Wallfahrt im Jubiläumsjahr 2000 - zwei Jahrtausende nach Jesus Christus!
Zahlreiche Jubiläumsveranstaltungen fanden in diesem Jahr statt und werden noch stattfinden. Die runde Jahreszahl hat ihre Faszination. Freilich: Wird von diesem Jahr mehr bleiben als die Erinnerung an Feuerwerk und Knallen von Sektkorken?
Wird uns Christen dieses Jubiläumsjahr verändern - oder gehen wir einfach nach diesem Jubiläum zur Tagesordnung über? Dieser Auftrag Jesu sitzt mir wie ein Stachel im Fleisch: „Macht alle Menschen zu meinen Jüngern!" - Auch in Thüringen?
„Seit 2000 Jahren gibt es das Christentum", sagte ein Schüler im Religionsunterricht. „Ich sehe aber nicht, dass es die Menschen besser gemacht hat!" „Seit 2 Milliarden Jahren gibt es Wasser", antwortete der Pfarrer. „Und nun schau Dir einmal deinen Hals an!"
Dieser humorvolle Wortwechsel sagt über die Situation des Christentums 2000 Jahre nach Christus mehr als eine lange Predigt. Man muss von einer Sache Gebrauch machen - erst dann kann man sagen: Sie ist gut - für mich und auch gut für andere.
Haben wir Christen den vielen, die hier in unserem Land Gott und Jesus Christus nicht mehr kennen, etwas vorenthalten? Bleiben wir ihnen nicht etwas schuldig - das Zeugnis unseres christlichen Glaubens?
In diesem Jubiläumsjahr hat unser Papst vor aller Welt ein Schuldbekenntnis für die Sünden der Christenheit abgelegt. Das hat viel Beachtung gefunden und Nachdenklichkeit ausgelöst. Müssten wir Christen, die in diesem Land zur Minderheit geworden sind, nicht auch ein Schuldbekenntnis ablegen? Und zwar dieses: Wir bleiben unter uns, beschäftigen uns mit unseren eigenen Sorgen und Problemen und allen möglichen innerkirchlichen Querelen - und überhören den Auftrag unseres Herrn, den Menschen an unserer Seite das Evangelium zu bringen. Das ist ja doch der eigentliche Sinn von Kirche: Sie ist nicht für sich selbst da. Sie ist für die Menschen da. Sie muss „um Gottes Willen den Menschen nahe" sein.
Darum ist eine erste Konsequenz aus dem Heiligen Jahr diese:
Lasst uns mit Freude, zwar demütig, aber doch selbstbewusst Christen sein!
Der katholische Glaube und die Verbindung mit der Pfarrgemeinde haben unserem Leben in den DDR-Jahrzehnten Halt gegeben. Wir sollten uns jetzt nicht durch die offene, liberale Gesellschaft im Glauben verunsichern lassen. Es gibt auch heute keinen anderen, der „Worte des Lebens" hat, als Jesus Christus allein. Nicht der Quelle-Katalog und der Otto-Versand machen uns reich (schön, dass es so etwas gibt). Reich sind wir, weil wir durch Jesus Christus Gott kennen und noch am Grab das österliche Alleluja anzustimmen wagen.
Gebrauch machen vom Evangelium! Das Taufwasser im eigenen Leben wirksam werden lassen! Die Gesinnung Christi wirklich zur eigenen innersten Lebenshaltung machen - nicht nur, wenn wir ins Gesangbuch schauen, sondern dann, wenn wir unseren Mitmenschen ins Gesicht schauen!
Aber ich füge gleich hinzu, und das ist heute mein wichtigstes Anliegen:
Lasst uns Christen sein, die ihren Glauben nicht verstecken. „Geht, verkündet
das Evangelium!" „Seid meine Zeugen!", so ruft es uns der Herr zu.
Bewegt uns dieser Auftrag Christi? Macht er uns unruhig? Ich muss sagen: Mich bedrängt, dass in dieser Stadt, in unserem Thüringer Land Menschen leben, die Gott nicht kennen, nicht wirklich existentiell kennen. Die Mehrzahl der Einwohner Thüringens hat vergessen, dass dieses Land christliche Wurzeln hat. Das kann und darf uns nicht ruhig lassen. Darum muss das Jahr 2000 - wenn es denn überhaupt einen Sinn hat - unter uns diesen Impuls auslösen:
Das Evangelium Jesu Christi muss neu zu den Menschen kommen!
Unser Freistaat beruft sich auf Elisabeth und Luther, auf Meister Eckehard und Bach, aber die meisten Menschen wissen nicht mehr, woraus diese Personen gelebt und worauf sie gehofft haben. Die Leute besichtigen die Dome, Kirchen und christlichen Denkmale und wissen in diesem Stammland der Reformation nicht mehr, warum und wofür sie gebaut sind.
Es mag ihnen so gehen, wie einem Weimarer Kunstprofessor des vorigen Jahrhunderts. Als er zum Sterben kam, reichte man ihm ein Kruzifix. Er sah es an, murmelte noch mit schwacher Stimme: „Herzogliche Kunstsammlungen, Weimarer Zopfstil, 18. Jahrhundert" und drehte sich zur Wand um - und starb. Wir haben das kostbarste Erbe verschleudert, das wir besitzen: Gott zu kennen, wie ihn uns Jesus Christus bekannt gemacht hat.
Natürlich kann man sagen: Diese Entchristlichung Thüringens hat ihre Geschichte. Vieles erklärt sich aus der Vergangenheit, etwa aus den DDR-Jahrzehnten mit ihrer systematischen Bekämpfung der christlichen Religion, ihrer Verdrängung aus der Öffentlichkeit. Aber dürfen wir uns damit beruhigen? Gibt es denn wirklich keine Chancen, neu den christlichen Glauben den Menschen nahe zu bringen?
Ich gebe zu: Die Menschen sind heute misstrauisch, wenn sie das Gefühl haben, für etwas „geworben" zu werden. Mir geht es selbst so. Nein - wir Christen werben nicht für einen Verein. Wir werben vielmehr für eine bestimmte Lebenssicht, für einen bestimmten Lebensstil. Wir werben für ein Leben mit einem weiten Horizont, weiter als alle Reisebüros zusammen ihn uns vermitteln können.
Wie mag solche Horizonterweiterung konkret zustande kommen?
Ich meine so: dass wir selbst glaubwürdig Christen sind, dass wir uns unseres Gottesglaubens nicht schämen, dass wir frohgemut Gottesdienst feiern, dass wir zu unseren Mitmenschen von Herzen gut sind. Und: dass wir jedem Rede und Antwort stehen, der nach der Hoffnung fragt, die uns erfüllt (vgl. 1 Petr 3,15).
Es gibt Fragen, die irgendwann jedem von Ihnen schon einmal gestellt worden sind. „Wie machst Du das nur?" „ Wie bist Du damit nur fertig geworden?" „Kannst Du mir nicht einmal in meiner schwierigen Situation raten?" Die Leute erwarten keine religiösen Ansprachen. Aber sie erwarten, dass Du dann ganz wach da bist - mit Hand, Herz und Mund. Ja, auch mit einem guten Wort. Denn unser Glaube braucht nicht stumm zu bleiben. Unser Gott hat ein Gesicht und einen Namen, den man anrufen kann: Jesus Christus. Das Wort der Heiligen Schrift spricht auch heute. Und auch Menschen, die noch nicht zur Kirche gehen, können schon anfangen zu beten.
Du bist ja in Deiner Umgebung als Christ bekannt. Man schaut auf Dich. Man bewertet Dein Leben. Das ist uns manchmal lästig. Aber das ist auch eine Chance. Sag einfach, woraus Du lebst. Steh dazu, dass Du nicht nur aus Gewohnheit zur Kirche gehst, sondern dass Dir der Gottesdienst wichtig ist, „weil der Mensch eben nicht nur vom Brot allein lebt, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt" (Mt 4,4).
„Gestandene" christliche Frauen und Männer, die aus einem entschiedenen Gottesglauben ihr Leben meistern, aber auch Christen, die selbst mit einem schweren Lebenskreuz zu ringen haben, etwa einer Krankheit, sind durchaus für ihre Mitmenschen interessant - wenn denn gespürt wird: Das sind Menschen, die glaubwürdig sind. Christen sind nicht Leute, denen immer und sofort alles gelingt. Im Bild gesprochen. Man kann sogar mit leicht „angeschwärztem Hals" einen anderen auf Wasser aufmerksam machen! Hier geht es nicht um 100-Prozentigkeit! Aber kritische Zeitgenossen spüren sofort, aus welchen Quellen einer lebt, besonders dann, wenn er allen Grund hätte, am Leben und an der Welt zu verzweifeln.
Schon heute gibt es in Thüringen der Kirche völlig fernstehende Menschen, die anfangen, nach dem Gottesglauben und nach der Taufe zu fragen. Es sind keine Massen, aber solche Nachfragen nehmen zu, meist aus Familien, in denen Gott und Kirche schon seit langem Fremdworte sind. Es sind freilich auch Getaufte darunter, im Eichsfeld etwa, aber nicht nur dort, die irgendwann den Anschluss an die Gemeinde verloren hatten - und nun nach einem Neuanfang im Christsein suchen.
Lasst mich hier - auch aus gegebenem Anlass - auch dies sagen: Die Sorge, ob und wie meine ungetauften Thüringer Mitbürger zu Christus finden, ist mir weitaus wichtiger als die Frage, ob die evangelischen Mitchristen mein katholisches Kirchenverständnis bejahen oder nicht bejahen. Natürlich glauben wir als Katholiken, dass in unserer Kirche Gott uns alles gegeben hat, was wir zum Heile brauchen. Kardinal Ratzinger hat uns soeben wieder daran erinnert. Aber angesichts der konkreten Situation, in der wir uns hier in den neuen Bundesländern befinden, wäre es verheerend, wenn wir jetzt als Katholiken und Protestanten uns gegenseitig unser jeweiliges Selbstverständnis um die Ohren hauen.
Natürlich liebe ich meine katholische Kirche, ebenso wie Kardinal Ratzinger. Und ich halte sie für die einzig richtige, die für mich in Frage kommt. Aber es ist so wie bei verliebten jungen Leuten. Für den, der wirklich Feuer gefangen hat, gibt es nur die eine und umgekehrt. Dass es noch andere durchaus auch hübsche Mädchen und Burschen gibt, bleibt ausgeblendet. Vermutlich muss das ausgeblendet bleiben, sonst wird es nichts mit den beiden.
Genau das ist - im Bild gesprochen - die Schwierigkeit, gleichsam der Spagat einer echten Ökumene. Man muss Herz und Verstand zusammen sprechen lassen. Die eigene Kirche lieben, aber die anderen Mitchristen nicht verketzern, mehr noch: sie mit Sympathie im Blick behalten! Uns Katholiken tut es gut, wenn wir bei unseren evangelischen Glaubensgeschwistern viele Dinge entdecken, die Gottes Heiliger Geist bewirkt. Darüber dürfen wir uns freuen.
Etwa, wie hier bei uns in Erfurt die evangelischen Schwestern vom Casteller Ring wirken, wie sie ehrfürchtig jeden Sonntag das Abendmahl feiern, das Chorgebet halten und den Menschen in ihren Sorgen und Nöten nahe sind. Das ist konkretes Christuszeugnis! Möchten doch viele von uns sich davon für ihr eigenes Christsein, ob katholisch oder evangelisch beflügeln lassen! Das heiße ich einen wahrhaft edlen und verdienstvollen ökumenischen Wettstreit: Wie wir am besten Christus und den Menschen dienen können! Was freilich nicht heißt, dass ich bei der Entscheidung für meine Kirche keine guten theologischen Gründe habe. Auch in der Frömmigkeit soll man nicht das Nachdenken suspendieren. (Das sollten übrigens auch Verliebte nicht tun -beim Flirten den Kopf verlieren!).
Ohne Bild gesprochen: Es gibt noch Unterschiede zwischen Katholisch und Evangelisch. Und daran gilt es weiter geduldig zu arbeiten, mit theologischem Sachverstand, mit Respekt vor der jeweils anderen Tradition und mit dem festen Willen, diese wieder auf Dauer zusammenzuführen. Das braucht ein solides, belastbares Wohlwollen füreinander. Aber darüber ist hier und jetzt nicht zu sprechen. Das sind gleichsam „innerbetriebliche" Fragen.
Wichtiger und um vieles entscheidender ist, ob ungetaufte Thüringer überhaupt die Chance erhalten, Jesus Christus berühren zu können! Ob sie Gottes Wort kennen lernen! Ob sie zum Glauben finden an den, der gesagt hat: „Ich will, dass sie das Leben haben, und es in Fülle haben" (Joh 10,10). Wer Jesus Christus entdeckt, wird auch die Kirche entdecken. So geht der Weg, nicht umgekehrt!
Ich rufe euch, liebe katholische Mitchristen, aber auch alle Christen Thüringens auf, so etwas wie „Lobbyisten" des Evangeliums Jesu zu sein. Ein geflügeltes Wort unter Journalisten lautet: Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht. Gute Nachrichten verbreiten sich im Normalfall nicht so schnell wie Katastrophenmeldungen. Für gute Nachrichten muss man etwas einsetzen. Sie brauchen eine Lobby.
Diese Lobby-Arbeit für seine gute Botschaft will Jesus Christus von uns. Das ist ein klarer Auftrag. Er gilt auch uns in Thüringen. In einer Mittagsveranstaltung soll heute in der Brunnenkirche darüber noch weiter debattiert werden. Wenn wir uns nicht scheuen, unseren Kollegen, Bekannten und Freunden gute Urlaubs- oder Einkaufstipps zu geben - warum sollten wir ihnen nicht sagen dürfen, was uns unser christlicher Glaube bedeutet? Vielleicht ist Gott schon intensiver bei manchen am Werk, als wir meinen. Ich behaupte einmal: Die wenigsten Thüringer sind Atheisten.
Das ist ja ernsthaft auch kaum ein Leben lang durchzuhalten. Aber die meisten unserer Mitbürger trauen der Kirche, den Kirchen nicht recht über den Weg. Sie sehen zu viel Apparat, zu viel bürokratische Behörde. Sie sehen zu wenig Evangelium. Das - so meine ich - muss sich ändern!
Nehmt von dieser Wallfahrt diesen Impuls, diese Botschaft des Jubiläumsjahres 2000 mit: „Das Evangelium in Thüringen auf den Leuchter stellen - auch für NichtChristen!" Das war das Thema des Pastoraltages in unserem Bistum im März 1999 gewesen. Ich werde in Kürze an alle Pfarrgemeinderäte eine Einladung schicken, anhand konkreter Vorschläge einmal in dem einen oder anderen Lebensfeld zu versuchen, „das Evangelium unter die Leute zu bringen". Beratet mit der Pfarrgemeinde darüber und greift einmal ein konkretes Vorhaben auf.
Ich rege an, etwa im Jahr 2002 einmal eine Bestandsaufnahme all der Versuche zu machen, die in diese Richtung gelaufen sind. Es gibt schon eine ganze Reihe guter Einzelbeispiele, etwa:
Aktion „Offene Kirchentür";
Gottesdienste, bei denen auch NichtChristen vorkommen und begrüßt werden;
Christen in der Telefonberatung;
Kirche im offenen Kanal einer Kommune;
christliche Beiträge in Tageszeitungen, im MDR;
nichtgetaufte Jugendliche, nichtchristliche Gäste in unseren kirchlichen Häusern;
NichtChristen, die sich bei der Caritas engagieren, bei den Maltesern, in einer Pfadfindergruppe usf.
Ich selbst merke es immer wieder, wenn ich NichtChristen, etwa Ärzten, Politikern, Wirtschaftsleuten begegne: Man hört durchaus auf das, was unsere Kirche, was christlicher Glaube vom Menschen und zu den Problemen der Zeit zu sagen hat.
Liebe Schwestern und Brüder! Haben wir mehr Selbstbewusstsein! Ich füge gern hinzu: demütiges Selbstbewusstsein! Wir sind reicher als wir meinen. Wir Christen besitzen Hoffnungsgüter, von denen die Welt morgen leben wird. Wir müssen nur selbst davon Gebrauch machen.
2000 Jahre Christentum, 1500 Jahre davon in Thüringen. Wir können nach diesem Jubiläumsjahr nicht einfach zur gewohnten Tagesordnung übergehen. „Gemäß Seinem Willen - den Menschen nahe sein!" Dieses Land wartet auf unser Zeugnis. Der Herr wartet darauf. Verweigern wir uns ihm nicht! Amen.