Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Liebe Wallfahrer!
Sind wir schon ein Volk - aus Ost und West? In gewissem Sinn: Ja! Die Grenzen sind gefallen, die Züge halten nicht mehr in Gerstungen und Propstzella - und keiner fragt mehr den anderen, wann er endlich „westreif" ist, sprich: das Rentenalter erreicht hat.
Aber man kann auch sagen: Wir sind noch längst nicht ein Volk. Es gibt noch verborgene Gräben und Mauern zwischen uns Deutschen, die darauf warten, zugefüllt und abgetragen zu werden: soziales Gefälle, Prägung durch die Vergangenheit, Unterschiede im Denken, in der Mentalität, in der Sprache - und nicht zuletzt die Empfindlichkeit, einander zur Last zu sein: „Wir müssen für Euch im Osten nur ständig zahlen!" - Und umgekehrt: „Ihr aus dem Westen macht Euch hier breit und verdient noch an uns!" - und wie die Sprüche alle heißen.
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn, es ist gut, daß wir auch sagen dürfen: Wir sind Sein Volk, das Volk des Herrn! Unter uns sind Mitchristen aus den alten Bundesländern, die hier arbeiten und leben. Es ist gut, daß Ihr hier seid, auch hier beim Gottesdienst, beim Kirchentag - und ich grüße Euch alle ausdrücklich! Denn so wird deutlich Wir sind hier nicht geteilt in Deutsche aus Ost und West; wir sind nicht geteilt in Arbeitnehmer und Arbeitgeber, in Männer und Frauen, Junge und Alte, in rot, schwarz, grün oder gelb Wählende - über alle diese Differenzierungen hinaus sind wir Volk Gottes - Ihm, dem Herrn gehörig, von Ihm „gerufen und gesandt"!
Vorgestern lernte ich in Hildesheim beim Katholischen Kongreß den Leiter der Europa-Schule in Sarajevo kennen. Über 1000 Schüler hat dieses katholische Schulzentrum: eine Grundschule, ein Gymnasium, eine Krankenpflegeschule. Vormittags werden in den wenigen renovierten Räumen die Kleinen unterrichtet, nachmittags die Älteren: katholische Kroaten, orthodoxe Serben und muslimische Bosnijaken. Ein Hoffnungszeichen in einer Wüste des Hasses und der Zerstörung! Hoffnung für ein
geschundenes Land, in dem verantwortungslose Führer die Vöker und die einzelnen Menschen gegeneinander hetzen - bis heute. Der Geist Christi bewirkt Einheit und Versöhnung.
Noch einmal: Es ist gut, daß wir sagen dürfen: Wir sind Sein Volk! Trotz aller Unterschiede und Spannungen, die es auch unter uns gibt, dürfen wir bekennen: Unser katholischer, unser christlicher Glaube macht uns wirklich zu Geschwistern, mehr als die Angleichung im Lebensstandard oder die Tatsache, daß wir jetzt auch nach Spanien in den Urlaub fahren können. Wir sind als Glaubende stärker miteinander verbunden, als Blut, Kultur und Geschichte oder materieller Wohlstand das bewirken
könnten: Wir gehören dem Herrn!
Hat diese Aussage unseres Glaubens Folgen? Ich möchte Euch sagen, was dieser Satz: Wir sind Sein Volk - bei mir als Bischof bewirkt.
1. Dieser Satz gibt mir Hoffnung.
Er läßt mich mit meinen Ängsten besser umgehen. Auch Bischöfe haben Ängste. Sie kommen, wenn ich in die Gemeinden schaue und die Pfarrer frage: Wo sind denn die Kinder beim Gottesdienst? Wieviele Geburten, wieviele Taufen habt Ihr im letzten Jahr gehabt? (Gottlob - es wird langsam wieder besser!). Oder wenn ich frage: Trifft sich denn die Jugend noch im Pfarrheim - oder mußt Du zur Disco gehen, um Deine Jugendlichen zu sehen? Oder wenn ich frage: Bedeutet den jungen Leuten das Ja-Wort vor dem Traualtar noch etwas - oder leben sie zusammen wie Mann und Frau, ohne nach Gottes Gebot oder der Ordnung der Kirche zu fragen? Oder wenn ich frage: Zeigt denn der Beichtstuhl Spuren von Abnutzung - oder wartest Du dort umsonst, weil angeblich keiner mehr sündigt?
Da steigen in mir doch manchmal Ängste hoch: Was ist mit unserem Gottesvolk los? Oder wenn ich nach geistlichen Berufungen Ausschau halte: Wo sind die jungen Leute, die bereit sind, ehelos und verfügbar zu leben - frei für Gott und zum Dienst an Seinem Volk? Ich spüre: Viele wollen heute nur noch sich selber bedienen - und verfehlen oft so ihr wahres Glück, ihre wahre Berufung.
Also: Gründe zum Ängstigen sicher zuhauf! Und dennoch darf ich sagen: Herr, es ist Dein Volk! Dir gehört es! - Mir erzählte einmal jemand, wie er von einem Beamten, bei dem er sich über eine neue staatliche Anordnung beschwerte, angefaucht wurde: „Regen Sie sich nicht auf - Sie haben ja schließlich die Wende gewollt!" (Das war sicher einer von der alten Sorte!). Aber - das sage ich jetzt auch manchmal im Gebet zum Herrn: „Du hast ja schließlich die Wende gewollt!" - Und dann rege ich mich nicht auf. Ja, sicher, ich muß mahnen und warnen und zu Buße und Umkehr einladen. Und ich weiß, Ihr gläubigen Eltern tut dies auch - aber Ihr fühlt Euch oft so machtlos gegenüber den Trends der Zeit. Und so steigt manchmal in unseren eigenen Herzen der Zweifel hoch: Liegen wir eigentlich mit unseren Vorstellungen von einem christlichen Leben noch richtig? Müßte sich die Kirche nicht doch mehr dem
Zeitgeist anpassen?
Liebe Schwestern und Brüder im Herrn! Ja, manchmal kann einem schon angst werden - und dann soll uns diese Gewißheit Mut machen: Gott führt Sein Volk. Nicht unsere hohe Moral macht uns zu Gottes Volk, nicht unsere Tugendhaftigkeit, sondern allein Sein Erbarmen, Seine Gnade. In der Bibel steht: Gott kann aus Steinen Kinder Abrahams machen. Wenn das gilt, warum kann er dann nicht aus uns und unseren Kindern, aus Wendegeschädigten, von der Werbung manipulierten und von allen
möglichen Glückserwartungen gejagten Thüringern Kinder Gottes machen!
Meine Hoffnung für das Volk Gottes und für jene, die es werden sollen, ist unerschütterlich, weil ich weiß: Gott sitzt beim Menschen am längeren Hebel. Seiner Führung kann sich kein Mensch entziehen.
2. Wir sind Gottes Volk - dieser Satz gibt mir Grund zum Danken.
Warum? Er läßt mich aufmerksam sein für das, was Gott unter uns bewirkt. Er macht mich gleichsam neugierig auf das, was sich Gott einfallen läßt, um Seinem Volk auf die Sprünge zu helfen.
Sein größter „Einfall" in jüngster Zeit war sicherlich die „Wende". Frische Zugluft ist in unsere Gemeinden gekommen. Für manche zu frisch! Unser Christsein ist auf den Prüfstand gestellt. Wir durch den Sozialismus abgehärtete Christen sollen nun zeigen, daß unser Glaube sich auch in der liberalen westlichen Luft bewähren kann.
Und ich sehe, daß dies gelingt, daß wir zumindest uns darum mühen.
Laßt mich ein Beispiel nennen. Am letzten Sonntag bin ich im Eichsfeld der großen Gemeinde der Gehörlosen begegnet (viele von ihnen sind jetzt unter uns!). Als Hörender kann ich nur entfernt ahnen, welche Not die Behinderung des Nicht-hören-Könnens bedeutet. Ich staune und freue mich, wenn ich sehe, wie die Gehörlosen ihr Leben dennoch tapfer annehmen und - nicht zuletzt - neue Möglichkeiten, die es heute gibt, sinnvoll gebrauchen und sich auch im Alltag gegenseitig beistehen.
Nichts zu spüren von Resignation oder Wehleidigkeit! Hier bewähren sich Menschen, weil ihnen der Glaube dazu Kraft gibt.
Diese Bewährung, diese tapfere Annahme des Lebens geschieht tausendfach in unserer Mitte, in unseren Familien, im Leben der Alleinstehenden, der Kranken, der Behinderten. Wo Solidarität zerredet oder gar lächerlich gemacht wird, sehe ich die Kräfte der Solidarität, des Zusammenhaltens trotz aller Schwierigkeiten in unserer Mitte wachsen. Ich danke allen, die sich dafür einsetzen. Besonders danke ich einmal Euch, Ihr Frauen und Mütter, auf denen heute viele Lasten liegen. Die Sorge um die Kinder, der Mann oft über Gebühr beruflich beansprucht, Ihr selbst vielleicht trotz hoher Qualifizierung arbeitslos - und dennoch verliert Ihr nicht den Mut, gebt Eurer Familie Halt, tragt auch in der Gemeinde mit, eventuell noch in anderen Aufgaben, und laßt Euch nicht unterkriegen.
Ich sehe den Einsatz so vieler Frauen und Männer in Caritas und Diakonie, in den Pflegeberufen, in der Erziehung der Jugend, in Politik und Wirtschaft. Nein - es stimmt nicht, daß alle nur an sich denken. Gewiß, es gibt Egoismus und Raffgier - aber es gibt noch mehr Kräfte des Zusammenhalts, durchhaltende Hilfsbereitschaft, Lebenstapferkeit, die auch mit Widrigkeiten fertig wird. Das alles läßt Gott in Seinem Volk wachsen. Erinnern wir uns: Gerade weil das alte System uns zu Atheisten machen wollte, haben wir den Reichtum unseres Glaubens neu schätzen gelernt.
Könnte es heute nicht ähnlich sein: Gerade weil der Mammon sich so brutal aufdrängt, zeigt er, daß er ein Götze ist. Es soll unser Stolz sein, vor ihm nicht das Knie zu beugen - so wie wir damals nicht das Knie gebeugt haben. Ihr Priester und Ihr Frauen und Männer in der Seelsorge, ich danke Euch für Euren Dienst, den Gläubigen Mut zu machen zum Leben - weil Ihr ihnen Gott zeigt, die Quelle des Lebens. Entfernt Euch nicht von den Sorgen der Menschen. Ein bewährtes Rezept in der Seelsorge bleibt: Treppen steigen und Klinken putzen!
Ich danke den Ordensleuten unter uns: denen, die schon über Jahre und Jahrzehnte unter uns weilen, und jene, die in jüngster Zeit hierher nach Thüringen gekommen sind, wie z.B. die Karmelschwestern in Weimar. Ihre redet nicht nur über die Liebe Christi, sondern bezeugt sie durch Euer Leben und Euren Dienst. Manch andere erfreuliche Zeichen für Gottes Wirken unter uns sehe ich. Und wenn ich einige Gruppen (beileibe nicht alle) erwähne, spüre ich, daß auch heute Gott im seinem Volk am Werk ist: Die Diakonatshelfer. Männer und Frauen, die die Seelsorger beim Zusammenhalt der Gemeinden unterstützen; die Frauen, die in der Glaubensunterweisung der Kinder mithelfen; die Religionslehrer, die sich mutig dem immer noch atheistischen Trend in unserer Gesellschaft entgegenstemmen und dafür Prügel beziehen und Frust aushalten müssen; die christlichen Journalisten Medienleute. Politiker, die Flagge zeigen, wenn es um Werte und Gewissensüberzeugungen geht.
Und nicht zuletzt: Es gibt das Zusammenwachsen der Christen aus den verschiedenen Kirchen zu immer größerer Gemeinsamkeit des Glaubens, des Betens, des Handelns. Auch hier gilt: Je größer die Bedrängnis und der Gegenwind, desto fester das Stehvermögen und der Zusammenhalt! Die gemeinsamen Elemente von Evangelischem Kirchentag und katholischer Bistumswallfahrt heute sind für mich Grund zum Dank: Wir sind zwar noch nicht miteinander „verheiratet";, aber vielleicht schon
„verlobt", d.h. Wir können und wollen nicht mehr voneinander lassen, weil unser Herr uns drängt, Sein einig Volk zu sein, auch wenn die einen mehr in dieser und die anderen mehr in jener Ecke seines Schafstalls stehen - aber es ist derselbe Hirte!
Liebe Wallfahrer, liebe Mitchristen aus der Ökumene!
Wir sind Gottes Volk - berufen und gesandt! Dieser Satz gibt mir Hoffnung und macht mich dankbar.
Er macht mich
3. auch selbstbewußt!
Beim Einkauf achten wir heutzutage sehr auf Qualität. Das Billigste ist nicht immer das Beste - das haben wir schnell gelernt. Ist das nicht auch so mit dem christlichen Glauben? Wenn der Glaube billig wird, wird Kirche bald auf dem Ramsch-Markt landen: Für jeden etwas, der Rest wird entsorgt!
Wenn ich Euch heute vor mir sehe, denke ich: Gott braucht in Thüringen Qualitätschristen, auch im Eichsfeld! Und er hat sie auch! Wir sollten stärker davon überzeugt sein, daß wir als Christen für dieses Land unentbehrlich sind. Wo soll denn Solidarität, Versöhnungswille, Hoffnung und Lebenstapferkeit herkommen - wenn nicht von Euch? Wer soll denn Kindern Werte und Grundhaltungen mitgeben, die
auch morgen tragen - wenn nicht Christen? In unserem Land, in dem so manche sich auf den EGO-Trip machen und feste Bindungen scheuen - was braucht es da notwendiger als Familien, die zusammenhalten, und Menschen, die andere verläßlich stützen können - also Euch?
Ich wünsche uns Christen, unseren Kirchen ein größeres Selbstbewußtsein - ein demütiges gewiß, weil wir um unsere Schwächen wissen -, aber dennoch die echte Gewißheit, daß nichts so wichtig ist wie Salz in der Suppe, wie ein Licht in der Dunkelheit, also: Daß heute Christen gefragt sind, die „würzen" und „Geschmack geben" und die „ein Lichtblick sind" - dem Nächsten und allen Menschen.
So sagt der Herr: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt". Ich denke manchmal: Wenn der Herr allwissend ist, dann hat er sich bei dieser Wahl über uns keine Illusionen gemacht. Und dennoch fügt er hinzu: „Und ich habe euch bestimmt, daß ihr euch aufmacht und Frucht bringt und daß eure Frucht bleibt.";
Nichts braucht dieses Land, diese unsere Zeit dringlicher als diese Früchte, die das Evangelium reifen läßt. Darum: Bleibt und werdet immer mehr Gottes Volk! Amen.