Die Ereignisse in der Welt respektieren Weihnachten nicht. Kriege und Hungersnöte gehen weiter, Gewalttaten und Verbrechen hören in dieser Zeit nicht auf. So sind auch dieses Jahr wieder die Nachrichten von Ereignissen überschattet, die unseren weihnachtlichen Gefühlen nicht entsprechen: die Aufdeckung von Morden an ausländischen Mitbürgern aus rechtsradikaler ideologischer Verblendung; blindwütige Attacken gegen Mitmenschen, wahllos als Zielscheibe gewählt, wie in Norwegen oder jüngst Lüttich.
Weihnachten kommt offensichtlich nicht dadurch zustande, dass auf einmal alle Menschen friedlich werden. Vielleicht ist es umgekehrt: Wir brauchen Weihnachten, um dem Frieden, dem inneren und dem äußeren Frieden in der Welt und in unserem Leben wieder eine Chance zu geben. Mit meinem Gruß an alle Menschen in unserem Thüringer Land verbinde ich die Bitte, sich in den kommenden Tagen der Weihnacht wieder neu der Botschaft dieses Festes zu öffnen.
Das kann auf unterschiedlichen Wegen geschehen.
Zum einen: Angesichts der zunehmenden wirtschaftlichen Vermarktung des Weihnachtsfestes und seiner Reduzierung auf Kaufen und Schenken sollten wir die Souveränität aufbringen, uns der kommerziellen Verflachung des Festes zu entziehen. Der Mut zur Einfachheit und zum Verzicht inmitten eines Überangebots an Waren ist erfreulicherweise am Wachsen. Immer mehr Zeitgenossen erkennen: Man muss sich im Leben Ziele über Konsum und Verbrauch hinaus setzen, sonst verarmt man menschlich. Gerade die jungen Leute lade ich ein, die weihnachtlichen Tage und den Jahreswechsel so zu feiern, dass am Ende nicht nur ein Gefühl der Leere und "der große Kater" zurückbleiben.
Zum anderen: Ich lade ein, ein neues Verständnis für den kirchlichen Gottesdienst zu gewinnen und dessen Fähigkeit, uns "im Ewigen" zu verankern. Die Gottesdienste in unseren Kirchen wollen helfen, der Feier des Weihnachtsfestes echte Tiefe zu geben und wirklich zu einer geistlichen Besinnung in der Hektik und Mühsal des Alltags zu kommen.
Bei all dem müssen Erholung und Geselligkeit nicht zu kurz kommen. Die weihnachtliche Festkultur lebt vom zwecklosen Feiern. Die freien Tage laden ein, sich schönen und erfreulichen Dingen zuzuwenden, dem Erleben der Natur, der sportlichen Betätigung, der Pflege eines Hobbys, zu dem im Gedränge des Alltags sonst wenig Zeit bleibt. Wichtig ist, dass die weihnachtlichen Tage uns helfen, aus äußerer und innerer Einsamkeit herauszukommen.
Immer wieder hören unsere Seelsorger die Klage: "Herr Pfarrer, ich bin so oft allein. Ich fühle mich schrecklich einsam. Keiner schaut nach mir!" Es ist erfreulich, dass gerade die weihnachtlichen Tage vielen ein Anlass sind, manche Verbindung familiärer, nachbarschaftlicher oder freundschaftlicher Art wieder zu stärken oder gar neu zu beleben.
Zu meinen weihnachtlichen Grunderfahrungen gehört von den Tagen der Kindheit an: Nicht dass wir viele Dinge haben, macht uns reich, sondern dass wir einander haben.
Diese Erfahrung verknüpfen wir Christen mit dem weihnachtlichen Festgeheimnis: Gott selbst hat uns aus unserer Isolierung und Einsamkeit herausgeholt. Er ist ein Gott der Gemeinschaft. Er ist und schafft Leben in Beziehungen. Denn nur in der Begegnung miteinander und in der Begegnung mit Gott finden wir die "Fülle" eines Lebens, nach dem wir uns im tiefsten Herzen sehnen.
Von Frère Roger, dem Gründer der Kommunität Taizé in Frankreich - derzeit sind viele Tausende Jugendliche der Taizé-Bewegung über die Jahreswende in Berlin versammelt - stammt das Wort: "Als Gott nicht mehr wusste, wie er sich uns anders verständlich machen sollte, wurde er ein Kind." Ein Kind kann gar nicht leben ohne Beziehung. Es schreit nach Zuwendung, Liebe und Solidarität. Wehe uns, wenn die Kinder in unserer Gesellschaft nur noch als Kostenfaktor gesehen werden. Gottlob, das ist nicht so. Aber wird es immer so bleiben?
Weihnachten ist wieder ein Angebot an uns alle. Diese Festtage können uns helfen, den wahren Reichtum unseres Lebens neu zu entdecken: Ich muss nicht allein bleiben. Ich habe Freunde. Ich bin angenommen - bei Menschen und von Gott, meinem Schöpfer.
Allen Menschen in unserem Land, den Familien und den Alleinstehenden, den jungen Leuten und den Senioren, den Gesunden und den Kranken, den Frommen und den weniger Frommen ein gesegnetes und frohes Weihnachten, verbunden mit der Bitte um Gottes Segen für ein gutes und glückliches neues Jahr 2012!
Bischof Joachim Wanke