Auch diese Predigt möchte ich, wie bei der Männerwallfahrt im Klüschen Hagis, mit einem herzlichen Dank beginnen: dem Dank, den mir der Heilige Vater nach seinem Besuch im September eigens in einem persönlichen Brief übermittelt hat. Darin bedankt er sich bei allen, die diesen Besuch durch ihre Mithilfe und Dienste ermöglicht und begleitet haben, aber vor allem dankt er Euch, die Ihr den Papst so freundlich und herzlich und vor allem: in so großer Zahl in Erfurt und Etzelsbach begrüßt habt! Diesen Dank möchte ich gern weitergeben, auch als meinen ganz persönlichen Dank. In der Tat - dieser Besuch war ein Geschenk für unser Bistum, und ich hoffe und bete, dass noch lange gute geistliche Wirkungen davon ausgehen.
Auch unser heutiges Beten und Singen erinnert uns an unsere geistliche Berufung, wie es in einem der Hochgebete der hl. Messe heißt: "Wir danken dir, dass du uns berufen hast, vor dir zu stehen und dir zu dienen."
Wir haben eine Berufung - zum prophetischen Dienst! Als ich das Leitwort unserer Wallfahrt, das mir der Vorbereitungskreis der Frauen vorschlug, zum ersten Mal hörte, habe ich mich ein wenig gewundert: Du bist Prophetin! Ob das wohl richtig verstanden wird?
Das Wort Prophet hat heute einen etwas angestaubten Charakter. Irgendwie denken viele Zeitgenossen doch an Wahrsagerei, Pendelschwingen oder Kartenlegen. Das ist zwar durchaus wieder "in" - aber für uns Christen gehört das zum Bereich des Aberglaubens, es ist vielleicht ein wenig unterhaltsam und amüsant, aber letztlich belanglos. Vor allem hat das nichts mit dem altehrwürdigen Wort Prophet zu tun, wenn wir etwa an die Propheten Jeremia oder an Jesaja denken mit ihrer gewaltigen Botschaft.
Oder ist mit Prophetin so etwas gemeint wie eine Zukunftsforscherin? Auch das ist heute ein sehr verbreitetes Metier. Fachleute für Zukunftsforschung sind in Talkshows, auf Kongressen und Parteitagen sehr gefragt. Jetzt gerade beim Katholikentag in Mannheim saß ich mit einem Experten für Zukunftsfragen zusammen, einem klugen Professor, der genau wusste, wie die Menschen morgen leben werden.
Wir sind uns einig - darum kann es hier nicht gehen. Ein Prophet im christlichen Sinn ist kein Futurologe, sondern einer, der Durchblick hat für die Gegenwart. Ein Prophet, eine Prophetin hat etwas über das Hier und Heute zu sagen - und über das, was Gottes heiliger Wille für das Jetzt ist, damit wir vor Gott ein gutes Morgen haben.
Wie heißt es in dem ansprechenden Gedicht von Jacqeline Keune, das Sie in den Händen halten?
"Wir brauchen welche,
die nicht hinnehmen,
die nicht wegsehen,
die nicht ausweichen
und mit Engelsflügeln schlagen.
Wir brauchen welche,
die sich dem Himmel hinhalten.
Die sich dem Wind überlassen,
die sich der Erde anvertrauen
und mit zärtlichen Fingern das Gras kämmen."
Vielleicht darf man so sagen: Wir brauchen Menschen mit Durchblick, die mehr sehen, als man gewöhnlich sieht. Wir brauchen Menschen, die das Ganze nicht aus den Augen verlieren und sich nicht in Details verlieben, mögen diese noch so interessant oder faszinierend sein. Wir brauchen Frauen und Männer, die mit dem Herzen hören und - mit den Worten der Dichterin - "die Trost flüstern und die Welt erwärmen". Kurz: Wir brauchen Propheten.
Und nun die Zumutung dieses Wallfahrtswortes: Du bist Prophetin! Da werden wir spontan sagen: Da muss wohl ein Irrtum vorliegen. Ja: Nelson Mandela, Martin Luther King, Mutter Teresa oder andere tapfere Frauen und Männer, die in der Welt von heute Großes bewirken, Frieden stiften, zur Barmherzigkeit anhalten und zu Gewaltfreiheit Mut machen - das mögen Propheten, Prophetinnen sein. Aber ich - eine unbedeutende Frau, die kaum einer kennt, die keine Macht und keinen Einfluss hat und die Mühe hat, mit sich, ihrer Familie, mit ihrer Arbeit und allen übrigen Verpflichtungen zurande zu kommen?
Ja, dennoch! Ich glaube: so hat das die Vorbereitungsrunde der Frauen gemeint. Ja - gerade du bist eine Prophetin.
Vielleicht braucht es, um dazu innerlich Ja zu sagen, eine Entdeckung, ich sage einmal: eine dreifache Entdeckung. Wir müssen entdecken:
- Ich kann mehr, als ich meine.
- Ich bedeute anderen mehr, als ich vermute.
- Ich vermag Großes, weil Gott mich stark macht.
Ich kann mehr als ich meine
Das gibt es: Eine Frau entdeckt, dass sie Talent zum Malen hat - und bereitet sich und anderen dadurch Freude. Da merkt eine, dass sie öffentlich auftreten kann, in einem Frauenverband tätig wird und so anderen Mut macht, aus dem Schneckenhaus ihres Lebens herauszukommen. Da entdeckt jemand, dass sie nicht nur ihre Familie gut führen kann, sondern auch ein Bürgermeisteramt. Und siehe da: Sie wird gewählt und sogar wiedergewählt.
Ihr spürt, was ich meine: Keinem ist in die Wiege gelegt, welche seiner Talente und Gaben im Leben zur Geltung kommen werden. Nicht jeder, dessen Eltern Musiker sind, muss musikalisch sein - auch Goethes Sohn ist literarisch nicht sonderlich aufgefallen. Aber es gibt genügend Beispiele, übrigens auch in politischen Biographien, wie etwa Frauen dank ihrer Gaben und Talente - und zugegebenermaßen: auch durch glückliche Umstände - zu höchsten Staatsämtern gelangen. Übrigens soll das ab und zu auch in der Kirche passieren, auch wenn ein Bischof keine Ministerposten zu vergeben hat. Aber - und das geschieht im Bistum Erfurt - die Finanzen eines Bistums mit Sachverstand und Geschick beisammenzuhalten? Oder die Leitlinien der Pastoral in einer Ortskirche mitzubestimmen und umzusetzen? Oder einem Bildungshaus, einem Familienzentrum vorzustehen und Leitungsaufgaben auszuüben - ist das etwa nichts?
Noch einmal: Man muss entdecken, was an Gaben und Begabungen in einem steckt. Manchmal muss man sich auch durch andere dazu ermuntern lassen. Bischof Hugo Aufderbeck pflegte zu sagen: Keiner kann alles, aber jeder kann etwas. Und eben auf dieses Etwas kommt es an - gerade heute, gerade in der Kirche. Du kannst mehr als Du meinst.
Ich bedeute anderen mehr, als ich vermute
Manchmal bekommt man das erst beim Abschied aus dem Berufsleben gesagt, oder bei einem Jubiläum: Dankbare, lobende Worte, die einen erstaunen - wenn sie denn ehrlich gemeint sind. Aber das spürt man schon. Zwar denkt man dann im Stillen: Das hätten sie mir auch mal eher sagen können! Aber es freut einen dennoch.
Du bedeutest anderen mehr als du vermutest! Manchmal sehe ich, wie alte Eltern von ihren Kindern liebevoll umsorgt werden. Das freut mich immer sehr. Die jungen Leute, selbst in Arbeit oder im Alltagsstress stehend, finden Zeit für die Eltern, die Tante, den Nachbarn. Sie schauen nach ihnen, helfen ihnen bei der Bewältigung des Alters und lassen sie spüren: Du bist nicht allein. Und manchmal höre ich von den jungen Leuten: Nein, unsere Mutter, unsere Eltern lassen wir nicht im Stich. Die haben so viel für uns getan - da wollen wir ihnen wenigstens etwas von ihrer Sorge und Liebe zurückgeben. Das ist wunderbar und berührt mich tief.
Und das mag nicht nur in den Familien gelten. Manchmal ist es lästig, manchmal möchte man es vielleicht sogar abschütteln: dass man für andere zum Halt wird, zum Maßstab, zum Vorbild. Es ist von Gott wohl so gewollt: "Der eine lebt vom anderen, für sich kann keiner sein", wie wir in einem Eucharistielied singen. So wie Christus, der Herr, uns zum Vorbild wird, dürfen wir es auch füreinander werden.
Es ist gut so, dass wir im Guten uns gegenseitig Halt sein dürfen, manchmal wie ein Baum, an den sich andere anlehnen, gerade wenn es stürmt und Gewitterwolken ins Leben hereindringen. Jeder wird an bestimmte Menschen denken, die ihm solch ein Halt im Leben und im Glauben geworden sind oder noch sind. Ob die das immer wissen?
Vielleicht bist Du schon Prophetin in diesem Sinn, ohne es zu merken. Vielleicht entzündet Deine Treue andere, in Treue zueinander zu stehen. Vielleicht hast Du einer jungen Frau geholfen, das werdende Leben anzunehmen. Vielleicht ist Dein Glaube, von dem Du meinst, er sei so schwach und kümmerlich, für andere eine Ermutigung, auch in ihrer Schwäche und Unsicherheit an Gott und der religiösen Praxis festzuhalten.
Ich will nicht verschweigen: Es ist manchmal unbequem, gegen den Trend anzutreten. Das mussten die Propheten aller Zeiten erfahren. Jesus selbst, unser Herr, erregte Anstoß, als er den Menschen in Nazareth, seiner Heimatstadt ihren Unglauben vorhielt. Ich nehme wieder ein Beispiel für ein prophetisches Zeugnis heute: dass es ein junges Paar wagt, gegen den Trend der Zeit die ersten Jahre bei seinem Kind zu bleiben und auf manches zu verzichten. Es weiß, was diese frühe Bindung und Prägung des Kindes für dessen späteres Leben bedeutet, dass es nämlich ein Urvertrauen ins Leben entwickeln und selbst beziehungsfähig werden kann. Darum: Lasst euch in eurer Entscheidung zu einem solchen prophetischen Verhalten nicht irremachen. Schaut auf euer Kind und folgt dem, was euch euer Herz sagt.
Ihr spürt: Echte prophetische Rede, echtes prophetisches Verhalten erfordert Mut. Es muss manchmal sogar mit Spott und Häme rechnen. Umso wichtiger, dass es prophetische Menschen gibt. Ihr Zeugnis zeigt seine Echtheit darin, dass es zur Umkehr ruft, dass es "auferbaut", dass es das Leben stärkt, zum Guten Mut macht, dass es Früchte des heiligen Geistes wachsen lässt, dass es versöhnt, tröstet und heilt, die Hoffnung stärkt und in anderen Kräfte zu einem neuen Beginn wachsen lässt. Wo ein Prophet am Werk ist, wächst die Liebe, die Liebe zum Nächsten und zu Gott. Überlege einmal, wo Du in dieser Weise schon längst prophetisches Zeugnis gibst, ohne es zu merken. - Und diese dritte Entdeckung mag uns dabei Kraft und Zuversicht geben:
Ich vermag Großes, weil Gott mich stark macht.
So hat es jedenfalls Maria gesehen, die im Magnifikat singt: "Großes hat an mir getan, der mächtig ist. Heilig ist sein Name."
Nein, liebe Frauen, meine Predigt zur Frauenwallfahrt ist genauso klar und fordernd wie die zur Männerwallfahrt. Ich bin der Meinung, dass manchmal von euch Frauen sogar Größeres verlangt wird als von den Männern: Die Männer beginnen - aber ihr haltet durch. Die Männer machen viel Lärm - aber ihr geht still ans Werk und bewirkt, dass es gelingt. Die Männer heften sich die Orden und Auszeichnungen an ihre Brust - und ihr erhaltet höchstens Dank fürs Kuchenbacken, Kaffee-Einschenken oder den Kirchenputz. Da fällt es nämlich auf, wenn´s nicht passiert.
Im Übrigen aber wird vieles, was ihr leistet und vollbringt, als Selbstverständlichkeit angesehen, etwa die Kinder erziehen, nebenbei sich um die Oma kümmern und noch ein zweites Gehalt nach Hause bringen. Und ich denke da auch ausdrücklich an die Dienste der Alleinstehenden, die sich nicht ins Private zurückziehen und es sich dort gemütlich machen, sondern sich für andere einsetzen, für die Ehrenamtsarbeit und sich im Dienst der Gemeinde die Hacken ablaufen. So manche von euch könnten dem Apostel Paulus den Stoßseufzer nachsprechen, den er angesichts seiner apostolischen Arbeit und Mühen uns überlieferte: "Wer leidet unter seiner Schwachheit, ohne dass ich mit ihm leide? Wer kommt zu Fall, ohne dass ich von Sorge verzehrt werde" (2 Kor 11,29)?
Es ist kein Geheimnis, oftmals lastet gerade auf euch Frauen und Müttern die größere Lebenslast, weil euer Herz die Schwachheit anderer, das Versagen des Mannes und die Last mit Kindern, die aus der Spur geraten, mitträgt. Und da sind die verborgenen Lasten, die man nach außen hin nicht merkt, oft die drückendsten.
Und Ihr, die ihr euch für andere einsetzt, in der Gemeinde, in der Kommune, als Helferinnen in der Caritas, die ihr zu den Kranken und Sterbenden geht: Ihr erlebt konkret bei euren Besuchen, was es alles an Elend und Leid gibt, was da in den Familien und Häusern los ist - und ihr tragt es mit, im Herzen, im Gebet..
Darum ist diese Erfahrung, die Maria machen durfte, besonders wichtig und befreiend: Nicht, weil ich stark bin, kann ich alles bewältigen, sondern weil er, Gott, der Herr, an mir Großes tut, bin ich stark. Das Bild der Pietà, der schmerzhaften Mutter, das uns Papst Benedikt so einfühlsam in Etzelsbach beschrieben hat, wird nicht umsonst in unseren Kirchen und Wallfahrtsorten von den Leidträgern auch unserer Zeit besonders verehrt.
Wir werden auch in unserem unausgesprochenen Leid von Maria verstanden - und von dem, der als der für uns Dahingegebene in ihrem Schoß ruht. Kann dieses prophetische Zeugnis Deines Herzens, das oftmals auch von einem Schwert durchbohrt ist, anderen zum Segen werden? Wie heißt es in dem eingangs erwähnten Gedicht?
"Wir brauchen welche,
die ihre Häuser öffnen,
die ihre Tische teilen,
die ihre Ohren leihen
und sich in den Schlaf beten."
Unsere Welt braucht Prophetinnen und Propheten. Unsere Kirche braucht sie. Du bist dazu eingeladen.
Ob es vielleicht doch stimmt:
- Ich kann mehr, als ich meine;
- Ich bedeute anderen mehr, als ich vermute;
- Ich vermag Großes, weil Gott mich stark macht.
Gott helfe uns, unseren prophetischen Auftrag zu erkennen und ihm zu entsprechen. Amen.
Predigt gehalten am Sonntag, 20. Mai 2012.