Liebe Wallfahrer!
In den letzten Wochen habe ich ein neues Wort gelernt: "Ticketing". Da ich jetzt schon über 70 bin und nur des Deutschen einigermaßen mächtig bin, musste ich mir das Wort erklären lassen. "Ticketing" ist das Verfahren zur Anmeldung als Gottesdienstbesucher beim Papstbesuch.
Auch für euch, liebe Wallfahrer, wird das Wort und noch mehr das Verfahren fremd sein. Ein echter Eichsfelder Wallfahrer schaut am Himmelfahrtstag morgens zum Himmel - und wenn das Wetter gut ist und die Frau nichts dagegen hat, nimmt er Stock und Gesangbuch, und macht sich auf den Weg ins Klüschen. Das war bislang immer so - aber im September in Erfurt und in Etzelsbach ist alles anders. Da musst Du "Ticketing" gemacht haben - sonst kommst Du nicht aufs Wallfahrtsfeld. Ihr wisst schon: wegen der Sicherheit und so, und weil es sich voraussichtlich um viele Tausende Wallfahrer handelt, die sicher aufs Gelände und von dort wieder heil nach Hause möchten.
Ich verspreche euch: Nach dem Papstbesuch geht es wieder normal zu, wie immer: ohne Ticketing. Bei unseren gewohnten Wallfahrten ist immer noch Platz - auch für die "Kurzentschlossenen".
Doch gebe ich zu: Das Interesse, beim Papstbesuch dabei zu sein, ist erstaunlich. Ich wundere mich manchmal, wer alles anfragt. Darunter sind viele, die unserer Kirche fern stehen und auch solche, die weniger daran interessiert sind, den Herrgott am Sonntagmorgen in der Kirche ihre Aufwartung zu machen - und der ist doch der Chef des Papstes! Wie dem auch sei: Wenn es dem Glauben aufhilft, sind sie willkommen - vor allem aber seid Ihr alle im September willkommen. Denn euch, den Gläubigen, denen, die in unseren Pfarrgemeinden das ganze Jahr hindurch treu beim Gottesdienst sind - euch gilt der Besuch des Heiligen Vaters ganz besonders.
In der Heiligen Schrift lesen wir, dass der Herr Petrus aufgetragen hat: Du aber "stärke deine Brüder!" (Lk 22,32). Und da sind die Schwestern mitgemeint. Wir alle sind gemeint. Der Nachfolger des Petrus hat auch heute keine wichtigere Aufgabe als diese: die Jünger Jesu im Glauben zu stärken. Was an Glaubenskraft im Gedränge des Alltags, in den Nöten der Zeit, was durch Nachlässigkeit und eigene Lahmheit in Gefahr steht, verloren zu gehen, das will der Nachfolger des hl. Petrus bei seinem Besuch bei uns stärken und beleben: Seid nicht nur dem Namen nach Christen und bei schönem Wetter, seid wirklich Christen, durch und durch, in Wort und Tat, am Sonntag wie am Werktag, und auch, wenn es Kraft und Bekennermut kostet!
Ich möchte einmal drei solcher Lähmungserscheinungen aufspießen, die ich derzeit unter dem Gottesvolk ausmache. Da höre ich manchmal die Klage:
"Es geht alles zurück!" Früher 80 Erstkommunionkinder - heute höchstens noch 20. Gestern noch zweitausend Einwohner im Dorf, heute gerade mal die Hälfte und über 10 Häuser stehen leer! Früher beim Hochamt das Mannhaus noch voll - einschließlich der Spezialisten, die ihren Platz im Treppenaufgang hatten - heute könnten glatt zwei Kirchenchöre gleichzeitig oben Platz finden.
"Es geht alles zurück!" In der Tat, es geht auch manches zurück - aus mancherlei Gründen, aus verständlichen Gründen und auch aus solchen, die ich nicht einsehe, z. B. dass ein Knabe, der keine Disco auslässt und sie bis zur Neige ins Morgengrauen auskostet, am Sonntag seinem Herrgott nicht in die Augen schauen kann, oder dass einer meint, er müsse mit seinem Mädchen nur so zusammenleben, weil’s vielleicht doch nicht gut gehen wird und zudem eine Hochzeit zu teuer kommt.
Ich möchte es einmal so sagen: Es wird vieles anders! Oder noch genauer: Es ist vieles anders geworden; nicht mehr so selbstverständlich wie früher. Nicht mehr so einfach und unkompliziert, wie damals, als man noch bei dem VEB Dima in Dingelstädt oder in der Spinne in Leinefelde oder bei Solidor in Heiligenstadt Arbeit hatte und nicht die Woche über nach Hannover oder gar noch weiter weg fahren musste.
Ja, es ist vieles anders geworden, bunter, vielgestaltiger, komplizierter. Es geht eben nicht mehr seinen sozialistischen Trott - sondern jeder ist auf sich gestellt. Jeder muss schauen, wie er sein Leben organisiert. Das fängt bei den Kindern an, die schon einen Terminkalender brauchen, um ihre täglichen Verpflichtungen zu managen (wobei ich meine: Achtet darauf, dass sie nicht zu viel Unnötiges mitmachen!) - und das hört bei den Senioren auf, die wegen der vielen Angebote zur Bildung und Unterhaltung kaum noch Zeit für ihren Garten haben, geschweige denn für einen Einsatz in der Pfarrei.
Ihr merkt: Ich sehe durchaus den Wandel in der Gesellschaft, die objektiven Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen, ob wir wollen oder nicht. Aber ich meine: Ob es mit meinem religiösen Leben bergab geht oder nicht, kann ich nicht auf die veränderten Lebensverhältnisse schieben. Das hängt von mir ab: Ob ich katholischer Christ sein und bleiben will - oder nur Schönwetterchrist, der beim Papstbesuch wieder mal das Gesangbuch herausholt.
Kürzlich erzählte eine Frau und Mutter, die sich hatte taufen lassen: Zu Hause, in ihrer Küche, hatte der Älteste, dem die religiöse Wende der Mutter nicht so gefiel, aus der Küche alle religiösen Zeichen, ein Kreuz, ein Marienbild, einen christlichen Kalender entfernt. Er sagte ihr zur Rechtfertigung: "Ich habe Deine Küche ´entchristet´"! Und da hätte die Mutter geantwortet: "Ob dir das wirklich gelungen ist? Ich bin ja noch da!"
Seht, das meine ich. Es gibt Leute, die haben durchaus Interesse daran, unsere Gesellschaft zu "entchristen". Beim Papstbesuch werden die sich sicher auch lautstark zu Wort melden. Beim Evangelischen Kirchentag in Dresden soll es eine christentumsfreie Zone geben. Steht uns das demnächst auch im Eichsfeld bevor? Ich finde die Antwort dieser Mutter gut: Was heißt hier "entchristet"? Ich bin ja da!
Wir gehören als Christen, als Glaubende, als auf Gott Vertrauende mit all dem, was wir als Kirche einbringen, zu dieser Gesellschaft dazu. Wie "entchristet" das Eichsfeld, das Thüringer Land ist, bestimmen nicht andere. Da sind wir davor. ob mit oder ohne Papst!
Nein: Es geht nicht alles bergab. Es ist vieles anders als früher. Zugegeben. Aber auch diese Zeit ist Gottes Zeit, und in Festigkeit glauben, hoffen und lieben ist heutzutage ebenso möglich wie früher, als noch die Kirchenglocken den Lebensrhythmus bestimmten. Das sehe ich an euch, liebe Wallfahrer! Und an vielen anderen positiven Lebenszeichen aus unserem Bistum, die ich jetzt aufzählen könnte.
Darum, liebe Männer, registriert aufmerksam und wachsam den Wandel, aber lasst euch durch veränderte Verhältnisse nicht von eurem Glauben an Gott abbringen. Ein Eichsfelder hängt seine Fahne nicht nach dem Wind, und ein katholischer Christ hält sein Lebensschiff auf Kurs, auch wenn die Windrichtung sich ändert. Gegebenenfalls setzt er die Segel neu - aber er lässt sich nicht einfach dahin treiben, wohin er nicht will.
- Was möchte ich (zweitens) aufspießen? Das Gerede:
Die Kirche muss sich modernisieren! Ich kann es schon manchmal nicht mehr hören. Was da alles auf meinen Tisch flattert und sich mir aufdrängt: Interviews, Bücher und Fernsehbeiträge von bekannten und weniger bekannten Kirchenkritikern, die genau wissen, wie man die Kirche retten kann. Zumindest wissen sie genau, was die Kirche bisher alles falsch gemacht hat. Und die Kirche, das sind immer die anderen: die Päpste, die Bischöfe, die Pfarrer, "das System". Und dann kommt die Liste der bekannten "Empörungsthemen": immer noch der Zölibat, immer noch keine Frauenweihe, immer noch keine Einheitskirche, immer noch keine sakramentale Zweithochzeit, immer noch das Nein zur Abtreibung und immer noch die angeblich so überholten Warnschilder, wenn es um das 6. Gebot geht. Ist diese altmodische Kirche noch zu retten?
Wieder gilt es, differenziert hinzuschauen. Das fällt im Zeitalter der Talkshows und der schnellen Schlagzeilen schwer. Aber eben das: differenzieren und unterscheiden - das müssen wir als Christen. Über manche Fragen ist in der Kirche durchaus zu sprechen. Dazu haben die Bischöfe selbst eingeladen, auch wenn wir wissen, dass wir Katholiken in Deutschland nicht der Nabel der Weltkirche sind.
Aber die Sorge um die Geschiedenen und Wiederverheirateten und deren kirchliche Beheimatung treibt auch mich um. Diese sollen wissen: Sie gehören Gott ebenso wie ich als Bischof Gott gehöre und ihm gehorchen muss.
Die Sorge um geistliche Berufe, Priester- und Ordensberufe bewegt auch mich. Aber sind geistliche Marscherleichterungen für das Priesteramt ein Weg in eine problemlose Zukunft? (Der Blick auf andere Kirchen und deren Praxis im geistlichen Amt macht mich da nicht sonderlich zuversichtlich!).
Oder: Sollten wir wirklich Schluss machen mit der mühseligen Ökumenearbeit, die verbliebenen christlichen Reste einfach zusammenkehren und die geeinte Kirche ausrufen, wo jeder den anderen so anerkennt, wie er sein will? Ob das noch die Kirche der Apostel wäre?
Und Kirche und Sexualität: Ist dieses Thema nicht gerade deswegen für manche ein Reizthema, weil die Kirche der Überzeugung ist, man dürfe nicht alles, was man kann, eben - um des Menschen und seiner Würde willen? Sind wir bei der Atomkraft-Frage da nicht auch dieser Meinung? Wir dürfen nicht alles, was wir können - um unserer Zukunft willen.
Nein, so einfach, wie manche sich Modernisierung von Kirche vorstellen, geht das nicht. Wie heißt es? "Wer den Zeitgeist heiratet, ist bald Witwer." Nochmals: Die Kirche muss in jeder Zeit neu fragen, ob sie im guten Sinne "zeitgemäß" ist. Und der Blick in die Kirchengeschichte lehrt uns, dass auch die Kirche manches lernen und tiefer verstehen kann (was uns übrigens der Herr selbst im Blick auf den verheißenen Heiligen Geist und dessen Wirken angekündigt hat!). Wir haben z. B. heute verheiratete geweihte Amtsträger in Gestalt von Diakonen (und es ist übrigens gar nicht so einfach, Ehepaare zu finden, die für diesen Dienst bereit sind, zu dem auf Wunsch des Bischofs hin auch Versetzungsbereitschaft gehört!). Und über Religionsfreiheit denkt unsere Kirche nach dem letzten Konzil auch anders als die Päpste noch im 19. Jahrhundert verlautbarten. Und manch anderes hat sich gottlob geändert, etwa in der Liturgie.
Wir kennen also durchaus Erneuerung und Reform und Abwerfen von Ballast und alten Zöpfen. Ich bin froh, dass manches auch unter uns freier geworden ist und ich als Bischof nicht zuerst "Exzellenz" bin, sondern ein Glaubenszeuge unter Glaubensgeschwistern. Die entscheidende Frage ist doch: welche Art von Modernisierung uns Gott näher bringt, ob dadurch unser Glaube vertieft, unsere Hoffnung gestärkt und wir überzeugender in der Liebe zu Gott und dem Nächsten werden! Nein: Nicht anpassen, heißt das Gebot der Stunde, sondern Profil zeigen, evangeliumsgemäßes Profil.
Ein solches Aggiornamento, eine solche "Verheutigung" des Evangeliums, wie es Papst Johannes XXIII. bei der Ankündigung des letzten Konzils genannt hat, die steht in der Tat dringlich auf der Tagesordnung der Kirche. Ich bin gespannt, was uns der Heilige Vater dazu sagen wird. Aber eines dürfte sicher sein: Ohne mein Mitwirken, ohne meine ganz persönlich Umkehr zu Gott, ohne unser aller Erneuerung im Heiligen Geist wird es keine bessere Kirche geben. "Herr, erneuere deine Kirche - und fange bei mir an!"
Und einen dritten Prunkt möchte ich aufspießen: Die resignierte Meinung:
"Was kann ich als Einzelner schon ausrichten?"
Über dreißig Jahre predige ich jetzt schon hier im Klüschen Hagis. Und das gehört zu meinen Dauerpunkten bei den Predigten: gegen dieses Gejammer etwas zu sagen: "Was kann ich als Einzelner schon ausrichten?" Ich musste es damals tun im Sozialismus, wo andere das Sagen hatten und uns ins gesellschaftliche Abseits stellen wollten - und tue es jetzt in den Jahren, wo die Marktwirtschaft über uns gekommen ist, die der uns allen angeborenen Erbsünde ein so breit gefächertes Betätigungsfeld eröffnet hat.
Ja, das stimmt wohl: Die Gelegenheiten zum Sündigen haben sich vermehrt. Und es stimmt auch, dass ich als Einzelner wenig tun kann, wenn Systeme versagen und Politiker oder Banker ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.
Aber es stimmt nicht, dass die Sünde über uns wie ein unverschuldetes Verhängnis kommt. Ich bin es, der sündigt - und ich bin es, der der Sünde, dem Unrecht, der Raffgier, dem Ehebruch, der Feigheit und der Lüge widerstehen kann. Zugegeben: mit der Gnade Gottes, ausgestattet mit den Hilfsmitteln, die der Heilige Geist mir zur Hand gibt: dem Gebet, dem Wort Gottes, den heiligen Sakramenten einschließlich des Bußsakramentes - und auch mit dem Hilfsmittel meines Verstandes und meiner Einsichtsfähigkeit, die mir mein Schöpfer gegeben hat.
Kann das gut gehen, dass unser Land sich immer mehr verschuldet und wir "auf Pump", auf Kosten der nachfolgenden Generationen unseren Wohlstand pflegen? Kann das gut gehen, dass wir die Armen in der Welt vergessen und nur dann Solidarität üben, wenn sie uns nichts kostet? Ist es richtig, dass wir uns zu Herren des Lebens aufspielen und das Leben angeblich verbessern dadurch, dass wir anderes Leben töten? Wer gibt uns eigentlich das Recht dazu? Dürfen wir alles, was wir können - ob gesellschaftlich oder privat?
Bei solchen Fragen zeigt sich, dass es ohne den Einzelnen und seine Entschiedenheit eben nicht geht. Wenn man eine christliche Partei will, sollte Christentum drin sein - sowohl in der Leitung und mehr noch an der Basis. Und wenn man eine Wertegesellschaft will, muss "in der Familie anfangen, was im Vaterland leuchten soll" (wie es einmal Adolf Kolping gesagt hat).
Alle großen Veränderungen zum Guten in der Geschichte haben im Herzen einzelner Menschen angefangen, in kleinen Gruppen und Gemeinschaften. Jesus hat zwölf Männer um sich geschart. Und die Fokolar-Bewegung hat mit Frau Chiara Lubich und sieben jungen Frauen im Bombenhagel von Trient am Ende des 2. Weltkriegs angefangen. Und die Welt ist durch solche Menschen anders geworden.
Das innere Feuer ist entscheidend - nicht die großen Massen, auf die vorzugsweise die Medien schauen. Habt darum Mut auch zu kleinen Zahlen. In Treue selbst und mit anderen tun, was Gottes heiligem Willen entspricht, und ganz konkret hier und da ein wenig mehr Licht in das Dunkel bringen, das ist jedem von uns möglich.
Mit Gott zusammen brauche ich nichts zu fürchten. Das sagt das Wort, das über unserem heutigen Wallfahrtstag steht: "Gottes Ja - unsere Hoffnung". Und ähnlich wird das Motto sein, unter dem die Besuchsreise des Papstes zu uns nach Deutschland stehen wird: "Wo Gott ist, da ist Zukunft!"
Nicht wir sind die Architekten oder gar die Erbauer einer gelingenden Zukunft. Aber uns ist diese kostbare Verheißung anvertraut: Zukunft eröffnet Gott,
- weil er es ist, der uns über alle Erwartung beschenkt, in Zeit und Ewigkeit;
- weil er es ist, der unsere Schuld trägt und uns neu anfangen lässt;
- weil er es ist, der zu uns, zu jedem Menschen Ja sagt, eben, weil jeder von uns Gottes geliebtes Geschöpf ist.
Liebe Wallfahrer!
Ticketing - um beim Papst dabei zu sein. Das ist eine organisatorische Notwendigkeit.
Aber Ticketing - um am nächsten Sonntag in der Heiligen Messe Christus zu begegnen?
Ticketing - um dann dabei zu sein, wenn Gott uns am Ende unserer Lebensreise begegnen wird, wenn es um einen Platz bei ihm geht in der Ewigkeit?
Gottlob, dazu brauchen wir kein Ticketing - oder doch? Aber dazu braucht ihr nicht beim Papstbüro in Erfurt anzurufen. Wir können heute jemand anders anrufen, um eine Zutrittskarte zu Gott zu erhalten, zu der Begegnung, auf die es einmal wirklich ankommen wird: Maria, die Mutter des Herrn, unsere liebe Frau. Und ihr Ratschlag lautet nicht:
"Es geht ohnehin alles bergab!"
"Ihr müsst halt moderner werden!"
"Und im Übrigen: Ein Einzelner kann da ohnehin nichts machen!"
Ihr Ratschlag lautet: "Was ER euch sagt, das tut!"
Also: nicht nur auf ein frohes Wiedersehen im September in Erfurt und Etzelsbach, sondern ein seliges Wiedersehen dort, wohin der Herr uns vorausgegangen ist und wo er uns erwartet, im Himmel Gottes. Amen.
Predigt gehalten am 2.6.2011