schon gut, wenn die Grundrechte der Menschen, der Behinderten z. B. oder der Kinder gesichert werden. Es ist gut, wenn man sich auch vor Gerichten gegen Willkür und Benachteiligungen wehren kann.


Aber jeder Einsichtige wird zugeben: Allein durch Paragraphen wird unsere Welt nicht menschlicher. Neben der Gerechtigkeit braucht es das Erbarmen, braucht es die Liebe, die dem Nächsten einfach gut sein will - auch wenn dafür keine Belohnung ausgesetzt ist und keine Strafandrohung dies erzwingt. Wie kostbar Erbarmen ist, kann jeder für sich am ehesten durchbuchstabieren, wenn er sich vorstellt, einem unbarmherzigen Menschen ausgeliefert zu sein. Gegen Unbarmherzigkeit helfen in der Regel keine Gesetze und keine Paragraphen. Gegen Unbarmherzigkeit hilft nur eine Umkehr im Herzen.


Es ist gut, dass wir die Heiligen haben. "Elisabeth bewegt!" Das haben wir als großes Motto über das heute beginnende Elisabeth-Jahr unseres Bistums geschrieben. Ich freue mich sehr, dass auch die evangelischen Christen Thüringens auf vielfältige Weise die große Heilige der ungeteilten Christenheit zusammen mit uns ehren werden. Das ökumenische Glockenläuten von allen Thüringer Kirchtürmen herab heute Abend ist ein Zeichen dieser gemeinsamen Freude.


Der 800. Geburtstag der hl. Elisabeth, unserer Bistumspatronin, soll nicht nur ein historisches Gedenken bleiben. Elisabeth soll uns in Bewegung bringen. Wir brauchen auch heute etwas von dem Geist ihrer starken Gottes- und Nächstenliebe, damit es hell und menschlich bleibt in der Welt, freundlich und - eben - barmherzig.


Als ich in der vergangenen Woche zusammen mit Weihbischof Reinhard dem Heiligen Vater begegnen durfte, erzählte ich ihm vom Elisabeth-Jahr im Bistum. Er freute sich, von den Aktivitäten zu hören, die wir planen und wünschte allem ein gutes Gelingen. Und dann sagte er im Blick auf unser Elisabethjahr ein Wort, das ich euch gern weitergeben möchte: "Gesichter sind wichtiger als Worte!" Und das meint: Ihr, jeder Einzelne von Euch ist wichtiger als noch so viele schöne Predigten, Reden oder Ausstellungen über Elisabeth.


Elisabeth hat das gleiche Evangelium gehört, das uns heute verkündet wird: Gott ist die Liebe, sagt uns Johannes, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott. Und Matthäus ruft in unsere so geschäftige, vom Geld und den Aktienkursen beherrschten Gesellschaft hinein: Wer den Kleinen und Geringen dient, der dient Christus. Das hat Elisabeth bewegt. Diese Botschaft hat sie sich zu Herzen genommen. Jesu Lebensvorbild wird der Maßstab sein, nach dem unser aller Leben einmal bewertet werden wird. Und da werden manche Große sehr klein aussehen, und manche Kleine, etwa jene, die ehrenamtlich in der Suppenküche mitarbeiten oder Stationsgottesdienste halten oder Kranke besuchen oder alte Eltern pflegen - sie werden groß dastehen.


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Barmherzigkeit hat in den unterschiedlichen Zeiten immer auch eine unterschiedliche Ausprägung gehabt. In einer Welt ohne Bestattungsinstitute war es ein Werk der Barmherzigkeit, Tote zu begraben. Aus einem Werk der Barmherzigkeit wurde später dann eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit. Inzwischen - angesichts der hohen Preise für eine Beerdigung - ist es schon wieder ein Werk der Barmherzigkeit, auch Hartz-IV Empfängern ein würdiges und erschwingliches Begräbnis zu ermöglichen.


Ohne Zweifel bleiben die klassischen sieben Werke der Barmherzigkeit zeitlos in Geltung: etwa Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Tote bestatten, oder die sieben geistigen Werke der Barmherzigkeit wie belehren, raten, trösten und zurechtweisen.


Doch die Gestalt der Barmherzigkeit wandelt sich. Wie könnte Barmherzigkeit heute aussehen, in einer Gesellschaft, in der soziale Absicherung und Fürsorge weithin vom Staat garantiert werden?


Ich habe einmal im Vorfeld des heutigen Tages Menschen befragen lassen, was sie heute unter Barmherzigkeit verstehen. Gemeindemitglieder, Caritasmitarbeiter, Diakone haben Leute befragt, die sich in einer Notsituation befinden. Die Frage lautete: "Welches Werk der Barmherzigkeit wäre aus ihrer Sicht heute besonders notwendig?" Es kamen interessante und bedenkenswerte Antworten, für die ich an dieser Stelle herzlich danke - denen, die sich als Fragesteller zur Verfügung gestellt haben, aber auch besonders jenen, die auf diese Fragen geantwortet haben. Die Antworten sind eingeflossen in die Formulierung von sieben Werken der Barmherzigkeit für Thüringen heute. Die Formulierung dieser sieben Werke der Barmherzigkeit stammt nicht von mir. Sie ist ein Gemeinschaftswerk - und darum sind diese sieben Werke heutiger Barmherzigkeit für mich besonders wertvoll und überzeugend.


Am Beginn des Elisabethjahres möchte ich diese, aus dem Empfinden unserer Gegenwart heraus formulierten Werke dem ganzen Bistum vorstellen, sie gleichsam für das nun anbrechende Elisabethjahr proklamieren. Also - sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute:



1. Einem Menschen sagen: Du gehörst dazu.


Was unsere Gesellschaft oft kalt und unbarmherzig macht, ist die Tatsache, dass in ihr Menschen an den Rand gedrückt werden: die Arbeitslosen, die Ungeborenen, die psychisch Kranken, die Ausländer usw. Das Signal, auf welche Weise auch immer ausgesendet: "Du bist kein Außenseiter!" "Du gehörst zu uns!" - z. B. auch zu unserer Pfarrgemeinde - das ist ein sehr aktuelles Werk der Barmherzigkeit.



2. Ich höre dir zu.


Eine oft gehörte und geäußerte Bitte lautet: "Hab doch einmal etwas Zeit für mich!"; "Ich bin so allein!"; "Niemand hört mir zu!" Die Hektik des modernen Lebens, die Ökonomisierung von Pflege und Sozialleistungen zwingt zu möglichst schnellem und effektivem Handeln. Es fehlt oft - gegen den Willen der Hilfeleistenden - die Zeit, einem anderen einfach einmal zuzuhören. Zeit haben, zuhören können - ein Werk der Barmherzigkeit, paradoxerweise gerade im Zeitalter technisch perfekter, hochmoderner Kommunikation so dringlich wie nie zuvor!



3. Ich rede gut über dich.


Jeder hat das schon selbst erfahren: In einem Gespräch, einer Sitzung, einer Besprechung - da gibt es Leute, die zunächst einmal das Gute und Positive am anderen, an einem Sachverhalt, an einer Herausforderung sehen. Natürlich: Man muss auch manchmal den Finger auf Wunden legen, Kritik üben und Widerstand anmelden. Was heute freilich oft fehlt, ist die Hochschätzung des anderen, ein grundsätzliches Wohlwollen für ihn und seine Anliegen und die Achtung seiner Person. Gut über den anderen reden - ob nicht auch Kirchenkritiker manchmal barmherziger sein könnten?



4. Ich gehe ein Stück mit dir.


Vielen ist mit einem guten Rat allein nicht geholfen. Es bedarf in der komplizierten Welt von heute oft einer Anfangshilfe, gleichsam eines Mitgehens der ersten Schritte, bis der andere Mut und Kraft hat, allein weiterzugehen. Das Signal dieses Werkes der Barmherzigkeit lautet: "Du schaffst das! Komm, ich helfe dir beim Anfangen!" Unsere Sozialarbeiter der Caritas wissen, wovon ich rede.


Aber es geht hier nicht nur um soziale Hilfestellung. Es geht um Menschen, bei denen vielleicht der Wunsch da ist, Gott zu suchen. Sie brauchen Menschen, die ihnen Rede und Antwort stehen und die ein Stück des möglichen Glaubensweges mit ihnen mitgehen.



5. Ich teile mit dir.


Es wird auch in Zukunft keine vollkommene Gerechtigkeit auf Erden geben. Es braucht Hilfe für jene, die sich selbst nicht helfen können. Das Teilen von Geld und Gaben, von Möglichkeiten und Chancen wird in einer Welt noch so perfekter Fürsorge notwendig bleiben. Ebenso gewinnt die alte Spruchweisheit gerade angesichts wachsender gesellschaftlicher Anonymität neues Gewicht: "Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude!"



6. Ich besuche dich.


Meine Erfahrung ist: Den anderen in seinem Zuhause aufsuchen ist besser, als darauf warten, dass er zu mir kommt. Der Besuch schafft Gemeinschaft. Er holt den anderen dort ab, wo er sich sicher und stark fühlt. Die Besuchskultur in unseren Pfarrgemeinden ist sehr kostbar. Lassen wir sie nicht abreißen! Gehen wir auch auf jene zu, die nicht zu uns gehören. Sie gehören Gott, das sollte uns genügen.



7. Ich bete für dich.


Wer für andere betet, schaut auf sie mit anderen Augen. Er begegnet ihnen anders. Auch Nichtchristen sind dankbar, wenn für sie gebetet wird. Ein Ort in der Stadt, im Dorf, wo regelmäßig und stellvertretend alle Bewohner in das fürbittende Gebet eingeschlossen werden, die Lebenden und die Toten - das ist ein Segen. Sag es als Mutter, als Vater deinem Kind: Ich bete für dich! Tun wir es füreinander, gerade dort, wo es Spannungen gibt, wo Beziehungen brüchig werden, wo Worte nichts mehr ausrichten. Gottes Barmherzigkeit ist größer als unsere Ratlosigkeit und Trauer.



Liebe Schwestern und Brüder!

Sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute! Sieben Angebote, sich sehr konkret auf den Geist und die Gesinnung der hl. Elisabeth einzulassen. Sie finden diese sieben Werke heutiger Barmherzigkeit auf einem Leporello, das jeder Gottesdienstbesucher am Ende des Gottesdienstes mitnehmen kann. Ich verstehe diese Werke der Barmherzigkeit als einen Anspruch an uns katholische Christen, zugleich aber auch als eine Einladung an alle Thüringer, gemeinsam unserem Freistaat ein "menschlicheres Gesicht" zu geben.


Heute beginnt der Weg der Elisabeth-Figur durch die Gemeinden unseres Bistums. Ein leerer Korb wird heute allen Gemeinden des Bistums übergeben. Er ist eine Einladung an uns, ihn mit unseren Gebetsanliegen zu füllen, die wir auf die Fürsprache unserer Bistumspatronin Gott vortragen möchten, aber auch ihn mit vielen konkreten Taten der Barmherzigkeit zu füllen - um den gefüllten Korb dann im nächsten Jahr zur großen Elisabeth-Feier bei der Bistumswallfahrt an den Stufen des Mariendomes niederzulegen.


Das ist heute mein inniger Wunsch: Mögen viele im Elisabeth-Land Thüringen auf diese Weise barmherziger - und wir alle miteinander froher werden! Amen.



St. Marien-Dom zu Erfurt, 18. November 2006