Warum ich Christ bin

Versuch einiger biographisch eingefärbter Antworten von Joachim Wanke

 

Bild: Peter Weidemann

… Weil ich dadurch mit Jesus Christus bekannt und vertraut werde.

Im Rückblick auf meine biographische Verwurzelung im christlichen Glauben wird mir immer deutlicher, dass dessen innerste Mitte die bleibende Anziehungskraft der Person Jesu ist. Ohne das Wissen und die immer mehr sich vertiefende Einsicht in die Einzigartigkeit dieser historischen und gleichzeitig die Historie überschreitende Gestalt würde ich kein Christ bleiben. Es vermengen sich bei mir diesbezüglich aus der Schriftkenntnis gewonnene Einsichten mit existentiell-lebensgeschichtlich geprägten Erfahrungen, die meine Gottesbeziehung in religiöser Hinsicht christologisch „fermentieren“.


Meine intellektuelle, emotionale und letztlich religiöse Zustimmung zu einem umfassenden Gotteshorizont aller Wirklichkeit, auch meines eigenen Lebens, speist sich vornehmlich aus dem Gottesbild Jesu. Andere, etwa religionsphilosophische Überlegungen, die in der Auseinandersetzung mit der atheistisch-materialistischen Staatsideologie in der DDR eine Rolle spielten, sind sicher im Blick auf die Denkmöglichkeit einer theistischen Weltdeutung auch weiterhin hilfreich. Aber sie verbleiben letztlich nur im Vorfeld der Faszination, die von der Botschaft des Evangeliums, für das die Gestalt Jesu steht, selbst ausgeht. Wenn es Gott wirk-lich geben und dieser eine Bedeutung für mein Leben haben sollte, dann ist es der Gott und Vater Jesu Christi.

… Weil christlicher Gottesglaube mir ein Grundvertrauen in mein Leben und eine offene Zukunft möglich macht.

Von Jugend an begleitete mich in meiner religiösen Biographe die marxistische Religionskritik, die besonders den reaktionären gesellschaftlichen Charakter einer religiösen Lebenssicht hervorhob. Religiöses Denken und religiöse Lebenspraxis sollten daher mit allen Mitteln, auch denen staatlicher Repression, zurückgedrängt werden. Das hatte sehr konkrete und schmerzhafte Folgen für den einzelnen Christen und das Wirken der Kirche insgesamt.


Doch auch in der „offenen“ Gesellschaft muss sich jeder, der Christ sein will, kritischen An-fragen stellen. Dazu gehört etwa der Vorwurf gegenüber dem religiösen Glauben, dass er angeblich die Freiheit und souveränen Selbststand des Menschen einschränke und verhindere, eine Lebenstapferkeit zu entwickeln, die auch den Härten und Absurditäten des Lebens standzuhalten vermag. Religiöser Glaube sei eben Selbstillusion, mit der man sich das eigene Leben mit seinen Unwägbarkeiten erleichtern will.


Im Nachhinein scheinen mir solche Infragestellungen einer religiösen Lebensentscheidung durchaus auch hilfreich zu sein. Sie machen diese Entscheidung ehrlicher und befreien sie von gedankenlosem „Mitmachen“ und zunehmender Gleichgültigkeit. In der Tat muss auch mein Glaube die Tatsache anerkennen,   dass mein Leben und weithin die Zukunft mir bzw. jedem Menschen unverfügbar ist und bleibt. Eine religiöse Lebensdeutung hebt diese Unver-fügbarkeit nicht auf. Gottvertrauen schließt also durchaus die Möglichkeit von Anfechtung und Zweifel an vermeintlichen Sicherheiten ein. Das anzunehmen und auszuhalten, ja innerlich sogar zu bejahen, ist freilich kein unverantwortliches  Lotteriespiel.


Gerade die Infragestellungen meines religiösen Glaubens machen mich auf eine kostbare Gabe aufmerksam, die dieser dem Menschen vermittelt: ein Grundvertrauen in das eigene Leben und eine offene Zukunft. Es ist wie mit der Geburt des Menschen. Ein Kind kommt ohne eigenes Wollen und Zustimmen zur Welt. Dennoch ist dem neugeborenen Kinde ein spontanes Grundvertrauen in sein Leben eigen. Das zeigt sich in der Zuwendung,  welches  es ihm begegnenden Bezugspersonen entgegen bringt, im Normalfall der Mutter, die es zum ersten Mal in die Arme und damit in ihre Obhut nimmt.


Man kann diesen Vorschuss an Vertrauen als einen „Trick“  der biologischen Evolution deuten. Dieses Vertrauen, woher es sich auch erklären mag, ist eine wichtige Voraussetzung zur Ausbildung und Stabilisierung der eigenen Persönlichkeit. Ohne  Vertrauen kann Leben nicht gelingen. Das „Dialogische“, das „Zurücklächeln“  gehört biologisch, kulturell und eben auch religiös zu den Konstitutiva personalen Seins. Das Wissen um eine vermutlich naturgegebene Herausbildung solcher Prägung des Menschen hindert mich nicht, darin einen „Anruf“ zu erkennen, auf den es zu antworten gilt.


Dass ich diese Antwort mit Jesus Christus gebe, also in Nachahmung seiner Lebensgestalt versuche, gehört mit zu diesen scheinbar zufälligen, zumindest unverfügbaren Gegebenhei-ten meines konkreten Lebens. Das Stichwort „gnadenhaft“ hält die Erinnerung an diese Tat-sache lebendig. Ich weiß, dass meine Autonomie im Blick auf die Gestaltung meines Lebens-weges sehr begrenzt ist. Doch Ich erfahre umgekehrt, dass ich offensichtlich einen (für mich bestimmten) Weg geführt werde. Und diese Erfahrung wird immer eindringlicher und überzeugender, je mehr ich diesem „Geführt-Werden“   innerlich zustimme. Auch das ist ein Weg mit Höhen und Tiefen. Doch insgesamt scheint für unsere Wahrnehmung zu gelten: Manche Dinge offenbaren sich mit ihrem „Geschmack“  erst dann, wenn man den Standpunkt des neutralen Betrachters aufgibt und sich selbst aktiv auf sie einlässt.

 … Weil der auf Jesus Christus hin zentrierte Gottesglaube vor religiösem Rigorismus und Fanatismus bewahrt.

Gegenwärtig gewinnt die Verdächtigung von Religion als Quelle von Gewalt, Diskriminierung und Inhumanität weltweit neues Gewicht. Auch der christliche Glaube muss sich solchen Vorwürfen stellen.
Eine diesbezügliche Schlüsselaussage Jesu überliefert Mt 22,20. Auf die Frage seiner Gegner nach der Zulässigkeit der sog. Kaisersteuer antwortet Jesus mit dem bekannten Wort: „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört.“ Jesus überschreitet die damalige (und bis heute) relevante Spannung zwischen religiösem Zelotismus und pragmatischer bzw. gedankenloser „Angepasstheit“ an gesellschaftliche Gegebenheiten mit dem Hinweis auf den gewichtigeren Horizont, der für jeden frommen Juden bestimmend sein sollte: der Anspruch Gottes und die Anerkennung seiner Herrschaft  über sein erwähltes Volk. Dieses Herr-Sein Gottes neu zu proklamieren und einzufordern, ist zutiefst das eigentli-che Lebensprogramm des Nazareners. Es zeigt sich in seinem Verhalten (etwa den Jüngern zu untersagen,  Feuer auf das  ungastliche Dorf der Samariter herabzurufen, vgl. Lk 9,52-55)  bis hin zu der zentrale Bitte im Herrengebet, das er seine Jünger lehrt: „Dein Reich komme. Dein Wille geschehe.“ Und damit ist gesagt: nicht unser Wille geschehe.


Es muss freilich sofort hinzugefügt werden: Dieses Programm wird eingefasst und begründet vom Wissen Jesu, dass Gott kein den Menschen ferner Gott ist oder gar ein blindes, gesichtsloses Fatum. Jesus teilt den Bundesgedanken jüdischer Frömmigkeit. Der Gott Jesu ist zwar unser „Herr“, an dem unsere Existenz hängt, aber er ist dies als „Vater“, dessen Erbarmen und Zuneigung zum Menschen seine Rechtsansprüche übersteigt. Und dies gilt nicht nur im Blick auf Gottes Bundesvolk Israel, sondern vermittelt durch Israel für die ganze Völkerwelt, wie schon die Propheten wussten. Damit ist grundsätzlich in der Nachfolge Jesu jedes Aus-schließlichkeitsdenken ausgeschlossen, obgleich auch christliche Frömmigkeit in ihrer geschichtlichen Entfaltung vor Fanatismus mit seinen schlimmen Konsequenzen nicht gefeit war und ist.


Für den Christen gilt: „Nicht selbst Gott zu spielen, sondern Gott zu dienen“ (Franz Kamphaus), also ihm die Ehre zu geben, ihn anzubeten, ihn nachzuahmen – und zwar nach den von Jesu Wort und Verhalten her vorgegebenen Maßgaben. Das führt nicht in jeder Einzelfrage zu konkreten Handlungsanweisungen, beispielsweise im politischen Urteilen und Handeln, zeigt aber einen Horizont auf, innerhalb dessen sich zukunftsfähige, humane Lebensräume auftun – oder um es  in der Sprache und biblischen Bildwelt des Juden Jesus zu formulieren:  „Gottes Reich“ bzw. „Herrschaft“ in Erscheinung tritt.

… Weil die Nachfolge Jesu zu einer Ethik anleitet, die sich aus der „Freiheit der Kinder Gottes“ speist.

Die derzeitigen spannungsreichen kulturellen Wandlungs- und Wachstumsprozesse, die auch die weltweite katholische Kirche und deren Selbstverständnis in Lehre und konkreten Lebensweisungen betreffen, relativieren sich für mich in zweifacher Hinsicht. Zum einen im Blick auf die historisch gewachsene Gestalt des Christentums und dessen jeweilige Prägung in konkreten geschichtlichen Situationen. Zum anderen erhalten diese Spannungen für mich einen veränderten Horizont durch die theologische Einsicht in die Vorordnung des „Indikativs“  des Gotteshandelns vor dem „Imperativ“ dessen, was daraus beispielsweise für das sittliche Handeln der Glaubenden folgt. Das ist nicht immer sofort und in allen Einzelheiten klar erkennbar  und damit immer wieder neu strittig. Es bringt oftmals auch schmerzhafte Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche mit sich, wie wir derzeit wieder erleben.


Der Apostel Paulus etwa lässt gegenüber der jungen Christengemeinde in Philippi erkennen, dass er weithin das Ethos der zeitgenössischen heidnischen Stoa übernimmt. „Im Übrigen, Brüder und Schwestern: Was immer wahrhaft, edel und recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht“ (Phil 4,8). Um freilich anzuzeigen,  was das genuin Christliche am Handeln des Getauften ausmacht, verweist der Apostel auf die Glaubenskatechese und sein eigenes Lebensvorbild. „Und was ihr gelernt und angenommen, gehört und an mir gesehen habt, das tut“ (Phil 4,9), wobei Paulus sich selbst in seinem Handeln dem Vorbild Christi verpflichtet weiß (vgl. 1 Kor 11,1).


Was diese Katechese und das persönliche Vorbild des Apostels im Blick auf die konkrete Gestalt christlichen Ethos beinhaltet, entfalten dann die Mahnungen der paulinischen Briefe, etwa im Blick auf das Gemeindeleben Phil 2,2-4. Dort ist z.B. von der Hochachtung voreinan-der und der Zurücknahme eigener Rechte und Ansprüche um des Wohles der anderen willen die Rede, was wiederum sofort am Beispiel der Selbstentäußerung Christi (vgl. den nachfol-gend zitierten Christushymnus 2,6-11 j seine innere Begründung erfährt.


Mein Fazit: Was immer bleibend und (der Sache nach) unverändert am christlichen Ethos christlich ist, muss sich im Blick auf Jesus Christus erweisen. Das ist eine hochbrisante Aussage. Der christliche Glaube trägt gleichsam in seinem Wandergepäck das „Dynamit“ mit sich, mit dem Angepasstheit, Gewohnheit und das Vergessen der Ursprünge „aufgesprengt“ wird – wie es immer wieder im Verlauf der Kirchengeschichte besonders durch große Heiligenbiographien geschah.  Maßstab und bleibender Reformansatz für das „Christliche“ im christlichen Glauben ist der Lebensentwurf Jesu Christi mit seinen Grundentscheidungen, einschließlich seines Lebensgehorsams in das Dunkel des Todes hinein.


Ansonsten gilt das Pauluswort: „Prüft alles und behaltet das Gute“ (1 Thess 5,21). Das mag zwar eine sehr allgemeine Maxime sein, verweist die konkrete Ausgestaltung des Christlichen aber immer wieder auf seinen Ursprung und seine bleibende Mitte: das Evangelium, das in der Person und im Lebensgeschick Jesu Christi uns vorgegeben ist. Auch „Großinquisitoren“ können mit einem „verbesserten Jesus“ das Christentum nicht auf eine höhere bzw. plausiblere  Stufe heben, wie schon der russischen Schriftsteller Dostojewski wusste. Eine zentrale Mahnung des Johannesevangeliums lässt Jesus sagen: „Bleibt in mir und ich bleibe in euch“ (Joh 15,4). Das bewahrt den christlichen Glauben vor dem Versiegen der Quellen, vor dem Ausweichen ins Nebensächliche, vor mancherlei Verirrungen wie etwa  Aberglaube, Fanatismus, falschen Hoffnungen auf innerweltliche Evidenz oder fataler Selbstüberschätzung.


Was mich am gegenwärtigen Zustand der Kirche unruhig macht, ist weniger der Streit um diese oder jene Einzelproblematik. Es ist vielmehr die Sorge, zu wenig auf Jesu Christi gesamte Lebensgestalt zu schauen, die im „pro  vobis“, im „für euch und für alle“ auch mein persönliches Leben und die Gestaltung kirchlichen Daseins im Wandel der Zeiten insgesamt bestimmen muss.

… Weil der christliche Glaube es wagt, angesichts des unbestreitbar Bösen in der Welt, das auch mir nicht fremd ist, von gelingendem Leben zu sprechen.

Am Anfang des Christentums steht ein Skandal: Der „Urheber und Vollender des Glaubens“ (Hebr 12,2) Jesus Christus ist hingerichtet worden. Sein Sterben am Kreuz, verursacht von seinen Gegnern, deuteten seine Jünger als offensichtliches Scheitern seiner Botschaft und Sendung.


Jesus hat das Schicksal vieler Propheten Israels erfahren: Widerspruch und Ablehnung bis hin zum gewaltsamen Tod. Nicht umsonst ist das Kreuz das paradoxe Signum des christlichen Glaubens geworden. Was freilich das Kreuz Jesu vom Geschick der verfolgten Propheten unterscheidet, erschließt sich im Bedenken dieser beiden Fragen: Wer leidet hier und wie nimmt er, der sich als „Sohn“ von seinem „Vater“ gesendet weiß, die scheinbare Erfolglosig-keit seiner Sendung an? Die zweifellos vom Osterglauben der jungen Kirche überformten Evangelienberichte lassen das vorsichtige, aber durch Indizien gestützte Urteil zu: Jesus geht nicht in Verzweiflung seinem Sterben entgegen. Er überlässt angesichts seines eigenen To-des vielmehr Gott die Vollendung dessen, was er als seinen Auftrag sah: Herold des kommenden und schon in seinen eigenen Worten und Taten gegenwärtigen Reiches Gottes zu sein.

 
Der christliche Glaube sieht also beides: Jesus nimmt bereitwillig sein Sterben und das Dunkel  seines menschlichen Nichtwissens über den Sinn seines Todesgeschicks an. Gleichzeitig aber bleibt sein Vertrauen auf Gottes schöpferische Lebensmacht bestehen, vielleicht getragen von den ihm bekannten biblischen Schrifttexten vom leidenden Gottesknecht oder vom Geschick der verfolgten Gerechten, die trotz ihres Sterbens von Gott nicht im Stich gelassen werden. Ein frühchristlicher Hymnus spricht von Jesu „Gehorsam bis zum Tod“ (Phil 2,8). Nicht Resignation, Verzweiflung oder gar Rebellion stehen am Ende der Biographie Jesu. Jesus geht bereitwillig in ein Sterben, das er – ohne es letztlich zu verstehen – von seinem Vater ihm auferlegt weiß.


Das ist die innerste Mitte des Übergangs vom Karfreitag zum Ostergeschehen. Jesus realisiert an sich selbst, was er die Jünger beten gelehrt hat: „Vater, Dein Wille geschehe!“. So erfolgt, wie dann der Glaube bekennt,  im Sterben Jesu durch Gottes Ratschluss und Wille der menschlich nicht zu erwartende Übergang zu einem neuen, österlichen  Leben, zu einer zweiten Schöpfung mit einem neuen „Adam“ und einem an Jesu Leben sich orientierenden gehorsamen „Israel Gottes“ (Gal 6,16).


Das innerste Geheimnis des Sterbens Jesu, das „uns zugute“ kommt, bleibt unergründlich. Aber dass Unschuldige für schuldig Gewordenen eintreten, ist auch unserer Erfahrung nicht fremd. Wir leben mehr als wir meinen vom Einsatz anderer. Bei menschlicher Solidarität bzw. Stellvertretung  stößt man freilich bald auf Grenzen. Das Kreuz Jesu ist für mich eine Chiffre für eine Liebe, die so stark ist, dass sie in ihrer Zuwendung zum anderen ganz schwach werden kann. Das weist über menschliche Möglichkeiten hinaus.


Es gibt Lasten, die Menschen nicht aufzuheben vermögen: den Verrat des Freundes, die in den Schmutz getretene Liebe, die menschenverachtende Folterung, den Genozid als die Vernichtung eines ganzen Volkes. Fassungslos stehen wir vor der Wirklichkeit menschlicher Schuld. Auch der Atheismus ringt mit dem Geheimnis des Bösen, das wir nicht wegerklären, auch nicht „wegerziehen“ oder gar genetisch „wegmanipulieren“  können. Dieses Mysterium ist für uns undurchdringlich. Man muss wohl in die Unauslotbarkeit göttlicher Liebe hinabsteigen, um dieses Wort zu verstehen: „Seht das Lamm Gottes, das aufhebt und wegträgt die Sünde der Welt!“ In diese Tiefendimension auch meines in Schuld gefangenen Lebens lässt mich der christliche Glaube Einblick nehmen.


Hier berühre ich aber auch die Quelle, aus der schuldig gewordenes Leben sich erneuern kann: die Zuwendung einer Liebe, die unter Wahrung meiner Freiheit, diese zu erwidern oder abzulehnen, einen Neuanfang ermöglicht. Der christliche Glaube setzt ein „Ermögli-chungsgeschehen“ in Gang. Er verzaubert nicht, er aktiviert vielmehr  alle Kräfte des Men-schen und schafft neue Handlungsräume. Das haben die Jünger Jesu am Ostertag erfahren. Sie sagen: Gott selbst hat am Gekreuzigten gehandelt. Er hat ihn „auferweckt“, aber eben „als Ersten der Entschlafenen“, wie der Apostel Paulus im Blick auf die an Christus Glauben-den formuliert (vgl. 1 Kor 15,20).


Für mich bedeutet die Osterbotschaft ein fester Halt in der unbezweifelbaren Anfechtung, die das Böse als scheinbar unausrottbare destruktive Wirklichkeit darstellt. Christen gehören zu jenen Menschen, die nach den Katastrophen in Zeit und Geschichte immer wieder und trotz allem den Neuanfang wagen. Die Trümmerfrauen Berlins, die nach dem Zusammen-bruch des letzten Krieges an das große „Aufräumen“ gingen,  sind mir dafür ein sprechendes Bild. Niemand garantierte ihnen damals und uns heute, dass ein zweiter Versuch eines Neu-anfangs gut ausgehen wird. Es gibt in dieser so verfassten Welt kein endgültiges „Aufräu-men“. Aber es gibt ein immer neues „Anfangen“, weil wir um den von Gott gesetzten österlichen „Neuanfang“ wissen. Das wird hintergründig in einer alten Petrusüberlieferung erzählt. Nach vergeblichem Fischfang wird Petrus von Jesus aufgefordert, erneut zum Fischfang auszufahren. Gegen all seine Berufserfahrung gehorcht er mit den Worten: „Doch auf dein Wort hin werde ich die Netze auswerfen“ (vgl. Lk 5,5).


Es ist wichtig, dass viele Menschen dies nachsprechen können: „Auf dein Wort hin!“ Mein christlicher Glaube lehrt mich, dass ich – solange ich atme – hoffen darf. Und das gilt nicht nur von mir, was mich zusätzlich vorsichtig macht bei der religiösen „Klassifizierung“  meiner Mitmenschen. Es mag mancherlei auch innerweltliche Argumente geben, in immer neuen Ansätzen, in immer neuen „Versuch- und Irrtum-Experimenten“ im Kampf gegen die Übel in der Welt nicht nachzulassen. Dazu gehört auch zumindest die Einhegung des Bösen. Ohne Zweifel gibt es anerkennungswerte humane Fortschritte und Verbesserungen in den Lebensbedingungen der Menschheit, aber eben auch immer neue Gefährdungen, nicht zuletzt auch solche, die aus unseren eigenen Bemühungen um Fortschritte erwachsen. Doch es gibt keinen endgültigen Grund zur Resignation.


Die Bitte (und Gewissheit) um „Erlösung von dem Bösen“, die im Ostersieg Christi über Sünde und Tod begonnen hat, gehört als feste Hoffnung zu meinem Glauben. Ich könnte auch formulieren: bei meinem ganz persönlichen Übergang vom Karfreitag zur vollendeten Osterwirklichkeit. Der Gang in das Dunkel meines Sterbens bleibt mir freilich auch durch den Osterglauben nicht erspart. Aber auch in der Finsternis sind Geländer willkommen.

… weil der christliche Glaube mich zu einem immer neuem Staunen und Danken führt.

Von jeher haben Menschen die Biographien von Frauen und Männern fasziniert, die unser Wissen um die Geheimnisse der Welt und des Universums erweitert haben – oft unter Ein-satz ihres eigenen Lebens. Diese Faszination habe ich nicht nur als junger Mensch mit vielen anderen geteilt. Sie hat mich auch jetzt nicht verlassen. Mit Staunen nehme ich wahr, wie derzeit immer wieder Grenzen unserer bisherigen Erkenntnis der Welt überschritten wer-den.  Selbst wenn ich der Abstraktion der mathematischen Formelsprache, mit der weithin diese Einsichten dargestellt werden müssen, nicht folgen kann: Ich ahne, dass das Erkennen der Welt, in die wir hineingestellt sind, wohl nicht so schnell an ein Ende kommen wird.  


Von solchem Staunen über die Wunder des Universums redet auch die Bibel. Sicherlich bleiben die diversen biblischen Texte bei der Beschreibung der Welt immer auch dem Erkenntnisstand ihrer jeweiligen Entstehungszeit verhaftet. Doch teilen auch die biblischen Autoren den Drang zum Erkennen des Kosmos und seiner Gesetzmäßigkeiten. Doch noch mehr leiten diese Texte an, die uns umgebende Wirklichkeit als Schöpfung zu begreifen, die Rückschlüsse aus ihrer Größe, Ordnung  und Schönheit auf ihren Schöpfer und Erhalter zulässt. Die Weis-heitsliteratur Israels und besonders auch die Psalmen laden ein, dafür dem Schöpfer Dank zu sagen und sein Lob zu singen. Christlicher Glaube, der ja die Tradition der gesamten biblischen Überlieferung einschließt, versteht sich – wie zutiefst auch die jüdische Frömmigkeit – als ein „Resonanzgeschehen“ (Hartmut Rosa).


Es gibt ein merkwürdiges Jesuswort von den „Kindern, die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen: „Wir haben für euch auf der Flöte (Hochzeitslieder) gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht geweint“ (Lk 7,32). Ich verstehe dieses Wort in diesem Sinn: Gottes machtvolle Liebe, die sich in seinen Werken und in der Heilsgeschichte zeigt, will nicht echolos, nicht resonanzlos bleiben. Das Wort scheint zu bezeugen, dass Jesus manchmal auch angesichts der Erfolglosigkeit seiner Predigt Anfechtungen von Resignation durchstehen musste.
Ich wage es einmal, einen aus unseren Erfahrungen mit der Corona-Pandemie sich nahe legenden Vergleich heranziehen. Welcher Künstler sehnt sich nicht nach einem Publikum, das seine Künste auch dankbar würdigen kann? Die derzeitigen staatlichen Vorschriften zur Bekämpfung der Pandemie dünnen nicht nur unseren Kirchenbesuch aus. Teilweise sind auch Theater, Kinos und Schaubühnen ganz geschlossen. Die Künstler klagen über das fehlende Publikum, das ausbleibende „Echo“, das ja erst aus einem Kunstwerk ein Kunstereignis macht, aus einem Monolog einen Dialog, aus einem Spielangebot ein Mitspielen vieler.


Jesus dürfte seine Sendung in Israel als Einladung zum Spiel der Liebe mit seinem Gott und Vater verstanden haben. Seine Gleichnis-Reden z. B. sind voll von Gastmahl-Geschichten. Wir sind zu einem Fest Eingeladene! Das ist an sich eine merkwürdige Weise, von Gott und seinem Handeln am Menschen zu sprechen. Die Bildgeschichten Jesu sind uns so vertraut, dass wir das Befremdliche an ihnen oft nicht mehr wahrnehmen. Die Metapher des Festes  bzw. des Festmahles ist mehr als ein Bild. Es enthält die Sache des Reiches Gottes. Es zielt im Kernpunkt auf einen Dialog nie endender, spielerischer, seliger Liebe.


Damit berühre ich einen mir wichtigen Aspekt meines christlichen Glaubens: die Einladung, in die Danksagung an Gott (griechisch: eucharistia) einzustimmen, zum einen in die liturgisch-sakramentale Danksagung der Kirche an Gott „durch, in und mit Christus“, zum ande-ren in die Danksagung mit meinem persönlichen Leben als „geistigen Gottesdienst“ (Röm 12,1), auch wenn dieser mühselig und fragmentarisch bleibt.


Paulus kann am Ende eines kurzen Dankbriefes an die Gemeinde in Korinth für deren Geld-spende völlig unvermittelt mit dem Ausruf schließen: „Dank sei Gott für sein unfassbares Geschenk!“ (2 Kor 9,15). Die staunenswerten Dinge der Schöpfung bzw. menschlichen Gaben und Geschenke werden gleichsam zu Zeichen für das „Ursakrament“ Jesus Christus, das in seiner Person das alles Begreifen übersteigende Geschenk des barmherzigen Zuwendung Gottes zu allem darstellt, was er geschaffen hat und im Leben erhalten will.


In dieser durchtragenden eucharistia sieht der Apostel die innerste Mitte seines ganzen apostolischen Wirkens. In einem Schreiben wieder an die Gemeinde in Korinth weiß er von seinen Nöten und Leiden zu berichten, die er in seinem Dienst als Apostel auf sich nimmt. Und er beschließt die Hinweise auf diese Mühen und Strapazen mit den Worten: „Alles tun wir euretwegen, damit immer mehr Menschen aufgrund der überreich gewordenen Gnade den Dank (eucharistia) vervielfachen zur Verherrlichung Gottes“ (2 Kor 4,15).

 
Für mich ist diese Briefstelle ein Schlüsselwort meines Christseins geworden, auch meines Selbstverständnisses als Priester und Bischof inmitten vieler Mitchristen und auch Zeitgenos-sen, die „dem Geist des Reiches Gottes nicht fern sind“ (Mk 12,34). Die Kirche ist letztlich dazu da, in jeder Generation und Zeitepoche  neu „den Dank an Gott zu vervielfachen“. Und das geschieht auf vielfache Weise – auch heute. Dieser unaufhörliche Dank ist gleichsam das „Grundwasser“ kirchlichen Lebens und Handelns, aus dem immer neue geistliche Fruchtbar-keit erwachsen kann. Wie unzählige Getaufte vor mir und neben mir versuche ich, mich mit dem Beistand „von oben“ in diese „Dankerstattung“ einzubringen. Damit habe ich noch lange zu tun.