Eine Studie aus den USA hat kürzlich ergeben, dass nirgends auf der Welt die Gottesferne so verbreitet ist wie in Ostdeutschland. Die Gründe dafür sind vielschichtig, betont Bischof Joachim Wanke. Der Katholik leitet seit 1994 das damals neu gegründete Bistum Erfurt. Zuvor war er seit 1981 Bischof und Apostolischer Administrator in Erfurt und Meiningen - einem Gebiet, das kirchenrechtlich zu den Diözesen Fulda und Würzburg gehörte. Mit dem 1941 geborenen Theologieprofessor sprach Gernot Facius über die Schwäche des Gottesglaubens in den neuen Bundesländern.
DIE WELT: Herr Bischof, nirgends auf der Welt ist der Gottesglaube so schwach wie in Ostdeutschland. Ist diese Region heute ein klassisches Missionsland?
BISCHOF JOACHIM WANKE: Die Religions- und Kirchenferne des Ostens Deutschlands ist in der Forschung schon lange bekannt. Vergleichbares gilt übrigens auch von Tschechien. Die Kirchen, auch die diesen Raum zwischen Werra und Neiße prägenden protestantischen Kirchen, sind in der Tat in einer Missionssituation. Ich spreche gern vom Bistum Erfurt als einem "Missionsbistum neueren Typs". Neu an unserer derzeitigen kirchlichen Situation ist, dass die Mission weithin nichtreligiöse Menschen in den Blick nehmen muss. Der Gottesglaube ist hierzulande gleichsam "verdunstet".
Was sind die Ursachen?
Es gibt keine monokausale Erklärung. Vieles kommt zusammen: das Weiterwirken atheistischer und antireligiöser "Volksaufklärung", von Feuerbach und Haeckel angefangen über den Biologismus der Naziideologie bis hin zum staatlich verordneten dialektischen Materialismus marxistischer Prägung, aber auch der lange Ausfall solider religiöser Bildung für breite Bevölkerungsschichten, die kaum eine Chance hatten, den christlichen Glauben authentisch kennen zu lernen.
Manchmal mag auch die Unkirchlichkeit des Ostens nach der Wiedervereinigung von manchen als "Alleinstellungsmerkmal" gegenüber dem als übermächtig empfundenen Westen trotzig hochgehalten worden sein.
Haben wir es nur mit einem stabilen areligiösen Milieu oder einem aggressiven Atheismus zu tun?
Wir haben es meines Erachtens wohl mit einem derzeit stabilen areligiösen Milieu zu tun, weniger mit einem aggressiven Atheismus. Der kommt eher aus den USA, England und Frankreich und ist in akademischen Kreisen zu Hause.
Die hiesige Areligiosität ist eher eine Hilflosigkeit im Umgang mit Religion. Religiöse Vokabeln sind für viele Thüringer und Sachsen wie "Chinesisch". Sie sind ihnen unverständlich und werden nicht mehr als Hilfe zur Lebensdeutung und Lebensbewältigung erfahren.
Das hat übrigens eine interessante Folge: Es gibt hie und da gerade bei Menschen, die in der DDR "chemisch rein" von Religion aufgewachsen sind, durchaus Interesse am Christentum, wenn es ihnen glaubwürdig begegnet. Das merke ich bei Gesprächen mit erwachsenen Taufbewerbern. Das fremd Gewordene wird wieder interessant.
Bislang hat sich das areligiöse Milieu ziemlich resistent gegen Missionsbestrebungen erwiesen.
Ich leugne nicht, dass die Erfahrung so massiver "religiöser Unmusikalität" unsicher machen kann. Wer heute Christ und gar Pfarrer sein will, muss das säkulare Grundgefühl (das wir als Gläubige ja auch selbst in uns haben) nicht zuerst als Angriff auf Religion und Christentum verstehen, sondern als Chance zur Vertiefung der eigenen religiösen Überzeugung. Wir stehen gleichsam in einem "Deutungswettbewerb" mit anderen um eine sachgerechte Interpretation dessen, was jeder Mensch erfährt. So gesehen ist für mich langfristig die gegenwärtige Religionsferne meiner Landsleute ein Übergangsphänomen.
Was das kirchliche Handeln betrifft, gilt es, den Gottesglauben zu vertiefen und die eigene christliche Lebenspraxis möglichst glaubwürdig darzustellen. Der Gottesglaube ist bekanntlich keine Ware. Mission meint nicht Werbung für einen Verein religiös interessierter Leute. Sie versteht sich vielmehr als eine Art Hebammendienst beim Entstehen und Wachsen eines neuen, österlichen Lebens, das nur Gott schaffen kann. Die Kirche und jeder einzelne Christ kann aber für andere zum Geburtshelfer dieser Neugeburt werden. Dass der Glaube dann hilft, die Kirche zu entdecken, ist eine andere Frage.
Freilich wird die Kirche der Zukunft eine neue Gestalt ausprägen. Sie wird weniger Institution sein, sondern mehr durch Personen geprägt sein. Meine "Missionsstrategie" setzt auf "Zeugen", die etwas erlebt haben und bereit sind, anderen davon zu erzählen.
Anthropologen haben den Menschen als unheilbar religiös definiert. Wird diese These ad absurdum geführt?
Es kommt darauf an, was man unter Religion versteht. Ich meine: Der Mensch ist unrettbar offen für Transzendenz. Er muss sich notwendig "übersteigen", sonst bleibt er ein findiges Tier. Insofern rechne ich in der vor uns liegenden Geschichte mit einer Transformation des Religiösen. Wenn Sie so wollen: Der Aggregatzustand des Religiösen ändert sich, aber das Religiöse verschwindet nicht.
Die Bearbeitung menschlicher Grunderfahrungen - wie Einsamkeit, Sinnsuche, Angstbewältigung, Sehnsucht nach Geborgenheit -, auf der eine religiöse Lebensdeutung und Lebenspraxis aufbaut, schafft sich heute neue, "religionsähnliche" Ausdrucksformen. Man wird sehen, ob diese auf Dauer wirklich tragen.
Der "Glanz" des christlichen Evangeliums wird seine Anziehung behalten. Die Faszination der Gestalt Jesu zeigt das bis heute. Selbst die hasserfüllten und blasphemisch aufgeheizten Angriffe auf das Christentum (die sich, wie gesagt, im Osten kaum finden) lassen erkennen, dass die Kirche in dem, was sie bekennt und feiert, für die Zukunft eine Alternative aufbewahrt, die zu allen selbst erdachten Welt- und Lebensdeutungen quer liegen wird. Die Echtheit des religiösen Glaubens erkennt man übrigens daran, dass er als Freisetzung erfahren wird.
Das heutige Ostdeutschland ist altes Luther-Land. Der Schriftsteller Martin Mosebach, im traditionalistischen Flügel der katholischen Kirche beheimatet, führt die Probleme auch darauf zurück, dass Luther den antirömischen Affekt verstärkt habe. Ein abwegiges Urteil?
Die von der Reformation geprägten Länder sind ein wenig früher von der Säkularisierung - im Sinne einer Weltdeutung "als ob es Gott nicht gäbe" - erfasst worden als katholische Regionen. Das alte habsburgisch-katholisch geprägte Böhmen wäre allerdings ein Gegenbeispiel. Man muss mit geistesgeschichtlichen Herleitungen bestimmter Gegenwartsphänomene vorsichtig sein. Im Übrigen gab es auch eine katholische "Aufklärung".
Was wir mehr brauchen als den Blick zurück, ist ein Blick nach vorn: Was steht gemeinsam für die Kirchen als gegenwärtige Herausforderung an? Wenn das bevorstehende Reformationsgedenken nicht nur Martin Luther, sondern mehr noch Jesus Christus in den Blick rückt, dann könnten wir Katholiken uns besser damit anfreunden.
Im Übrigen sollte man die Vergangenheit auf sich beruhen lassen. Jeder hat sein eigenes Paket Schuld zu tragen. Wenn Thüringen nur wirkliches Lutherland wäre, eines Luthers, dem es darauf ankam, den Gott Jesu neu zu entdecken und Sonntag für Sonntag in vollen Kirchen sein Lob zu singen, da wäre mir als katholischer Bischof durchaus wohler.
Warum ist es den Kirchen nach 1989 nicht gelungen, mehr Menschen an Kirche und Religion heranzuführen?
Die so genannte friedliche Revolution im Osten Deutschlands (und Europas) ist eine Folge der Freiheits- und Wahrheitssehnsucht der Menschen. Insofern haben diese "Wendeereignisse" mit dem zu tun, was ich soeben als die unverlierbare Offenheit des Menschen für Transzendenz beschrieben habe. Wir leben von Größerem als nur von dem, was wir essen und trinken und konsumieren.
Daran kann die Kirche in ihrer Verkündigung anknüpfen. Die neu gewonnene Freiheit hat durchaus den Kirchen erfreuliche Wirkungsmöglichkeiten eröffnet. Doch habe ich nicht erwartet, dass die Ereignisse von 1989/90 eine Kirche neu beleben, die in der alten Bundesrepublik ebenso wie bei uns im Osten einer ganz anderen, viel radikaleren Erneuerung bedarf.
Darum ist meine Konsequenz aus der "kirchlichen Unmusikalität" meiner Mitbürger: Die Priorität in der Pastoral muss das Bemühen haben, dem Evangelium Jesu Jünger zu gewinnen. Wir müssen zuerst die Bergpredigt lesen, und dann die Religionssoziologen befragen. Hier gilt das Wort Jesu: "Euch muss es zuerst um Gottes Reich und seine Gerechtigkeit gehen, dann wird euch alles andere dazugegeben", wie es bei Matthäus 6,33 geschrieben ist.
Erschienen in der Tageszeitung "Die Welt" am 4.5.2012