Vision wurde Wirklichkeit

Festvortrag von Bischof em. Joachim Wanke zum 25. Jubiläum der Universitätsgesellschaft Erfurt

"25 Jahre Universitätsgesellschaft - 25 Jahre Bürgerbewegung für die Wiederbegründung der alten Erfurter Universität und des Aufbaus des Collegium maius". Das ist durchaus ein Grund zum Innehalten, zum Gedenken, ja zum Feiern. 

"Der Weg von der Idee bis zur Neugründung der Universität Erfurt 1994 war weder geradlinig noch kontinuierlich", so formulierte es einmal der Präsident unserer Universitätsgesellschaft, Dr. Anselm Räder, in einem Geleitwort zu einem Buch über die Geschichte der Erfurter Universität. Und Dr. Steffen Raßloff stellte in einer Übersicht über die kurze Geschichte der Universitätsgesellschaft fest: "Mit der Renaissance der traditionsreichen Alma mater Erfordensis hatte sich eine zentrale Zielstellung (sc. der Universitätsgesellschaft) verwirklicht. Nur wenigen DDR-Bürgerinitiativen war ein derartiger Erfolg nach 1989/90 vergönnt." Aber er spricht auch offen von den "schmerzhaften Reibungen", die sich im Laufe der Jahre angesichts unterschiedlicher Interessenlagen der handelnden Personen und Institutionen ergaben.  

Heute sind wir hier zusammengekommen, nicht um diese "Reibungen" in den Blick zu rücken, sondern um zu feiern. Man mag sich fragen: Was sind schon 25 Jahre angesichts einer so langen Stadt- und Universitätsgeschichte? Was freilich dem Gedenken an die Gründung dieser Bürgerbewegung eine besondere Note verleiht, ist die Tatsache, dass sie schon vor dem gesellschaftlichen und politischen Umbruch 1989/90, also noch in der alten DDR-Zeit, gegründet wurde. Sie sammelte Bürger der Stadt Erfurt, die sich - im Gegensatz zu den Interessen der damaligen Machthaber - für die Wiederbegründung der über 200 Jahre erloschenen Universitätstradition Erfurts einsetzten. Das ist übrigens eine beachtenswerte Parallele zur Gründungsgeschichte der Universität im Mittelalter, die ja bekanntlich auch auf die Initiative der damaligen Bürgerschaft hin entstand, also nicht aus kirchlicher oder fürstlicher Initiative heraus.  

Es war damals vor den Ereignissen der so genannten "Wende" nur eine Handvoll Bürger, inspiriert durch den Mediziner Dr. Aribert Spiegler, die sich am 15. Oktober 1987 zu einer "Interessengemeinschaft Alte Universität" unter dem Dach des damaligen Kulturbundes mit dieser Zielsetzung zusammenschlossen. Aber man kann sagen: Diese Vision einer Sicherung und Rettung der alten universitären Orte unserer Stadt und ihrer möglichen Wiederbelebung zündete. Ich erinnere mich noch an die Aktion, solche Orte in der Stadt mit Gedenktafeln auszustatten, die an die alte Universitätstradition erinnerten. Am Aufgang zum Philosophisch-Theologischen Studium vom Domplatz her, an der so genannten Totentreppe, wurde z. B. eine solche Gedenktafel angebracht. Damals war noch nicht im Entferntesten an eine Neugründung der Universität zu denken. Das wurde erst später möglich.  

Es ist ja bekannt, dass die Altstadt Erfurts von den damals zuständigen Behörden ohnehin sträflich vernachlässigt wurde. Die Warnrufe der verantwortungsbewussten Denkmalpfleger blieben weithin echolos. Es gab Pläne, Teile der Altstadt für neue Straßen mitten durch die Innenstadt zu opfern. So verband sich das Interesse an den historischen Orten der alten Universität mit dem Interesse der Bürger, überhaupt die wertvolle Innenstadt Erfurts vor Teilabriss und völligem Verfall zu retten. Ich weiß noch, dass die Aktion "Ein Bürgerwall für unsere Altstadt" am 10. Dezember 1989, angeregt von der Interessengemeinschaft, breite Zustimmung und Anteilnahme fand. Auch die von der Interessengemeinschaft angeregten Altstadtfeste mit ihrem historischen Flair, bis heute beliebt, haben ihren Teil zur Weckung dieses Bewusstseins beigetragen, welchen Schatz unsere Stadt mit ihrem historischen Stadtkern eigentlich besitzt. 

Es gehört mit zu den besten Früchten des politischen Umbruchs vor zwei Jahrzehnten, dass der Altstadt Erfurts wieder neuer Glanz und neue Ansehnlichkeit verliehen worden ist. Die Gäste unserer Stadt, die Erfurt noch von früher kannten, bestätigen das. In den letzten zwei Jahrzehnten ist eine enorme Aufbauarbeit geleistet worden. Ich denke beispielsweise an die Aktion "Neue Dächer für Erfurt", die mit dazu beitrug, viel an historischer Bausubstanz in der Altstadt zu retten. Erfurt hat dank des Einsatzes so vieler Menschen und Institutionen, nicht zuletzt der Aufbauhilfen Ost, eines rührigen Magistrats und fleißiger Handwerksbetriebe, wieder eine attraktive Altstadt, die nicht nur für den Tourismus anziehend ist, sondern auch dem Studien- und Wissenschaftsstandort Erfurt zu Gute kommt.

Freilich: Nicht alle Pläne sind so verwirklicht worden, wie einmal angedacht. Erfurt hat keine Volluniversität erhalten. Auch die Idee einer Europäischen Universität hat sich - zumindest so wie geplant - nicht verwirklichen lassen. Und der Ort, an dem wir uns jetzt befinden, das Collegium maius, ist zwar aufgebaut, sogar hervorragend! Aber es mag für manche ein Wermutstropfen gerade in dieser Feststunde sein, dass dieses traditionsreiche Gebäude nicht primär der Universität dient. Umso schöner ist es und umso dankbarer sind wir, dass wir dennoch hier unsere Feier halten können - dank der Gastfreundschaft der Kirchenleitung der EKM. Aber die Finanzausstattung der jungen Universität reichte eben nicht aus, die Neuerrichtung des Kollegs in eigene Regie zu nehmen.  

Ich erinnere noch einmal an die bewegten Grußworte von Dr. Räder anlässlich der Einweihung des Collegium maius am 24. Juni 2011, in der er mit einem lachenden und einem weinenden Auge den neuen Nutzern zur Vollendung des Wiederaufbaus gratulierte. Ich bin der Kirchenleitung der EKM dankbar, dass sie diesen historischen Saal des alten Kollegs, in dem die Festsitzungen und Promotionen der mittelalterlichen Universität stattfanden, für die Bürger der Stadt und auch für Feiern der Universitätsgesellschaft offen hält. Auch erinnert eine kleine Dauerausstellung im Eingangsbereich an die universitäre Tradition dieses Hauses. Gleich in der Nachbarschaft befindet sich die neu gestaltete mittelalterliche Georgenburse, das Augustinerkloster mit der Bet- und Studierzelle Martin Luthers, ferner das neu gestaltete Gästehaus der heutigen Universität. Die nahe gelegene Michaeliskirche und natürlich auch die Engelsburg erinnern an wichtige Etappen der Universitäts- und Stadtgeschichte. Ferner machen die wiederbelebten Studienräume der Katholisch-Theologischen Fakultät am Dom mit dem historischen Hörsaal "Coelicum" die Universität auch in der Innenstadt präsent. Manche öffentliche Vorlesungen für ein interessiertes Publikum, nicht zuletzt auch von der Universitätsgesellschaft getragen, finden hier statt. So verknüpfen sich an den genannten Orten Vergangenheit mit Gegenwart. Wir werden daran erinnert, dass Geschichte immer Bewegung und Veränderung mit sich bringt.  

Auf unserer Einladung zum heutigen Abend ist das Signet der Universitätsgesellschaft in seinem Wandel dargestellt. Das erste Signet trägt die Umschrift: Interessengemeinschaft Alte Universität Erfurt. Beim zweiten Signet findet sich der Aufdruck: für eine Europäische Universität Erfurt, und schließlich das jetzt gültige und wohl bleibende Signet: Universitätsgesellschaft Erfurt e.V. Im Wandel der Umschrift zeigt sich der Wandel bzw. die Akzentverschiebung der Aufgabenstellung unserer Gesellschaft, die sich jetzt als Hauptaufgabe darauf konzentriert, "den Aufbau und die Entwicklung der Universität Erfurt zu fördern und zu unterstützen" (§ 2,1 des jetzigen Statuts). Und das ist eine Aufgabe, die eines vollen Einsatzes wert ist.  

Das Kontinuum im Signet ist und bleibt das Symbol des Hauptportals des Collegium maius mit dem Mainzer bzw. Erfurter Rad. Dagegen wird die Kirchenleitung sicher nichts einzuwenden haben. Doch - so mein erstes Anliegen am heutigen Abend - es sollte unserer Gesellschaft nicht zuerst um Gebäude und historische Orte gehen. 

Nochmals: Wir sollten heute zunächst einmal dankbar feiern, dass von der 25-jährigen Bürgerinitiative Alte Universität in überraschend kurzer Zeit, natürlich im Zusammenspiel mit dem Land Thüringen, dem Magistrat der Stadt, dem Wissenschaftsrat und anderen Institutionen und Persönlichkeiten in- und außerhalb Erfurts die Wiederbegründung der Erfurter Universität erreicht worden ist. Es wären hier viele Namen in Dankbarkeit zu nennen, wobei immer die Gefahr besteht, andere ebenso verdienstvolle Persönlichkeiten nicht zu nennen. Aber ich verrate kein Geheimnis, wenn ich hier besonders als entscheidenden Förderer einer Wiederbegründung der Erfurter Universität den damaligen Ministerpräsidenten Dr. Bernhard Vogel hervorhebe, der zudem für diese Idee viele Freunde und Unterstützer gewonnen hat. Wie gesagt: ein Name unter vielen, die hier genannt werden müssten - von Seiten der Stadt neben Altbürgermeister Manfred Ruge den unverdrossen einsatzbereiten Christian Piossek, von Seiten unserer theologischen Fakultät beispielsweise den verstorbenen Professor Wilhelm Ernst, der auch über unsere Kirche und Fakultät hinaus erfolgreiche Lobbyarbeit für die Universität geleistet hat. Es war ja bekanntlich nicht leicht, unsere kirchliche Studieneinrichtung, die übrigens in diesem Jahr auf ihr 60-jähriges Bestehen zurückblicken kann, als vierte Fakultät in die neue Universität einzubringen. Es war ein "geduldiges Bohren dicker Bretter" notwendig - aber Sie sehen, auch mit Rom lässt sich reden. (Und wir mussten ja nicht mit zwei Gegenpäpsten reden wie damals am Ende des 14. Jahrhunderts, sondern nur mit einem, zudem einem Papst, der für Universitäten etwas übrig hat.)  

Ja, wir haben Grund zur Dankbarkeit für einen - im Blick auf historische Vorgänge und deren meist lange Dauer erstaunlich schnelle Erfolgsgeschichte der damals gegründeten Interessengemeinschaft Alte Universität. Hier zumindest haben die Erfurter nicht die Gunst der Stunde verschlafen. Wir sollten freilich darum besorgt sein, dass dieser grundsätzliche Erfolg nicht in bürokratischen Hürden, unter dem Vorwand ökonomischer Zwänge und durch kleinteiliges, von Neiddebatten vergiftetes Denken doch noch um seine Früchte gebracht wird. Und das ist das zweite, mir wichtigere Anliegen meiner heutigen Rede.  

Ich bringe dieses Anliegen einmal so auf den Punkt: Erfurt sollte von Anfang an mit seiner Universität nicht einfach eine Kopie bestehender Universitäten werden. Sie ist als Reformuniversität konzipiert worden. Die Idee einer Reformuniversität setzt beim Gedanken einer ganzheitlichen Bildung an, die dort stark gemacht werden muss, wo gesellschaftliche Teilinteressen, etwa ökonomischer Art, die Universität als Stätte einer umfassenden Bildung für ihre Belange in Beschlag zu nehmen drohen. 

Es geht also um das Gelingen einer viel größeren Aufgabe als nur eine weitere Universität, etwa gar unter der Sparte "geisteswissenschaftliche Schmalspuruniversität", ins Laufen zu bringen. Angesichts einer Wissensgesellschaft, die immer stärker vom Zugriff des menschlichen Geistes auf die Natur und deren technische Indienstnahme, neuerdings besonders durch die Biowissenschaften geprägt ist, gilt es eine universitäre Idee wiederzubeleben, die sich solchen Einseitigkeiten widersetzt. Gerade die Geistes- und Kulturwissenschaften können helfen, uns nicht bedingungslos dem Diktat des Machbaren zu unterwerfen. Dürfen bzw. sollen wir wirklich alles tun, was wir können? Was mir derzeit wieder neu bewusst wird: Auf dem Hintergrund der diesjährigen Nobelpreise in den naturwissenschaftlichen Sparten (Physik, Medizin) zeigen sich ethische Fragestellungen, die nicht allein den Naturwissenschaftlern überlassen werden dürfen. Was macht unsere Gesellschaft und deren Zukunft menschlich? Was hilft, die humane Zielsetzung allen wissenschaftlichen Fortschritts zu wahren? Welche Schätze sind im Wissen, in der Geschichte, in der Kultur der Menschheit, nicht zuletzt auch in ihren Religionen gespeichert, die uns heute und morgen helfen könnten, die Zukunft für eine zusammenwachsende Menschheit einer globalen Erde innovationsfähig und ideologiefrei zu gestalten? 

Die heutige Feier ist mir ein Anlass noch einmal an die Empfehlungen des Strukturausschusses der Gründungskommission von 1994 zu erinnern, von Professor Hermann Lübbe damals dem Land Thüringen übergeben. Dort wird der Befürchtung entgegengetreten, die Aufwendungen für die neue Universität könnten bereits bestehende universitäre Einrichtungen des Landes beeinträchtigen. Angesichts einer auf Bildung angewiesenen Wissensgesellschaft braucht es ohnehin neue Studienplätze. Und das bedeutet: Es braucht so oder so zusätzliche Finanzmittel. In den Empfehlungen lese ich - ich zitiere: 
"Zwei Gründe sprechen dafür, diese Mittel, statt für die Erweiterung bestehender Hochschulen, für die Gründung einer neuen zu nutzen. Erstens begünstigen kleinere Hochschuleinrichtungen die Lehre durch größere kommunikative Dichte, ohne die Forschung zu benachteiligen, die heute ohnehin auf interuniversitäre Kooperation angewiesen ist. Zweitens wird Gründungen die Gunst des Anfangs zuteil, die fällige Innovationen erleichtert. Beide Gründe rechtfertigen dann den zusätzlichen schönen Zweck, eine traditionsreiche Stadt, die inzwischen zur Landeshauptstadt geworden ist, erneut zur Universitätsstadt zu machen" (S.8).  

Die Empfehlungen des Strukturausschusses zielen in die Richtung, an der Universität Erfurt Fächer stark zu machen, "deren universitäre Präsenz in Deutschland der Stärkung bedarf" (S.14). Beispielsweise wird von der Gründungskommission auf die Stärkung der Bevölkerungswissenschaft hingewiesen, was in einer Zeit des demographischen Wandels und der Migrationsprobleme von großer Bedeutung ist, wie uns ja auch gegenwärtig die Tagespolitik signalisiert. Erfurts neue Universität sollte nicht der Versuchung erliegen, ihre Nützlichkeit für die Industrieentwicklung Thüringens als Legitimationsgrund ihrer Existenz stark zu machen. Und auch das grundständige Jurastudium wird man sicher besser an einer großen Universität wie Jena ansiedeln, wo die größeren Zahlen der Studierenden manches kostengünstiger machen. Zudem hat Erfurt sehr schmerzhaft selbst ein Opfer für eine Neuordnung der Thüringer Hochschullandschaft Thüringen gebracht, als es mit Schmerzen auf seine Medizinische Akademie verzichtete. 

Nein: Die Erfurter Universität will nicht auf fremde Kosten leben. Sie will unsere Hochschullandschaft bereichern, und zwar durch "Farben", die andernorts fehlen. Der Strukturausschuss weist beispielsweise darauf hin, dass etwa die Entwicklung eines Fachbereichs "Kulturgeschichte des Christentums" in Erfurt für das Selbstverständnis einer Gesellschaft, die ihren Weg zwischen Ökologie und Ökonomie suchen muss, von großer Bedeutung ist. Hier können kultur- und religionshistoriographische und auch soziologische Forschungen, für die das Max-Weber-Kolleg steht, einander befruchten und durch ihre Interaktion wichtige Orientierungen in die Gesellschaft hinein vermitteln. Gerade so ergibt sich eine interdisziplinäre Spannweite für eine Forschung, die an großen Universitäten zum Teil im Tagesgeschäft einer sicher auch notwendigen Quantität an Ausbildung unterzugehen droht. 

Ich zitiere noch einmal aus den genannten Empfehlungen von 1994: "Für weite Bereiche sozialwissenschaftlicher Theoriebildung gilt, dass sie ohne geschichtswissenschaftliche Rückbindung keine ausreichende empirische Basis fände, und umgekehrt setzen historische Erklärungen, als integraler Teil geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeit, heute die Nutzung der theoretischen Erklärungspotentiale voraus, die von den Sozialwissenschaften zur Verfügung gestellt werden" (S.15).

Dass sich die Katholisch-Theologische Fakultät, die sich stets als Stützpfeiler der Universität Erfurt verstanden hat und versteht, hier mit ihrer Arbeit einbringen will und kann, hat sie inzwischen schon bewiesen. Ich denke nur an das Forschungsprogramm unserer Fakultät zu den Flüchtlingsbewegungen der Neuzeit, oder die Untersuchung alter und neuerer Ritualgeschichte, die weit über den Kirchenraum hinaus gesellschaftliches Leben erhellen kann. Oder was wäre ein Beitrag zum Verstehen der Reformation, zumal in Erfurt, wenn die Theologie nicht mit der Kulturwissenschaft in ein gegenseitiges Gespräch kommt, um zu verstehen, was damals passierte und umso zu fragen, was morgen unsere Visionen beflügeln könnte. 

Noch einmal: Nicht die Durchsetzung des Bologna-Prozesse macht eine Universität zur Reformuniversität (zumal man den Eindruck hat, diesbezüglich sei das letzte Wort noch nicht gesprochen). Auch wenn Erfurt vorerst - und das sollte durchaus unser Einverständnis haben - eine kleine, geisteswissenschaftliche Universität bleiben wird, also der Traum einer Volluniversität aus verständlichen Gründen nicht zu realisieren ist: Erfurt kann durchaus durch Brillanz leuchten und muss sich nicht durch Masse beweisen. Wenn freilich die Qualität und die Finanzausstattung der Thüringer Hochschulen nach der Anzahl der Köpfe der Erstsemester bemessen wird, kann Erfurt mit seiner Ursprungsidee als Reformuniversität keine Zukunft haben. Aber dann dürften wohl bald auch die Bauhausuniversität und die Musikhochschule in ihrem Bestand angefragt sein.  

Ich sehe durchaus Chancen für die Zukunft einer Erfurter Universität, die sich weiterhin ihrem damaligen Reformansatz verpflichtet weiß - und in diesem Bestreben von der Landesregierung und dem Thüringer Landtag unterstützt wird. Erfurt hat viele noch nicht genutzte Potentiale. Ich schaue auf Gotha und die dort vorhandenen Schätze, ich sehe den kostbaren Edelstein "Sammlung Amploniana" (aus der ich dem Papst im letzten Jahr bei seinem Besuch noch unbekannte Augustinusbriefe überreichen konnte, was ihn sehr erfreute!). Ich sehe eine geistesgeschichtliche Landschaft gerade auch in den neuen Bundesländern, die nach mehr Ausschau hält und halten sollte als nach Investoren und Industriestandorten - so wichtig diese auch sind. Ist denn das "Weimarer Ereignis" um 1800 nur bedeutsam, weil es uns Touristen nach Weimar und Jena lockt? Wenn Thüringen auf Bildung setzt und auf das fruchtbare Gespräch zwischen Tradition und Moderne, zwischen Geschichte und heutigen Herausforderungen braucht es geradezu eine Denk-, Forschungs- und Lehrstätte wie die Erfurter Universität. Es braucht den Blick auf die ganze menschliche und gesellschaftliche Wirklichkeit, auf Kultur und Religion, auf die Wissenschaft insgesamt und besonders auf das, was sie aus uns macht.  

Ich zitiere abschließend einmal aus der Stellungnahme des Wissenschaftsrates von 1995, eines Gremiums, das bekanntlich sehr restriktiv mit Empfehlungen umgeht, die Geld kosten. Der Wissenschaftsrat hat damals ein eindeutig positives Votum für die Aufnahme der Erfurter Universität in das deutsche Hochschulverzeichnis (und damit verbunden mit Zugang zu den entsprechenden Fördermöglichkeiten) ausgesprochen. Aber wir sollten dieses Votum auch weiterhin in seiner Differenziertheit sehr wach wahrnehmen. 

Wörtlich heißt es in diesem Votum:

"Der Wissenschaftsrat unterstützt das mit der Gründung einer Universität in Erfurt verbundene Konzept, da es durch eine überschaubare Größe, neue Studienangebote, eine neuartige Lehr- und Forschungsorganisation sowie durch die spezifische kulturwissenschaftliche Ausrichtung ein eigenes Profil für die Universität anstrebt. Mit einem solchen Profil ergänzt die Universität Erfurt das Hochschulsystem in Deutschland um innovatorische Aspekte. Die Realisierung des fachlichen Konzeptes ist geeignet, auf Forschung und Lehre in bestehenden Universitäten zurückzuwirken, wie es mit Blick auf den Stand und die notwendige Weiterentwicklung der Geisteswissenschaften wünschenswert ist" (S.69).  

Dem ist nichts hinzuzufügen. Aber dies in den Alltag des Universitätslebens umzusetzen, Studenten und Professoren dafür zu begeistern, Verständnis in Landtagsausschüssen in Zeiten des knappen Geldes zu finden, bleibt eine große Herausforderung. Helfen wir als Universitätsgesellschaft mit, sich bei den Bürgern unserer Stadt und bei allen Verantwortungsträgern für ein solches Profil unserer so alten und doch noch so jungen Universität einzusetzen.


Vortrag gehalten am 15.10.2012 im Collegium maius.