Nahe bei den Menschen?

Statement von Bischof Joachim Wanke bei einem Hintergrundgespräch des Katholischen und des Evangelischen Büros zum Thema "Politik und Kirche in Thüringen"

 

20 Jahre nach der friedlichen Revolution haben inzwischen auch die Kirchen ihren Platz in der neuen politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit der neuen Bundesländer im Osten gefunden. Das heutige Abendgespräch will das jeweilige Selbstverständnis von Politik und Kirche in ihrer gegenseitigen Zuordnung thematisieren. Ich möchte dazu für meine Kirche einen kurzen Gesprächsimpuls geben.

Kirche und Politik haben je verschiedene Aufgabenbereiche. Sie zielen freilich in ihrem Handeln immer auf den konkreten Menschen bzw. die konkrete gesellschaftliche Situation, in der wir leben. Darum gibt es Berührungspunkte zwischen politischem und kirchlichem Handeln wie bei zwei Kreisen, die je ihren eigenen Mittelpunkt haben, aber sich dennoch in bestimmten Aufgabenbereichen gegenseitig überlappen.

Im Übrigen bin ich davon überzeugt, dass der Staat und die Politik auf Werthaltungen gesellschaftlicher Gruppen, insbesondere auch der Kirchen, bleibend angewiesen sind. Die politischen Akteure sollten sich daher nicht den Ast absägen, auf dem sie sitzen.  

Ich nutze (als ehemaliger Bibel-Professor) zwei Stellen aus dem Neuen Testament, um zwei mir wichtige Grundaspekte des Verhältnisses von Politik und Kirche(n) zu beleuchten.  


1. Die Relativierung des Politischen

Nach Mk 12,13-17 wird Jesus die Frage gestellt, ob es erlaubt sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen oder nicht. Das war damals eine hochbrisante, ja provozierende Frage. Jesus soll entweder in die Ecke der damaligen Aufrührer (etwa der Zeloten) gedrängt werden - oder in die der Kollaborateure mit der römischen Besatzungsmacht.

Wir wissen, wie Jesus antwortet. Er lässt sich die gebräuchliche Münze zeigen, die das Bild des Kaisers trägt. Er geht von der gegebenen Realität aus (und enthüllt dabei nebenbei die Unehrlichkeit der Fragesteller). Doch dann überschreitet er diese politische Realität. Er antwortet zunächst: "Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört", aber er fügt hinzu, was eine eigentliche Botschaft ist und auch seine werbende Einladung an die Fragesteller: "und gebt Gott, was Gottes ist."

Für Jesus und damit für uns Christen gilt eine Fundamentalunterscheidung: Der Himmel ist der Erde vorgeordnet. Oder nach einem Wort Bonhoeffers: Es gibt Vorletztes (den Auftrag zur politischen Gestaltung der Gesellschaft) und Letztes (der Anspruch Gottes an unser Leben).

Das bedeutet zum einen: Der christliche Glaube wird jeden Anspruch von Politik, die sich selbst absolut setzen will, ablehnen müssen. Weltanschauungsstaaten haben diese Tendenz. Es gilt dort Widerstand zu leisten und prophetisches Zeugnis für Wahrheit und Recht zu geben, wo der Staat seine Kompetenzen überschreitet und sich die Gewissen der Menschen unterwerfen will. Das hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Um die katastrophalen Folgen wissen wir. Übrigens waren es meist auch die Christen, die nach den Zusammenbrüchen solcher Systeme aus ihrer Glaubenshoffnung heraus bereit waren, einen Neuanfang zu setzen und aus den Trümmern Neues aufzubauen.

Wir leben hier und heute gottlob nicht in einem gottfeindlichen Staat. Dennoch ist es wichtig, dass der Christ und die Kirche sich einen kritischen Blick für die Ansprüche von Politik bewahrt.

Zum anderen folgt aus der Relativierung des Poltischen gegenüber Gottes Anspruch an den Menschen die Haltung einer gewissen Gelassenheit, weil dann der politische Gegner kein Menschen- bzw. Klassenfeind wird, den es auszumerzen gilt. In der Politik geht es nicht um Endgültiges, sondern um Vorläufiges. Das macht das Ringen und den Streit um das je Bessere bei politischen Themen sinnvoll und nimmt ihm gleichzeitig die ideologische Schärfe.

Für mich ist die kluge, aber auch konsequente Haltung des Lordkanzlers Thomas Morus im 16. Jhd. im Streit um die Suprematsansprüche des englischem Königs Heinrich über die Kirche eine Illustration dessen, was ich hier meine.


2. Mut zu freiem Gehorsam - um der Ordnung willen.

Hier verweise ich auf die Ausführungen von Paulus in Röm 13, wo der Apostel die staatliche Autorität als von Gott eingesetzt  anerkennt und zum Gehorsam gegen sie aufruft. Ich weiß: Man kann diese Aussagen, wenn man sie vom Ganzen der biblischen Botschaft isoliert, missbrauchen ("Ein Gott, ein Reich, ein Führer!"). Es gilt, genau hinzuschauen.

Paulus übernimmt hier ohne Zweifel ethische Grundsätze aus der heidnischen Popularethik seiner Zeit, etwa der Stoa. So sagt er z. B. in Phil 4,8: "Schließlich, Brüder, was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert, ansprechend ist, was Tugend (arete) heißt und lobenswert ist, darauf seid bedacht!" Also: Tut das Selbstverständliche. Und das ist für den Apostel die Anerkennung einer gegebenen staatlichen Ordnung, die das Gute belohnen und das Böse bestrafen und eingrenzen soll. Wir sagen heute pragmatisch. "Besser ein schlechter Deichgraf als kein Deichgraf!" Was ein Zusammenbruch staatlicher Autorität für ein Land bedeutet, dafür gibt es auch heute schlimme Beispiele.

Natürlich braucht der moderne Verfassungsstaat den mündigen Bürger. Es geht in Röm 13 nicht um blinden Gehorsam. Aber zunächst einmal sind die alten Tugenden, auch die Bürgertugenden nicht einfach zu verwerfen, auch wenn sie immer neu für jede Zeit durchbuchstabiert werden müssen. Zudem müssen wir beachten, dass Paulus hier politischen Gehorsam nicht mit irgendeinem "Willkür-Gott", sondern mit dem Gehorsam gegenüber dem Gott Jesu Christi verknüpft. Und das ist ein menschenfreundlicher Gott, der jedem seine Gerechtigkeit zuteil werden lässt. Darum sind Gerechtigkeitsfragen immer auch Fragen, die aus dem Gotteshorizont heraus zu verhandeln sind (etwa das Gleichgewicht zwischen Ansprüchen des Einzelnen und dem Wohl aller). Meine persönliche Anerkennung einer politischen Ordnung schließt z. B. nie aus, dass für mich, dass für die Kirche die Autorität der Leidenden in dieser Welt höher steht als jedes politische Kalkül.

Ich möchte abschließend ausdrücklich darauf hinweisen, dass der christliche Glaube keine direkten politischen Weisungen für die Organisation des Gemeinwesens gibt. Das letzte Konzil (in Gaudium et spes Nr. 3) hat es so formuliert: Christen könnten "bei gleicher Gewissenhaftigkeit in der gleichen Frage zu einem anderen Urteil kommen." Gerade in den neuen Bundesländern sollten wir diese Einsicht nicht vergessen. Der Zuspruch und die Verheißungen der Bibel sind für einen christlichen Politiker "Auftrag, Licht und Kraft" (ebd. Nr. 42), aber sie ersetzen kein Parteiprogramm.


Vortrag gehalten am 6.9.2010 im Erfurter Augustinerkloster