"Was kein Mensch kann, kann Gott"

Predigt von Bischof Joachim Wanke am Ostersonntag im Erfurter St. Marien-Dom


Bischof Joachim Wanke
Predigt von Bischof Joachim Wanke am Ostersonntag im Erfurter St. Marien-Dom

Es gehört zum routinierten Blick jeder einkaufenden Hausfrau: Bevor sie ein Produkt aus dem Regal in der Kaufhalle in ihren Einkaufswagen legt, schaut sie noch schnell auf das Verfallsdatum. Zu alt darf eine Ware nicht sein, besonders bei Lebensmitteln. Da gilt es schon sicherheitshalber genau hinzuschauen. Haltbar bis wann? Ein ordentliches Geschäft, eine solide Lebensmittelkette sorgt sicher selbst dafür, dass nur frische Ware im Angebot ist. Aber - man kann ja nie wissen!


Alles hat sein Verfallsdatum. Neuerdings wird man ja sogar dafür prämiert, wenn man ein durchaus noch brauchbares Auto vorzeitig verschrottet. Die Möbelhändler sind schon neidisch. Warum nur Autos? Hätten sie nicht auch schöne neue Sofas und Schränke zu verkaufen? Warum da keine Prämie? Ja - so geht es eben in der Welt zu. Verbrauchen und Konsumieren ist alles. Ob uns wirklich das retten kann, was uns in die Finanzmisere hereingeritten hat?


Mit unserem Leben freilich halten wir es anders. Wenn da der Arzt vorsichtig den Patienten fragt: Wissen Sie eigentlich, wie alt Sie sind? Da ist man etwas indigniert. 80 Jahre... Das ist doch kein Alter. Noch längst nicht das Verfallsdatum erreicht! Herr Doktor, setzen Sie mir doch bitte noch einige Ersatzteile ein - es soll doch noch möglichst lange weitergehen.


Es mag vermutlich manchen nichtchristlichen Thüringer verwundert haben, in diesem Jahr in der Osterbotschaft des katholischen Bischofs zu lesen: Bischof glaubt nicht an Verlängerung des Lebens über den Tod hinaus. Gehört das nicht zum christlichen Glauben? Wie kann dann ein Bischof so etwas sagen?


In der Tat: An eine Verlängerung des irdischen Lebens über den Tod hinaus glaube ich nicht. Darin bin ich mit vielen meiner Thüringer Landsleute, wie ich jüngst einer Befragung entnahm, einig. Auch unser irdisches Leben hat sein Verfallsdatum, mag auch ärztliche Kunst es mehr und mehr hinausschieben. Woran ich freilich glaube - und das ist Inhalt des Osterfestes - , das ist ein neues, von Gott geschenktes Leben, ein Leben ohne Verfallsdatum.


Das kann freilich nicht von Medizinern oder von Genetikern hergestellt werden. Denn diese mögen menschliche Zellen auf Dauer vielleicht haltbarer und widerstandsfähiger gegen Krankheiten machen (was übrigens durchaus begrüßenswert ist), aber ein hinausgeschobener Verfall ist dennoch ein Verfall. Zudem, das merken wir beim Blick in unsere Altersheime und Pflegeeinrichtungen immer deutlicher: Der Preis für solch eine Verlängerung des irdischen Lebens ist hoch.


Das Osterfest, an dem die Christen die Auferstehung Jesu aus dem Grab feiern, hat nicht die Belebung eines Leichnams zum Inhalt. Für meine, von der alten materialistischen Weltanschauung geprägten Thüringer Landsleute habe ich es einmal so formuliert: Das Leben in Gott ist so etwas wie der nächste "dialektische Sprung" der belebten Materie in eine uns bisher unbekannte, höhere, völlig neue Daseinsweise. Ob eine Pflanze erahnen kann, was tierisches Leben bedeutet? Oder eine Fledermaus, wie es sich "anfühlt", ein Mensch zu sein? Eigentlich ist es eine Anmaßung des Menschen zu meinen, ausgerechnet bei ihm bleibe die Evolution stehen.


Mein etwas scherzhafter Vergleich hinkt natürlich. Denn alles irdische Sein, ob belebt oder unbelebt, hat sein Verfallsdatum, mögen es selbst die in Jahrmillionen entstehenden und für unendlich lange Zeiträume existierenden Sternensysteme im Weltall sein. Aber mein Vergleich lässt erahnen, worum es eigentlich bei der christlichen Osterhoffnung geht. Nicht das Alte und Bekannte soll verlängert werden. Es geht um einen Neuansatz Gottes in der Schöpfung.


"Ich glaube an das ewige Leben!" Damit bekennen wir uns nicht zu einem unendlich langen irdischen leben, mag dieser Gedanke noch so interessant und reizvoll sein. Es beflügelt immer wieder die Phantasie der Menschen, der Romanschreiber und Filmautoren: Die Idee der Unsterblichkeit, die Sehnsucht, den heilige Gral zu finden, das Lebenswasser, das den Tod für immer besiegen könnte. Selbst in unserer modernen Genforschung steckt dieses Verlangen. All das ist Ausdruck der in allen Kulturen und Religionen schlummernden Sehnsucht des menschlichen Herzens, so etwas wie den Tod nicht erleiden zu müssen.


Erfassen wir also wieder neu, was uns der christliche Glaube bekennen lässt: Die Auferstehung der Toten ist eine Schöpfungstat Gottes. Bei Jesus Christus, unserem Menschenbruder und Herrn, hat er den Anfang gemacht. Und was beim Herrn zum ersten Mal geschah, ist auch ein Anfang für andere, für mich, für uns.


Darum ist unser Osterbekenntnis nicht nur eine Aussage über das Geschick Jesu, des Gekreuzigten und Auferstandenen. Seine Auferstehung ist auch schon unsere Auferstehung, selbst wenn diese noch ein Ereignis der Zukunft ist. Aber gibt es das nicht: Ereignisse der Zukunft, die absolut sicher sind - so wie auch unser Sterben noch vor uns liegt und dennoch "todsicher" ist, wie wir sagen?


Darum sagt der Apostel im Kolosserbrief: In Christus und mit Ihm ist unsere neues Leben schon jetzt "verborgen in Gott" (Kol 3,3). Es ist dort "todsicher" verwahrt, bis wir einmal den Überschritt machen aus dem Irdischen in das Himmlische, aus den zeitlichen Wohnungen in die ewigen Wohnungen, aus dem Zelt auf Abbruch hin in das feste Haus, das wir in der Herrlichkeit Gottes bewohnen sollen.


Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

wir erleben derzeit wieder vermehrt ein öffentliches Nachdenken über Fragen des Glaubens und der Religion. Manchmal meldet sich sogar ein aggressiver Atheismus, der sich über das neue Selbstbewusstsein der Christen zu ärgern scheint. Das zeigt sich in manchen Leserbriefen in unseren Zeitungen, bei Talkshows und auch bei Büchern, die neu die Frage nach Gott, nach Glauben und Unglauben thematisieren. Ja, auch in manchen Alltagsgesprächen, selbst bei jungen Menschen ist das Gottesthema wieder aktuell.


Eigentlich sollten wir uns darüber freuen. Denn nichts ist schlimmer als eine oberflächliche Lebenspraxis, die gedankenlos vor sich hinlebt und die Quellen der eigenen Kultur versanden lässt.


In diesen Tagen musste ich im Rundfunk auf eine Hörerfrage antworten, die für die Abschaffung der christlichen Feiertage plädierte - mit dem Argument: Es würden doch mehr und mehr Menschen keinen Gebrauch vom Christentum machen - also sollte man doch das Himmelfahrtsfest zu einem Fest der Evolution umfunktionieren. Welch eine einmalige Gelegenheit für mich als Bischof, über die Bedeutung christlicher Feiertage auch in einer säkularen Gesellschaft zu sprechen! (Meine bayerischen Bischofskollegen wäre sicher etwas neidisch auf mich!)


Es ist nicht so, dass der Mensch mit seinen Fragen und seiner Sinnsuche nach Lebensglück und Lebenserfüllung vorschnell auf das rein Materielle fixiert werden kann. Die großen Lebensfragen melden sich immer wieder neu zu Wort. Vielleicht ist das sogar ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen, das ihn von allen anderen Lebewesen unterscheidet: Er fragt über sich hinaus.


Er fragt über sein Ende hinaus. Er gibt sich nicht zufrieden damit, dass mit dem Verschwinden des Leichnams alles aus ist. Er fragt nach den Toten. Muss eigentlich ein Toter "für mich" Bedeutung haben, um überhaupt noch Bedeutung zu haben? Wandert seine Sehnsucht, seine Liebe, seine Verantwortung , vielleicht auch seine Gemeinheit einfach ins Nichts? Braucht es mich, dass er "noch da ist" - oder gibt es einen anderen, auf den und für den er nun lebt?


Und wenn mit dem Tode alles aus ist, dann wird die Frage unausweichlich: Wofür leben wir dann? In unserer arbeitswütigen Welt gilt immer noch der Vers des Mephisto in Goethes Faust: "Was soll uns denn das ew?ge Schaffen! / Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!" Warum fragen wir überhaupt so penetrant nach Sinn? Die Warum-Frage war das am meisten zu lesende Wort damals in Erfurt nach dem Gutenberg-Massaker und jetzt nach dem Amoklauf in Winnenden.


Und schließlich: Ich verkenne nicht, dass ein Leben ohne Gott auch sinnvoll verstanden und gelebt werden kann. Das mag besonders dort möglich sein, wo alles im Leben einigermaßen glatt läuft. Aber dass Leben auch Sinn haben könnte, wenn kein Gott ist, wird mir fraglich, wenn ich an die denke, die nach kurzem leidvollen Kampf sterben müssen, ohne eigentlich gelebt zu haben. Kann es ohne eigene Schuld eine Verweigerung von Lebenserfüllung geben - und zwar definitiv?


Der Glaube hat die kühne Vision, dass Gottes Möglichkeiten noch nicht erschöpft sind, einen versöhnenden Ausgang der Schöpfung zu bewirken - auch an den Toten, und vor allem den schuldlos Getöteten. Gott übersieht nicht das Böse, aber er vermag Opfer und Täter neu zu schaffen, wie der Glaube bekennt und erhofft. Und das ist wahrhaft ein Glaube, bei dem es manchmal auch Zweifel geben kann, wenn es da nicht den Blick auf den gekreuzigten Jesus gäbe, in dem allein sich alles Leid dieser Welt - nicht erklärt, sondern auf den versöhnenden Gott hin auflöst. Was kein Mensch kann, kann Gott: Er vermag auch den Tod zu umfassen. Seine Vergebung von Schuld ist mehr als ein Verzeihen. Sie ist Neuschöpfung, die auch den Toten Gerechtigkeit schafft. Das ist der Inhalt unseres Osterglaubens.


Es ist interessant, dass naturalistische Welterklärungen meist die Frage der Schuld und des Todes nicht thematisieren. Aber vielleicht kommen auch manchmal dem Atheisten Zweifel an seinem Atheismus. Boethius, der spätantike Denker, fragt im Jahr 524 im Gefängnis vor seiner Hinrichtung: "Wenn Gott nicht ist, woher dann das Gute?" (De consolatione philosophiae 1,4). Alles menschliche Erbarmen, gerade angesichts einer erbarmungslosen Welt, zehrt von einem Urgrund, den es, manchmal unbemerkt, voraussetzt. Das merke ich auch bei vielen meiner nichtgetauften Thüringer Mitbürger. Gottlob.


Bei solchen Fragen fängt das an, was wir Glaube nennen. Er geht ein auf solche Fragen (nach dem Ende, dem Sinn, den Toten), die - wenn man sie nicht mit einem Denkverbot belegt - sich einfach aufdrängen. Und der Glaube an Gott gibt Antworten, mit denen man leben - und sterben kann.


Liebe Schwestern und Brüder im Herrn,

wer sich an Jesus Christus, den Auferstandenen hält, der traut Gott zu, dass er auch einmal bei jedem von uns den eigenen Lebenshunger stillen kann. Diese Osterhoffnung auf ein Leben ohne Verfallsdatum hilft mir, dem Leben zu trauen - auch dann, wenn es Kraft, Tapferkeit und Mut kostet. Amen.


Predigt gehalten am 12.4.2009

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