Pilatus' Urteil

Predigt von Bischof Ulrich Neymeyr am Palmsonntag, 5. April 2020

Bild: Foto: Friedbert Simon / Künstler: Polykarp Ühlein; In: Pfarrbriefservice.de

Am Palmsonntag wird selten gepredigt. Mit der Leidensgeschichte wird ein langes Stück aus dem Evangelium verkündet, das meist die Predigt verdrängt. Da die Berichte von der Passion Christi im Zusammenhang überliefert wurden und nicht wie die übrigen Teile der Evangelien als kleine Erzähleinheiten, ist es mehr als berechtigt, zum Beginn der Karwoche einen Bericht vom Leiden Christi im Zusammenhang zu verkünden. Am Karfreitag wird immer die Johannespassion gelesen, am Palmsonntag im jährlichen Wechsel die Leidensgeschichte aus den Evangelien des Matthäus, Markus und Lukas. In diesem Jahr haben wir die Matthäuspassion gehört (Mt 26,14-27,66).

Im Wesentlichen stimmen die Passionsberichte überein, es gibt aber auch in jedem Evangelium Notizen, die nur dort überliefert sind. Im Matthäusevangelium ist es der Satz: „Während Pilatus auf dem Richterstuhl saß, sandte seine Frau zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten! Ich habe heute seinetwegen im Traum viel gelitten.“ (Mt 27,19) Vielleicht haben Sie noch die Formulierung der alten Einheitsübersetzung im Ohr: „Lass die Hände von diesem Mann, er ist unschuldig. Ich hatte seinetwegen heute Nacht einen schrecklichen Traum.“ (Mt 7,19) Die neue Übersetzung gibt den griechischen Urtext getreuer wieder. Matthäus dürfte mit Absicht geschrieben haben, dass Jesus ein Gerechter ist und er dürfte mit Absicht die Formulierung gewählt haben, dass die Frau im Traum viel gelitten hat. Damit wird diese Szene mit der ganzen Dramatik der Passion des Gottessohnes verknüpft.

Es ist erstaunlich, was aus diesem einen Vers des Matthäusevangeliums geworden ist. Die Ehefrau des Präfekten von Judäa, Samaria und Idumäa, Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.), wurde erstmals in einigen Versionen des apokryphen Nikodemusevangeliums als Procula bezeichnet. Im 17. Jahrhundert wird der Vorname Claudia hinzugefügt. Origenes hielt sie bereits in der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts wegen ihres Leidens für „gerettet“ und „selig“. Später wurde Claudia Procula in der griechischen Kirche als Christin betrachtet und zur Heiligen erhoben. Ihr Gedenktag im griechisch-orthodoxen Heilgenkalender ist der 27. Oktober.

Weitaus erstaunlicher als diese Traditionen ist es, wie sehr diese kurze Notiz aus dem Matthäusevangelium Künstler inspiriert hat. Es gibt zahllose Bilder der Claudia Procula. Die Literatur und der Film befassen sich mit ihrer Person, ihrem Traum und ihrem weiteren Schicksal. Gertrud von Le Fort hat 1955 eine Novelle geschrieben mit dem Titel „Die Frau des Pilatus“. Die Novelle ist als Brief geschrieben: Eine Frau namens Praxedis gibt in einem fiktiven Brief einen Bericht über das Leben ihrer geliebten Herrin Claudia Procula. Die Geschehnisse setzen mit dem Traum Claudias ein: Nach einer erfüllten Liebesnacht dämmert Claudia noch einmal leicht ein, Pilatus selbst ist am Morgen schon aufgestanden und zur Verhandlung gegangen. Schreckensbleich erwacht sie nach dem Traumgesicht, das sie durch unbekannte Zeiten und bis dahin ungesehene Tempelarten führte, begleitet von dem Ausruf: 'Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben'. Als sie den Lärm der Straße hört und Praxides ihr sagt, dass dies die Leute sind, die zur anstehenden Gerichtsverhandlung kommen, schickt sie ihre vertraute Dienerin zu ihrem Mann und lässt ihn davor warnen, Jesus zu verurteilen. Zurück in Rom begibt sich Claudia auf die Suche nach einer spirituellen Heimat, doch jeder Glaube, dem sie anzuhängen versucht, enttäuscht sie. Dann wird sie eines Tages von einer Wahrsagerin in das ärmste Viertel der Stadt geschickt und hört dort im Gebet die seinerzeit im Traum gehörten Worte: Gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben. In dieser Gemeinschaft findet sie ihren Glauben und ihren Halt. In der einsetzenden neronischen Christenverfolgung begegnen die Christen ihr aber ablehnend, weil sie zwar an den Gottesdiensten teilnimmt, aber nie um die Taufe gebeten hat. In einem Brief teilt sie Praxedis ihren neuerlichen Traum mit, der dem ersten gleicht: Wieder durchschreitet sie die sakralen Bauten, die aber inzwischen zerfallen sind, und es erscheint Jesus auf dem Richterstuhl des Pilatus, über den er diesmal Gericht hält. Jesus gibt sich ihr als der zu erkennen, den sie immer gesucht habe. Denn „dem Erbarmen Christi kann niemand entrinnen“. Später muss Pilatus im Zirkus miterleben, wie Claudia Procula zusammen mit anderen Christen in den Tod geschickt wird.

Der Inhalt des Traums der Frau des Pontius Pilatus' ist in dieser Novelle der Gertrud von Le Fort das Glaubensbekenntnis der Christen, das für alle Zeiten das krasse Fehlurteil gegen Jesus mit dem Namen des Pontius Pilatus verbindet. Es hat unendliche viele Fehlurteile in der Geschichte der Justiz gegeben, aber keines bleibt so lange und so weitverbreitet mit dem Namen des Richters verbunden. Pontius Pilatus wird nachweislich seit dem dritten Jahrhundert im Glaubensbekenntnis der Christen erwähnt. Allerdings wurde Pontius Pilatus nicht deswegen im Glaubensbekenntnis erwähnt, um ihn für alle Zeiten anzuklagen, sondern um das Passionsgeschehen historisch zu verorten.

Dennoch ist es eine bleibende Mahnung für alle, die für andere Menschen Verantwortung haben. Der Evangelist Matthäus ist auch der einzige Evangelist, der vom Versuch des Pilatus berichtet, diese Verantwortung abzuwälzen: Er ließ „Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache!“ (Mt 27,24)

In dem Film „Jesus Christ Superstar“ von Norman Jewison (1973) färbt sich das Wasser, mit dem sich Pontius Pilatus die Hände wäscht, rot.
Die im Glaubensbekenntnis der Christen festgehaltene Verantwortlichkeit des Römers Pontius Pilatus für das Todesurteil gegen Jesus Christus hätte verhindern müssen, dass jemals die Schuld am Kreuzestod Jesu den Juden zugeschrieben wird, weder den damals Verantwortlichen des jüdischen Volkes noch allen damals lebenden Juden und erst recht nicht später lebenden Juden.

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