In den Tagen vor der Jahreswende sind Zeitungen und Fernsehen fleißig dabei, Rückblick zu halten. Das ganze Jahr in 90 Minuten, die bewegendsten Bilder, die wichtigsten Ereignisse und Namen! Erinnerungen steigen auf. Emotionen von damals werden wieder wach. "Ja, das war das Jahr! Und ich habe das alles miterlebt."
Manchmal mag es nützlich sein, auf bestimmte Ereignisse noch einmal einen "zweiten Blick" zu werfen. Aus der Distanz sieht man manches dann doch ein wenig anders. Man sieht, was daraus geworden ist - oder nicht geworden ist. Und man sieht manches, was man damals noch nicht gesehen hat!
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Für unsere Besinnung am Silvesterabend habe ich aus dem Markusevangelium eine Geschichte ausgesucht, die mit dem Sehen zu tun hat. Sie erzählt uns von Bartimäus, dem blinden Bettler am Wegrand vor Jericho. Seine Bitte an Jesus kann auch unsere Bitte werden: "Herr, ich möchte sehen können!"
Das ist eine Ursehnsucht des Menschen: Sehen können, Durchblick gewinnen, den Sinn eines Geschehens ergründen, wissen, wohin alles zielt. Man könnte die ganze Geschichte der Menschheit als eine solche Geschichte des Erkennen-Wollens beschreiben. Irgendwie sind wir alle blind auf diese Welt gekommen. Aber wir sind Blinde, die sich mit ihrer Blindheit nicht zufrieden geben.
Die großen Weisheitslehrer der Menschheit, die Philosophen, die Forscher und Entdecker, die Wissenschaftler aller couleur, die Mediziner und Pädagogen - ein gigantischer Weg in jeder neuen Generation, das Leben, die Welt zu verstehen und die Zukunft zu gestalten.
"Herr, ich möchte sehen können!" Es ist bemerkenswert in unserer Geschichte, dass vor dem eigentlichen Heilungsgeschehen von Bartimäus Erstaunliches berichtet wird. Die Umstehenden weisen ihn zurecht. Er solle still sein. Schreien gehöre sich nicht. Er möge sich gefälligst so verhalten wie immer: geduldig warten, dass ihm jemand ein Almosen gibt. Vor allem sollte er nicht vermessen - gegen alle Vernunft - hoffen, dass etwas Außergewöhnliches passieren würde.
Ich behaupte einmal: Der Mut des Bartimäus, die Konvention zu durchbrechen, diese alles Erwartbare überschreitende Hoffnung des Blinden, die ihn zu Jesus eilen lässt, gehört zum Kern dieser Geschichte. Unterstrichen wird das noch durch die an sich merkwürdige Frage Jesu: "Was soll ich dir tun?" Aber es scheint dem Erzähler wichtig, dass Bartimäus es ist, der das dem Herrn als Bitte vorträgt, was er zutiefst ersehnt: nicht eine materielle Gabe, nicht Kenntnisnahme seiner Person, nicht Beachtung seines Elends durch ein einfühlsames oder mitleidiges Wort - nein, dieser flehentliche Ruf: "Herr, ich möchte sehen können!" Der Blinde geht aufs Ganze - und er hat das Vertrauen, dass sein Glaube an Jesus ihm das Ganz- und Heil-Werden ermöglicht.
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Es braucht keine lange Erklärung: Auch wir sind eingebunden in mancherlei Zwänge äußerer und innerer Art. Wir wissen z.B.: Die weihnachtlichen Festtage sind schnell vorbei. Unsere Pflichten, Beruf und Arbeit werden uns bald wieder im Griff haben. Auch manches andere, Lebensumstände, Familienverhältnisse, die Sorge um den Arbeitsplatz, das tägliche Brot, auch die Realität einer Krankheit, einer Behinderung stellen Zwänge dar, an die wir ständig erinnert werden.
Aber es gibt auch unsichtbare, gleichsam unbemerkte Zwänge, denen wir ausgesetzt sind. Wir halten sie für normal, obgleich es selbst auferlegte Einschränkungen unseres Blickfeldes sind. Ich nenne als Beispiel einmal die Fixierung unseres gegenwärtigen Denkens - im persönlichen Bereich wie in den großen gesellschaftlichen Verhältnissen - auf das Ökonomische. Neben dem Wetterbericht ist das Auf und Ab der Börsenkurse der wichtigste Gradmesser gesellschaftlicher Befindlichkeit - so suggerieren es die täglichen Nachrichten.
Nicht, dass die dahinter stehende Wirklichkeit nicht wichtig wäre: Aber was mich manchmal erstaunt ist die Engführung unseres Lebens auf diese Wirklichkeit der Ökonomie allein.
Oder ich nenne die Engführung unseres Denkens auf die wissenschaftlich-technische Vernunft. Natürlich hängen von wissenschaftlichen Erkenntnissen und ihrer technischen Umsetzung Arbeitsplätze ab - aber, so möchte man fragen, wird uns eine immer höhere Produktivität die Frage beantworten, wie wir morgen leben wollen?
Manche nachdenkliche Philosophen und Soziologen unserer Zeit, und das sind durchaus nicht immer religiöse Denker, machen darauf aufmerksam, dass unser derzeitiges Denken sehr einseitig geworden ist. Es ist fixiert auf die Frage des Machens, des Herstellens von Dingen und von Wissen, aus denen man weitere Dinge und weiteres Wissen machen kann. Unsere Vernunft - so die Kritik - ist zu einer bloß instrumentellen Vernunft geworden.
Das ist eine merkwürdige Blindheit, die nicht mehr spürt, dass zur Vernunft und zu Vernünftigkeit auch z.B. die Frage gehört, ob bestimmte Entwicklungen überhaupt human und uns Menschen angemessen sind, ja ob sie überhaupt von uns gewollt sein sollten. Was macht eigentlich Lebensqualität aus? Was gehört zu einem guten Leben?
Wir perfektionieren das Wissen unserer Kinder und vergessen die Bedeutung der Herzensbildung. Wir denken über immer bessere Autos nach und vernachlässigen die Frage nach der Gerechtigkeit. Wir machen mit Hilfe einer gigantischen Gesundheitsindustrie unsere biologische Existenz immer vollkommener - und töten das Leben dort, wo es am wehrlosesten ist: am Anfang und am Ende. Und wer garantiert, dass nicht angesichts der Komplexität des heutigen Lebens wieder politische Demagogen auftreten, die Menschen mit ihren Schwarz-Weiß-Parolen verführen? Anzeichen dafür gibt es durchaus - trotz aller Beschwörung der Naziverbrechen und der Gräuel der Stalinzeit.
Mir kommt es manchmal vor, als sei die blitzgescheite Menschheit mit ihrem ungeheuren Expertenwissen mit "Blindheit", zumindest partieller "Blindheit" geschlagen.
Was kann helfen, solche Blindheiten des Denkens, des Urteilens und Handelns zu überwinden? Wir sollten die kritischen und nachdenklichen Stimmen hören, die es gottlob in der Welt gibt. Etwa die Stimmen, die uns daran erinnern, dass wir auf Kosten der Zukunft unserer Kinder leben. Es sind die Stimmen, die eine neue Bescheidenheit einfordern, eine Bescheidenheit gegenüber der Umwelt, den gewachsenen Ansprüchen und angeblichen Selbstverständlichkeiten. Es sind die Stimmen, die uns mahnen, auf das Leid so vieler Menschen und Völker zu schauen, eine leidempfindsame Vernunft zu entwickeln, die bei allen Fortschrittsplänen gleich angibt, zu wessen Kosten diese gehen werden. Und es sind die Stimmen, die sagen: Fordere von anderen nicht mehr als von dir selbst!
"Herr, ich möchte sehen können!" Es ist eine durchaus gefährliche Bitte, die wir da mit Bartimäus an den Herrn richten.
Ich bin dankbar, dass manche säkularen Denker heute wieder in neuer Weise positiv das Wissen würdigen, dass in der christlichen Religion für eine humane Gestaltung des Lebens und der Gesellschaft aufbewahrt ist. Natürlich weiß ich auch um die Ambivalenz des Religiösen, um seinen möglichen Missbrauch. Aber Missbrauch sagt noch nichts über den Wert einer Sache. Man kann mit dem Auto Sprengstoff für ein Selbstmordattentat transportieren - und man kann mit dem Auto zur Kirche fahren und dazu noch einen älteren Nachbarn mitnehmen.
Was uns unser Gottesglaube schenkt ist ein geweiteter Horizont des Denkens und Fragens. Der Glaube kann uns helfen, die ganze Wirklichkeit unseres Lebens und dieser Welt im Blick zu behalten. Er bewahrt uns vor manchen Blindheiten, in die uns der Zeitgeist hineintappen lässt.
Ich nenne einmal zwei Beispiele: Verbreitet ist heute eine Haltung, die alles, was einem begegnet, nur auf einen Aspekt, meist einen materiellen, naturalistischen Aspekt reduziert. Ich nenne das die Blindheit des Reduktionismus, der sich in der beliebten Floskel äußert: Dieses oder jenes ist nichts anderes als ... Gefühle etwa seien nichts anderes als Hormonausschüttungen, der Mensch nichts anderes als eine komplizierte Naturmaschine, die Familie nur eine Zwangsinstitution, Politik nur ein schmutziges Geschäft und Religion nur ein Ressentiment der Zu-kurz-Gekommenen. Wer mit solchen reduktionistischen Scheuklappen umherläuft, wird blind für das Ganze der Wirklichkeit.
Und die andere Blindheit, gegen die Christen instinktiv resistent sind, ist die Meinung, die wahre Zukunft liege im immer schnelleren technischen Fortschritt, in einem Wachstum um jeden Preis. Ich sage da manchmal: Auch Krebsgeschwüre sind Wachstumsphänomene. Es gilt kritisch zu bleiben gegenüber so vielem, was uns manchmal heutzutage als schnelle "Beglückung" angepriesen wird. Für meine Herztabletten bin ich durchaus dankbar. Das gebe ich gern zu. Aber was ich mit einem iPhone mit zig-Möglichkeiten aller Arten von unnötiger Kommunikation anfangen soll, weiß ich nicht so genau. Und solche "Unnötigkeiten" gibt es eine ganze Menge.
Ich plädiere dafür, dass wir Christen uns mit unserem vom Glauben an Gott sensibilisierten Verstand in das gesellschaftliche Gespräch um eine gute, humane und gerechte Zukunft unserer Gesellschaft viel stärker einmischen sollten. Das sollten wir nicht nur dem Papst in Rom und gelegentlichen Bischofspredigten überlassen. Besonders rufe ich unsere Jugend, die katholischen Verbände, den Katholikenrat und andere auf, die sich für das öffentliche Wohl mitverantwortlich fühlen. Ich denke dabei auch an unsere Künstler, Schriftsteller und Filmemacher. Was mich bei diesem Appell ermutigt: Wir haben in bestimmten Anliegen Verbündete auch unter säkularen Zeitgenossen, manchmal mehr als wir meinen. Ausdrücklich stelle ich mich auch hinter die Bemühungen unserer Caritas, die immer wieder Fragen der sozialen Gerechtigkeit in Thüringen thematisiert und auf die Lage von Menschen am Rande der Gesellschaft aufmerksam macht.
Und wer meint, er sei zu einem solchen Wirken in der Öffentlichkeit nicht berufen, der sei daran erinnert: Auch im Rahmen unserer ganz persönlichen Möglichkeiten können wir helfen, Augen zu öffnen, zum Sehen zu verhelfen, besonders dort, wo Menschen blind sind für das Schöne und Gute in ihrem Leben. Und vielleicht können wir das auch zu dem einen oder anderen, der Gott aus dem Blick verloren hat, das sagen, was damals die Leute dem Bartimäus zuriefen: "Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich!"
So mag uns das Gebet des blinden Bartimäus auch im kommenden Jahr begleiten: "Herr, ich möchte sehen können!" Wir sagten eingangs: Der zweite Blick ist oft der wichtigere! Schauen wir so, mit den Augen des Glaubens, auf das vergangene Jahr - und erbitten wir diese Gabe des Sehens auch für das, was Gott uns im neuen Jahr schenken will. Amen.