Selbstloser Einsatz von Ordensleuten ist kein Alibi für "Normalchristen"

Predigt von Altbischof Joachim Wanke im Festgottesdienst zum Jubiläum "150 Jahre Franziskanerinnen im Erfurter Marienstift"

 

 

Wir schauen heute dankbar und mit Freude auf 150 Jahre Präsenz der "Armen Schwestern des Heiligen Franziskus", der Aachener Franziskanerinnen in unserer Stadt Erfurt zurück. Wir Erfurter, aber auch die Gäste aus nah und fern gratulieren Ihnen, liebe Schwestern, sehr herzlich zu diesem beachtlichen Jubiläum. In dieser Heiligen Messe wollen wir mit Ihnen zusammen Gott danken für ein segensreiches Wirkens Ihres Ordens in unserer Stadt in Vergangenheit und Gegenwart.

Das Marienstift ist in der Tat für die Einwohner Erfurts eine gute Adresse, nicht nur für die katholischen Gläubigen. Es hat mich gefreut, dass unser emeritierter Kirchenhistoriker Prof. Josef Pilvousek in diesen Tagen in einem Vortrag die interessante 150-jährige Geschichte dieser Ordensniederlassung samt ihrer nicht einfachen Anfänge dargelegt hat. Ich habe mich auch gefreut, dass unsere lokale Presse sehr freundlich und auch detailliert über das Wirken der Schwestern hier in Erfurt informiert hat - den "Heldenmädchen", wie damals im 19. Jahrhundert ein Journalist die Schwestern tituliert hatte, als er von deren Einsatz für die verwundeten Soldaten aus der Schlacht bei Langensalza und den gefährlichen Krankenbesuchen bei an Cholera erkrankten Erfurter Bürgern berichtete.

Die Schwestern möchten das vermutlich gar nicht so gern hören - denn für sie ist ihr Einsatz zugunsten der Kranken und Schwachen, der Einsamen und Hilflosen selbstverständlich, auch jener Einsatz (ich denke da besonders an die Jahre der Not nach dem letzten Weltkrieg), der nicht so spektakulär aus den unauffälligen Alltagsdiensten der Schwestern herausragt wie jene Dienste damals in der besonderen Not der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. "Dazu sind wir ja da" so werden die Schwestern sagen. "Das ist das Motto unseres Lebens als Ordensschwestern", ganz im Sinne unserer Gründerin, der seligen Franziska Schervier, die damals 1864 die ersten Franziskanerinnen persönlich von Aachen hier her nach Erfurt geleitete.

Es mag ein Zufall sein - aber es fügt sich sehr gut, dass wir heute am 5. Sonntag im Jahreskreis gerade diese Lesungen aus dem Propheten Jesaja und dem Matthäusevangelium hören konnten . Beide passen zur heutigen Stunde und erinnern daran: nicht nur die Franziskanerinnen, sondern wir alle sind zum Dienst am Nächsten aufgerufen.

Was der Prophet vor über 2500 Jahren dem Volk Israel zurief, ist eine zeitlose Mahnung, auch wenn die konkrete Form des Einsatzes für den Nächsten sich in jeder Zeit immer wieder anders gestalten mag: "Brich dem Hungrigen dein Brot, nimm den Obdachlosen in dein Haus auf; bekleide die Nackten, widersetz dich der Gewalt, dem Unrecht, der Verleumdung, und mach den Darbenden satt!" Die Not hat immer wieder andere Gesichter, davon könnten die Franziskanerinnen manches berichten, besonders von der versteckten Not mancher Menschen auch heute - mitten in unserer so reichen Gesellschaft.

Wenn dieser Empfindsamkeit für die Not der Mitmenschen in der Gesellschaft Raum gegeben wird, wenn diese Kraft zur "Empathie" sich in Taten der Nächstenliebe konkretisiert, individuell und institutionell, dann - so sagt der Prophet - "geht im Dunkeln dein Licht auf, und deine Finsternis wird hell wie der Mittag".

Von diesem das Dunkel erhellende Licht ist im Matthäusevangelium die Rede: Die Jünger Jesu können und sollen ein Licht sein, das, auf den Leuchter gestellt, allen im Hause leuchtet.

Der Evangelist hat in unserem Textabschnitt drei Bildworte Jesu aneinander gereiht: das Bildwort vom Salz, vom Licht, von der Stadt auf dem Berg. Diese Bilder sind ganz einfach und verständlich. Man erkennt sofort, was diese Bilder meinen - und, was sie miteinander verbindet. Es wird von Dingen gesprochen, die nicht um ihrer selbst willen da sind. Das Salz soll die Speisen würzen, das Licht soll die Umgebung ausleuchten, die Stadt ist erhöht gebaut, um für andere sichtbar und wegweisend zu sein.

Natürlich steckt in dem Indikativ ("Ihr seid das Salz der Erde!") ein Imperativ ("Seid Salz der Erde!"). Daran gibt es nichts zu deuteln. Aber beides bedingt einander. Die Jünger können der Aufforderung Jesu nur entsprechen, weil sie die würzende, erhellende und orientierende Botschaft kennen: das Evangelium vom Gottesreich, in dessen Dienst sie getreten sind. Das hat auch Euch, liebe Schwestern, und Eure Vorgängerinnen, beim Eintritt in den Orden bewegt. "Wir stellen uns nicht nur einem Anspruch, den wir allein mit unseren schwachen Kräften zu entsprechen haben, sondern uns kommt vom Himmel her ein kraftvoller Zuspruch entgegen: Die Zusage, dass Gott selbst unsere Herzen und Hände immer neu stärkt. Uns ist mehr geschenkt als wir jemals anderen weiterschenken können!"

Unsere Franziskanerinnen im Marienstift sollen uns auch in Zukunft daran erinnern: An diesem Punkt, an der Frage des vom Herrn gebotenen Miteinanders und Füreinanders entscheidet sich die Echtheit unseres Christ-Seins und Kirche-Seins. Erfüllen wir wirklich den Auftrag, den der Herr uns Christenleuten für diese Zeit und Stunde hierzulande gibt? Taugen wir etwas als Kirche? Verweist unser persönliches Leben, das Zeugnis der Kirche insgesamt in all seinen Facetten letztlich auf Jesus Christus, auf sein Beispiel, auf seine Verheißung?

Ich bin als Bischof immer dankbar gewesen, dass es in unserer Stadt, in unserem Bistum, diesen selbstlosen Einsatz von Ordensleuten, von Frauen und Männern in den diakonischen Einrichtungen unserer Kirche, aber auch den Einsatz von Einzelnen in freien Initiativen im Dienst am Nächsten gegeben hat - und gibt. Dafür dürfen wir alle dankbar sein.

Aber dieser Dank darf für uns "Normalchristen" kein Alibi sein, uns beruhigt zurück zu lehnen. Jeder von uns ist im Blick auf seine Möglichkeiten gefragt. Wir brauchen und können durch unser Tun nicht den Sozialstaat ersetzen, aber wir können - jeder auf seine Weise - dazu beitragen, dass es in unserer Stadt, in unserem persönlichen Umfeld nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig zugeht.

Mir fällt auf, wie sehr damals in den Anfängen der Erfurter Niederlassung der Aachener Franziskanerinnen es Laienchristen waren, die sich hilfreich und unterstützend eingebracht hatten, etwa die Familie Lucius. (Der höhere Klerus trat bezeichnenderweise erst später in Aktion!). So war das damals. Ist es auch heute so? Die Caritas unter uns kann nur Bild der Caritas, der erbarmende Liebe Gottes bleiben, wenn wir alle von diesem Geist des Erbarmens bewegt sind.

Einander helfen, Gott im Blick zu behalten und ihn den Menschen an unserer Seite durch unser Leben und Wirken bekannt zu machen - wem das zum Herzensanliegen wird, bei dem ist das Wort des heutigen Evangeliums angekommen.

Und das könnte auch der schönste Dank für das 150jährige Wirken der Franziskanerinnen in unserer Stadt sein: dass wir selbst mehr und mehr füreinander Salz, Licht und Stadt auf dem Berge werden. Amen.


Predigt gehalten am 9.2.2014 in der Pfarrkirche St. Wigbert in Erfurt