„Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (1 Petr 2,24)
Am Palmsonntag beginnt am Erfurter Mariendom der Gottesdienst mit der Feier einer Statio im nahe gelegenen Kreuzgang. Die Gemeinde versammelt sich zur Weihe und Austeilung der Palmzweige. Sie hört den Bericht über den Einzug Jesu in Jerusalem, der Stadt seines bevorstehenden Leidens. Sie übernimmt die Rolle der Menschenmenge, die Jesus damals als den lang erwarteten Messias begrüßte und zujubelte.
Über dieser kurzen liturgischen Feier liegt eine eigentümliche Festlichkeit, ja nahezu eine freudige Gestimmtheit. Das merkt man vor allem bei den Kindern. Sie freuen sich über ihre kunstvoll geschmückten Palmzweige, die sie beim anschließenden Prozessionsweg in die Domhalle fröhlich schwenken und dabei mit ihren hellen Stimmen die vertrauten Christusrufe und Loblieder der Gemeinde verstärken.
Es ist eigentlich eine widersinnige, zumindest äußerst merkwürdige Sache: Leiden zu feiern. Aber genau das tun wir in der Heiligen Woche. Es geht an sich um ein bitteres Sterben, um das grausame Auslöschen eines Menschenlebens. Kann man Leiden feiern?
In Erfurt feiern wir die Liturgie der Kartage in Sichtweite des KZ Buchenwald. Dieses oberhalb Weimars gelegene Lager war ein Ort des Grauens, der für tausendfachen Mord an unschuldigen Menschen steht. Gedenkfeiern vor Ort, Ausstellungen, Begegnungen mit ehemaligen Gefangenen und Angehörigen der Opfer, Aufarbeitung der historischen Fakten und vieles andere mehr sollen helfen, dieses Leiden nicht zu vergessen. Dieser Ort soll eine Mahnung bleiben, sich für eine gewaltfreie Gesellschaft einzusetzen, in der die Menschenwürde eines jeden Einzelnen geachtet wird.
Solche Bemühungen sind wichtig und verdienen volle Unterstützung. Aber auf einen Gedanken würde unsere säkulare Gesellschaft nicht kommen: Das menschliche Leid, das mit dem Namen „Buchenwald“ verbunden ist, zu feiern. Gedenken? Ja! Erinnern? Ja! Auch als Mahnung und Warnung für uns Nachgeborene in den Blick rücken: Ja! Aber niemals könnte dieser Ort des Grauens ein „Feierort“ sein. Das unterscheidet Buchenwald von dem, was im Erfurter Dom und in unseren Kirchen in den Kar- und Ostertagen geschieht. – Was feiern Christen in der Heiligen Woche?
Eine Rettungstat Gottes
Feiern lässt sich letztlich nur das „Rettende“, das, was aus dem Alltäglichen, dem schicksalshaft Gegebenen, dem scheinbar Unabwendbaren herausreißt.
Man feiert die Geburt eines Menschen, eine glückliche Wendung in einem Krankheitsverlauf, das gelungene Lebenswerk eines Menschen. Grund zum Feiern gibt die Erfahrung von Freundschaft und Liebe, von Geborgenheit und Annahme, von Neubeginn und geschenkter bzw. erfahrener Vergebung. Die vielen großen und kleinen Feste, die Menschen feiern, durchbrechen immer das Gewöhnliche. – sei es im Blick auf die eigene Biographie oder auch die größeren Gemeinschaften, in die wir eingebunden sind (Familie, Verwandtschaft, Freundeskreis, gesellschaftliche Anlässe wie etwa die Freude, als Deutsche jetzt einen „Tag der Einheit“ feiern zu dürfen).
Im Feiern leuchtet das Außergewöhnliche auf, das unverhofft Geschenkte, der „Goldgrund“ des Lebens, der sich zumeist hinter den „Staubablagerungen“ des Alltäglichen, des Hässlichen und Gemeinen verbirgt. Feste sind in der Tat so etwas wie das Wegziehen eines Schleiers, hinter dem zum Vorschein kommt, wonach sich das Herz des Menschen sehnt, was ihm Hoffnung gibt und was ihn glücklich macht.
Mit diesen Überlegungen nähern wir uns dem Geheimnis der Feste, zu der die Kirche in der Heiligen Woche einlädt. In Wort und Zeichen wird das entfaltet, was „rettet“ – und zwar anhaltend und auf Dauer (so wie die Glückssehnsucht des Menschen auf ein zeitloses „Bleiben“ zielt). Dieses Geheimnis umkreist unsere Rettung aus „Sünde und Tod“ (wie die liturgische Sprache formuliert). Man könnte auch zeitgemäßer und vielleicht für uns verständlicher sagen: aus aller Schuldverhaftung und aus letzter „Vergeblichkeit“, wie unser unausweichliches Sterben anzeigt.
Diese Rettungstat Gottes bekennen wir – aber mehr noch: Diese feiern wir
am Gründonnerstag: Jesu Hingabebereitschaft für die „Verlorenen“. Sie zeigt sich im Dienst der Fußwaschung. An sie erinnert das Geschenk der Eucharistie, jener Gabe, mit der Christus durch die Zeiten hindurch die Speise der Mühseligen und Beladenen auf dem Weg zum Vater ist.
Am Karfreitag in der historischen Tatsächlichkeit von Jesu Lebenshingabe, die er nicht nur vorspielt, sondern „blutig ernst“ realisiert (dafür steht auch der stille Karsamstag mit dem Hinweis auf das Begraben-Sein des Herrn, worin er sich am tiefsten unserem Geschick angleicht).
In der Feier der Osternacht und der festlichen Proklamation seiner Auferstehung, die eine „Erhöhung“ ist, ein „Heimgehen“ zum Vater, auf den der Auferstandene die Seinen mitnimmt und so bleibend aus ihrer Dauerverstrickung in das Böse und dem sinnlosen Ausgelöscht-Werden im Tode rettet.
Die Liturgiefeiern der Heiligen Woche erinnern also nicht nur an ein historisches Geschehen in der Vergangenheit, an das wir dankbar zurückdenken. Sie vergegenwärtigen vielmehr (man könnte auch sagen: sie „setzen in Szene“) ein zeitloses Handeln des dreieinigen Gottes, das die Grundkonstanten des menschlichen Daseins und der Schöpfung insgesamt verändert: „Denn siehe, wir waren verloren und sind wiedergefunden worden“ (wie das Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn es formuliert, vgl. Lk 15,32).
Ich erinnere an die Wies-Kirche im Bayerischen, bekanntlich ein Baujuwel des Rokoko. Ihre zentrale Mitte ist eine Figur des gegeißelten Heilands. Die prachtvolle Kirche – gebaut wie ein kostbarer „österlicher“ Schrein, der ein Passionsmotiv präsentiert.
Aber wie sollen wir dieses Rettungsgeschehen verstehen? Wir gliedern un-sere Überlegungen in zwei Fragebereiche:
Wovon befreit uns Gottes Rettungstat eigentlich? Und Warum geschieht diese Rettung gerade so – als Hingabe Jesu in diesen schmählichen Tod?
Zur ersten Frage: Wovon werden wir befreit? Wir sagten: Aus der Ausweglosigkeit von Schuld und letzter Vergeblichkeit. Zunächst einige Beobachtungen.
Das Reden von „Schuldig sein/ schuldig werden“, „Sühne von Verbrechen“, „Aufarbeitung von Schuld“ u.ä. ist uns heute durchaus geläufig. Medial breit und nahezu täglich wird von den großen und kleinen Kriegen, Rechtsbrüchen, menschlichen Grausamkeiten und deren Folgen berichtet, die das Zusammenleben der Menschen und Völker belasten. Es wird nach der Bestrafung der Schuldigen gerufen. Es wird gefragt, wie wir aus der Schuld- und Unrechtsspirale herauskommen, aus ihr „errettet“ werden können.
In manchen Bereichen gibt es sogar auch ein wachsendes Verständnis für gesellschaftliches und individuelles Fehlverhalten, etwa im ökologischen Bereich. Freilich muss man auch feststellen: In der Breite ist in der Gesellschaft meist ein fataler „Unschuldswahn“ (vgl. Würzburger Synode, Hoffnung vor uns, Nr. 5) verbreitet, der zwar Schuld bei anderen ausmachen kann, aber im Blick auf sich selbst mit vielen Entschuldigungen und Alibis argumentiert und bei tieferem Nachfragen meist auf „unschuldig“ plädiert. Ein Beispiel dafür: die gesellschaftliche Blindheit der reichen Länder des Westens gegenüber den von ihnen mitverschuldeten Problemen in vielen sog. Ländern der „dritten“ Welt. Unrecht und Schuld werden also einerseits als Realitäten anerkannt, aber anderseits auch verdrängt, verleugnet, wegerklärt, an andere delegiert.
Von „Sünden“ im engeren, religiösem Sinn des Wortes (Schuldig werden vor Gott) ist heute im säkularen Umfeld kaum noch die Rede, es sei denn in Büttenreden. Wenn überhaupt das Wort „Sünde“ fällt, wird davon meist in der Verniedlichungsform gesprochen, vor allem, wenn solche Taten mich selbst betreffen („Verkehrssünder“, gegen die Gesundheit „sündigen“ etc.).
Dennoch: Schuld mit ihren anhaltenden Folgen ist zweifellos eine Realität – gesellschaftlich (ich denke z.B. an das Niederhalten der Wahrheit im alten Ideologiestaat DDR oder an all das, was uns an Unrecht und Unmenschlichkeit täglich in den Nachrichten berichtet wird) und individuell, im persönlichen Leben (nicht nur jene Schuld, die vor Gerichten verhandelt wird, sondern auch jene, die nicht öffentlich wird oder gar nur mir im eigenen Gewissen vor Augen steht).
Schuld kann Menschen belasten, manchmal ein Leben lang. Gibt es so etwas wie „Aufarbeitung von Schuld“? Gibt es gar Vergebung?
Genau darum geht es bei Verstehen dessen, was wir im Credo bekennen: „Für uns Menschen und um unseres Heiles willen ist er … gekommen, …ist er Mensch geworden … hat er gelitten und ist er begraben worden“. Es geht um ein „Heil-„ um ein „Ganz-Werden“ des Menschen bis in die Tiefen seiner Existenz. Und diese Erneuerung schließt auch die Überwindung des Todes und seiner Infragestellung unseres Lebenshungers ein.
Damit kommen wir schon zu unserer zweiten Frage: Warum geht Gott so merkwürdige Wege, um uns aus unserer Schuld- und Todesverhaftung, auch jener, die wir manchmal gern verdrängen, zu befreien?
Um das ein wenig tiefer zu verstehen, bleiben wir zunächst bei eigenen Erfahrungen, etwa im Umgang mit Unrecht und Schuld.
Wir wissen, wie schwer, ja wie manchmal nahezu aussichtslos es ist, Menschen zu einer Vergebungsbitte zu bewegen, gerade dann, wenn ein bestimmtes Maß von Entfremdung erreicht ist. Jeder Seelsorger oder wer in Beratungsdiensten tätig ist, weiß da um seine Grenzen. Denn wir haben es ja hier nicht mit unpersönlichen Dingen zu tun, die man je nach Geschick und Möglichkeit wieder reparieren könnte, sondern mit freien Personen, die sich nicht einfach von außen bestimmen lassen wollen.
Es ist bekannt, wie empfindlich Menschen an dieser Stelle sind. Wenn wir nur den leisesten Verdacht haben: „Da will einer etwas von mir...“ „Da will mich einer belehren...“ „Da will einer meine Freiheit beschneiden, mich einzwängen, nötigen...“, da gehen bekanntlich alle Türen zu. Derjenige, der helfen und heilen will, steht hilflos und ratlos mit seiner guten Absicht drau-ßen. Diese Reaktion trifft auch manchmal auf ältere Menschen zu, bei denen man am ehesten eine gewisse Lebensreife und Bereitschaft zur Versöhnlichkeit voraussetzen könnte. Aber angesichts ihrer Einsamkeit oder eines schweren Lebensgeschicks können gerade auch sie oftmals sehr verbittert sein – und zwar „nachhaltig“.
Wie kann solch ein (durch eigene oder fremde Schuld) verhärteter Lebenspanzer aufgebrochen werden? Durch gute Worte? Durch Zureden? Durch moralische Appelle an die bessere Einsicht? Hier kommen nun Einsichten unseres christlichen Glaubens in den Blick.
Jedes Unrecht, jede „Sünde“, ist – natürlich gestaffelt in ihrer jeweiligen Schwere – auf ihre Weise wirklich hoffnungslos, weil der Täter im Grunde sich selbst von einer möglichen Rettung abschneidet. Er will gleichsam „untergehen“. Er weist jeden „Rettungsversuch“ von außen als freiheitsberaubende Zumutung von sich. Aus der Sicht des Gottesglaubens heraus formuliert: Das Kostbarste, was Gott dem Menschen geschenkt hat, die Freiheit, wird ihm in der frei gewollten Unrechtstat, zu der er „trotzig“ weiter steht, zum Verhängnis. Darum kann der Apostel Paulus manchmal von der Sünde so reden, als handle es sich um eine den Menschen okkupierende Macht, die kein Entrinnen zulässt. Sünde hält in der Tat „die Wahrheit nieder“, macht unfähig, wahrhaftig zu leben, der Wirklichkeit ins Angesicht zu schauen.
Eine interessante säkulare Meditation dieser Erfahrung ist das Buch des tschechischen Schriftstellers und späteren Präsidenten Vaclav Havel „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, noch vor der „samtenen Revolution“ geschrieben. Er beschreibt darin eindringlich die kollektive Unwahrhaftigkeit des kommunistischen Systems, die nahezu zwangsläufig individuelle Heuchelei und falsche Angepasstheit produziert.
Solche menschlichen Erfahrungen machen mir verständlich, was den Zusammenhang von Vergebung und Leiden, das Bekenntnis zu Gottes Vergebungstat in Christus aussagen will. Wie geht Gott mit der Sünde um? Ich gebrauche nochmals einen Vergleich, der in diesem Zusammenhang den Zusammenhang von Vergebung und Leiden beleuchten kann. Was macht eine Mutter, die ihr quengelndes Kind mit keinem Mittel beruhigen kann? Das Kind bockt und greint und weiß am Schluss gar nicht mehr warum. Es will eben bockig sein. Eine Mutter wird, so meine ich, schließlich ganz einfach das Kind in ihre Arme schließen, es fest an sich drücken und den kindlichen Trotz, das Aufbegehren und den Zorn des Kindes auf sich selbst „hinwegschmelzen“ mit einer strapazierfähigen Geduld, die das „Nicht-Wollen“ des trotzigen Kindes noch umfangen kann.
Für mich sind solche Erfahrungen aus unserem menschlichen Umfeld wichtig, weil sie mir das Verständnis für die christliche Versöhnungsaussage erleichtern. Es kann sich eine entscheidende „Tür“ für den Wunsch nach Vergebung bzw. Versöhnung öffnen, wenn ich erkenne: Mir streckt sich in meiner „Eisspalte“, in der ich mich vorfinde, eine rettende Hand entgegen, die an nichts anderem als an mir selbst interessiert ist. Religiös gesprochen: In der Lebenshingabe Jesu bis in den Tod hinein berührt mich eine Liebe, die sich nicht selbst sucht, sondern ganz und radikal den „Verlorenen“. Das übersteigt menschliches Begreifen und auch Können. Der Glaubende erkennt hier freilich, angeleitet durch das Wort und Verhalten Jesu, Gott, wie er „wirklich“ ist: derjenige, der vor der Freiheit des Menschen, die auch eine „Freiheit zum Bösen“ sein kann, nicht kapituliert, der sich nicht bei unlösbaren Konflikten – wie wir es oft tun – zurückzieht und den anderen abschreibt als „rettungslosen Fall“.
Wir hatten das Problem ja soeben angesprochen. Was passiert, wenn zwei menschliche „Freiheiten“ miteinander kollidieren? Wir sahen: Gutes Zureden bleibt meist wirkungslos. Beratung findet oft schnell Grenzen, wenn es um innere Verletzungen geht. Vor allem gilt: Gewalt scheidet mit Sicherheit als Konfliktlösung aus. Hier kann es nur einen Weg nach vorn, zu einem versöhnenden Ausgang geben, wenn die eine „Freiheit“ angesichts der in ihrer Verletztheit, ja im Nicht-Wollen verstockten „Freiheit“ des anderen sich selbst zurücknimmt, wenn sie ihre berechtigten Ansprüche zurücksteckt, ihre Erwartungen – bis hin zur Grenze der „Selbstverleugnung“, um den anderen nach und nach für eine gute „Lösung“ des Konflikts zu gewinnen. Freilich: Für Menschen stößt diese Haltung einer solch schmerzhaften „Selbstverleugnung“ meist schnell an Grenzen. Menschen sind wohl nicht „groß“ genug, um ganz „klein“ werden zu können, so wie der christliche Glaube, angeleitet durch Jesus, das von Gott aussagt.
Manchmal gelingt gottlob solche Versöhnung zwischen Menschen, zwischen Völkern. Das ist dann wie ein Wunder. Es gibt sogar so etwas wie „Spitzensituationen“, in denen einer bis hin zur eigenen Lebenshingabe für einen anderen eintritt, damit dieser Leben und Zukunft gewinnen kann. Der Franziskaner Maximilian Kolbe etwa hat das im KZ Auschwitz getan, als er freiwillig vortrat und für einen anderen, um ihn vor dem Tod zu bewahren, in den Hungerbunker ging. Aber das ist nicht der Alltag von Gewalt- und Unrechtsüberwindung.
Das Kreuz Jesu als Ursprungsort von Vergebung und Neuanfang
Für mich als gläubigen Menschen und als Theologen eröffnet sich angesichts solcher Überlegungen das innere Geheimnis des „Kreuzes“ Jesu. Der Unschuldige steht für die schuldig Gewordenen ein – so wie auch menschliche Katastrophen manchmal durch das Lebensopfer anderer gewendet werden können, hin zu einem Neuanfang und zu einer besseren Zukunft. Ich denke da als Vergleich an das Lebensopfer und die Leiden jener alliierten Soldaten im 2. Weltkrieg, die das deutsche Volk von der Barbarei des Nazi-Faschismus „erlöst“ und unserem Volk insgesamt einen demokratischen Neuanfang ermöglicht haben – freilich nicht ohne unser eigenes (freilich nachträgliches) Mittun. Denn Erlösung im christlichen Sinn – das ist leider oft nicht im Bewusstsein – ist ja kein magisches Geschehen, das mir irgendwie übergestülpt wird, sondern es ist ein „Ermöglichungsgeschehen“, das mir bzw. einem schuldig Gewordenen einen Neuanfang schenkt und das zugleich (!) meine eigene Freiheit respektiert, ja diese aktiviert.
Wir müssen also aus dem Verständnis von „Erlösung“ alles tilgen, was mit einem rachsüchtigen, „sühnebedürftigen“ Gott zu tun haben könnte. Auch die Sühneriten im Alten Testament sind nicht so zu verstehen, als ob durch sie ein zuvor versöhnungsunwilliger Gott versöhnlich gestimmt wird. Es geht – wie im Einzelnen gezeigt werden kann – in diesen Sühneriten vielmehr darum, dass Gott selbst den Menschen einen Weg eröffnet, von der Sünde und deren unheilvollen Folgen loszukommen. Auch der leidende „Gottesknecht“ beim Propheten Jesaja (an dessen Geschick sich die junge Kirche bei der Deutung der Lebenshingabe Jesu orientiert hat, wenn nicht sogar Jesus selbst!) ist „für uns“ dahingegeben worden – nicht im Sinne von: „anstelle von uns“, sondern von „uns zugute“. Gott selbst eröffnet uns in Jesu gehorsamen Leben und Sterben einen Weg, der zum Leben führt, frei von den Fesseln aller Schuld- und Todesverhaftung. Der Auferstandene ist also „Anführer des Lebens“ (Apg 3,15), nicht „geschlachtetes Sühnelamm“, das Gott erst zur Versöhnung umstimmen musste. Nochmals: Gott braucht keine Versöhnung. Er umschließt vielmehr auf unfassbare Weise unsere Unwilligkeit zur Versöhnung in der Hingabetat seines geliebten Sohnes und „schmilzt“ unsere Unfähigkeit zur Versöhnung weg – als unseren letzten Rettungsweg.
Die frühe Kirche hat sehr um dieses Verständnis der Hingabe Jesu durch den Vater in den Tod, und zwar diesen schmachvollen Tod gerungen. Sie hat dafür manche Denkmodelle benutzt, die im Neuen Testament verschiedentlich anklingen, bei Paulus etwa die Vorstellung vom neuen Paschalamm, vom neuen (zweiten) Adam, vom Loskauf aus der Sklaverei, im Evangelium nach Johannes etwa Jesu Sterben als „Erhöhung“ zum Vater, die uns mit ihm zusammen „erhöht“. Auch in der späteren Theologie (etwa bei Anselm von Canterbury mit seiner vom feudalen Ständebewusstsein inspirierten Satisfaktionstheorie) hält diese Suche nach letztem Verstehen an. Dieses anhaltende Ringen um den Sinn des Karfreitag im Licht des Ostererfahrung zeigt an, dass hier etwas geschehen ist, wofür es keine eindeutigen innerweltlichen Erklärungsmodelle gibt, es sei denn jenes einer Liebe, die selbst um eines anderen willen bereit ist, Schmerzen und Leid auf sich zu nehmen. (vgl. das alte Ritzzeichen jung Verliebter: ein Herz, von einem Pfeil durchbohrt).
Nicht der Tod am Kreuz als solcher, seine Grausamkeit oder das Aushalten der Qualen, ist „erlösend“. Die Hinrichtung Jesu am Kreuz ist der grausamen Justiz der damaligen Zeit geschuldet. Sie ist also in gewissem Sinn „zufällig“. Das „Erlösende“ am Sterben Jesu ist vielmehr, dass sich in seiner Annahme des Sterbens sein „Sohnesgehorsam“ zeigt („Nicht wie ich will, sondern wie du willst“!), und in diesem Gehorsam „bis zum Äußersten“ die bis dahin „verborgene“ Liebe des Vaters zum Menschen aufleuchtet.
Das Kreuz Jesu ist also kein tragisches Geschehen, kein göttlicher „Verkehrsunfall“, der bei besserem Zusammenspiel der Kontrahenten hätte vermieden werden können oder gar (was ich soeben als falsches Gottesverständnis abgelehnt hatte) als Konsequenz eines grausamen göttlichen Sühnebedürfnisses. Die Hingabe Jesu (als Repräsentant seines väterlichen Gottes) „bis zum Äußersten“ ist „notwendig“ (mit großer Vorsicht gebrauche ich dieses Wort), so wie „notwendig“ Trotz und Bosheit letztlich nur durch leidensbereite Liebe aufgehoben werden können, eine Liebe, die bereit ist, sich durch nichts erbittern zu lassen, auch nicht durch den schmerzbringenden Widerstand dessen, dem die Liebe gilt. Mütterliche Liebe muss eben – wie wir sahen – häufig „strapazierfähig“ sein. Vielleicht ist „notwendig“ nicht das richtige Wort. Gottes „Größe“, die sich „klein“ machen kann, ist „mehr als notwendig“ (so der evangelische Theologe Gerhard Ebeling).
Wie immer man sich diesem Gedanken leidensbereiter Liebe nähern möchte: Es bleibt ein Geheimnis, das rational nicht bis ins Letzte auflösbar ist. Doch bietet die menschliche Erfahrung zumindest ansatzweise ein Verständnis dafür, dass es wahre Erlösung, wirkliches Heilwerden nur durch eine Liebe geben kann, die bereit ist, „schwach“ zu werden.
Eine hochrangige SPD-Politikerin hat vor den Verhandlungen zur sog. „Großen Koalition“ im Ferbraur 2018 das Wort geprägt: Wir, unsere Partei wird verhandeln „bis es quietscht!“ Ich möchte dieses Wort („verfremdet“!) für unsere Überlegungen benutzen: Für das Durchbrechen von Trotz, Bosheit und Hass braucht es eine hartnäckige Geduld, die liebt „bis es quietscht“!
Nur nebenbei gesagt: Ich sehe übrigens in dem Hinweis auf den „leidensbereiten“ Gott des christlichen Glaubens eine entscheidende Grunddifferenz in der Gottesvorstellung zwischen salafistischem Islam und Christentum.
Genau hier sind wir bei dem Punkt, auf den es mir ankommt. Es ist ein Paradox, aber doch kein Unsinn, wenn ich sage: Liebe, die ganz stark ist, kann ganz schwach werden. Je stärker eine Liebe ist, desto mehr wird sie ihre alles überragende Kraft durch die Fähigkeit einer unbegreiflichen Schwäche offenbaren.
Es ist einfach wahr: Je lauter einer mit dem Säbel rasselt, desto mehr offenbart er seine Angst, letztlich seine Ohnmacht. Wahre Souveränität zeigt sich darin, dass einer seine Macht verbergen, ja nahezu verleugnen kann. Im Bild gesprochen: Je größer eine Last ist, die ein Träger aufzuheben versucht, desto tiefer muss er sich bücken, desto kleiner muss er sich machen, um unter die Last zu kommen, um sie dann kraftvoll auf seine Schultern zu heben, um sie fortzuschleppen.
Nochmals: Unsere menschliche Erfahrung stößt hier an Grenzen des Verstehens. Im rein zwischenmenschlichen Verhalten ist uns eben das, was Gott vermag, nicht möglich. Er allein ist stark genug, um ganz „schwach“ werden zu können. Wir können nur ansatzweise „aufheben“, aufzuheben versuchen. Aber es gibt Lasten, die wir nicht wegzuschleppen vermögen: den Verrat des Freundes, die in den Schmutz getretene Liebe, die menschenverachtende Folterung, den Genozid als die Vernichtung eines ganzen Volkes. Fassungslos stehen wir vor der Wirklichkeit unserer Sünde. Sie ist zu schwer für uns. Man muss wohl in diese Tiefen steigen, um wirklich zu ermessen, was wir da bei jeder Messfeier hören: „Seht das Lamm Gottes, das aufhebt, das wegträgt die Sünde der Welt!“ In diese Tiefendimension auch meines in der Sünde gefangenen und dennoch erlösten Lebens lässt mich der christliche Glaube Einblick nehmen. Hier berühre ich aber auch die Quelle, aus der schuldig gewordenes Leben sich von innen heraus erneuern kann.
Darum wagen Christen, in den Kar- und Ostertagen das Leiden des Herrn nicht nur zu betrachten, sondern es zu feiern.
Vortrag (PDF)