Mutig und entschieden, aber ohne Erfolgsdruck Christen sein

Predigt von Bischof Joachim Wanke in der Jahresschlussandacht 2010 im Erfurter Dom St. Marien

Ein Termin im kommenden Jahr wird für unser Bistum besonders wichtig werden: der angekündigte Besuch von Papst Benedikt im kommenden September. Das ist ein Grund zur Freude. Nicht nur, weil dies für Thüringen ein Jahrhundertereignis ist. Was mich vor allem freut: Der Heilige Vater setzt damit ein Zeichen der Verbundenheit mit uns Katholiken in der Diaspora des Ostens, aber darüber hinaus auch mit allen Menschen in den neuen Bundesländern.

Eines ist mir freilich klar: Ein Papstbesuch unter den Bedingungen der heutigen Mediengesellschaft rückt unweigerlich auch die Situation der besuchten Ortskirche in den Blick. Viele werden bei diesem Papstbesuch auf uns schauen, z.T. mit Interesse und Neugier, andere kritisch und herablassend, wieder andere vielleicht auch feindselig. Einen kleinen Vorgeschmack haben wir ja schon in manchen Leserbriefen der lokalen Zeitungen erhalten.

Insofern ist dieser Besuch für uns auch eine Herausforderung. Er ist eine Gelegenheit, uns selbst im Blick auf unseren Auftrag als Kirche in diesem Land Rechenschaft zu geben. Zwar ist der christliche Glaube hierzulande seit über tausend Jahren beheimatet. Es gibt eine reiche, auch evangelische Frömmigkeitstradition in Thüringen. Doch wer wollte verkennen, dass die Christen insgesamt, evangelische wie katholische in diesem Land in der Minderheit sind. Christsein ist nicht mehr das Selbstverständliche, das von der Tradition Vorgegebene. Wer Christ sein will, kann es nicht aus Gewohnheit sein. Er braucht dazu Mut und Entschiedenheit.

Aber auch dies ist deutlich: Wir sind hierzulande auf dem Weg zu einer neuen Art des Kirche-Seins. Wir sind - äußerlich wie auch innerlich - dabei, eine "Missionskirche unter neuzeitlichen Bedingungen" zu werden. Was wir von unseren Vorfahren empfangen haben, von Bonifatius, von Radegunde, von Elisabeth, von Meister Eckart, und ich füge als katholischer Bischof in Thüringen bewusst im Blick auf unsere evangelischen Glaubensgeschwister hinzu: auch von Martin Luther - aus diesem Glaubenserbe muss für die Menschen dieses Landes wieder ein neues Angebot werden. Wie das gehen könnte - ich meine, das könnte den Papst interessieren. Ich würde dem Hl. Vater unsere Ortskirche gern so vorstellen: Wir möchten


1. Kirche sein, die "in Christus verwurzelt und auf ihn gegründet" bleibt

Diese Antwort ist paradox. Sie zielt nicht auf unser Tun, sondern auf unser Sein. Der Apostel schreibt in seinem Brief: "Ihr habt Christus Jesus als Herrn angenommen. Darum lebt auch in ihm!"

Die innerste Mitte der Kirche ist nicht das, was wir tun oder in Gang setzen. Ich erinnere an die Erfahrung früherer Zeiten: Die Drohungen der Staatsgewalt mit Repressionen und Schikanen bewirkten nichts bei dem, der sich ganz im Gottvertrauen innerlich festmachte. Es kam auf die Verwurzelung in Christus an. Nur so konnte man dem kirchenfeindlichen Druck standhalten.

Auf diese tiefe, geistliche Verbundenheit mit Jesus Christus kommt es an - auch heute. Ausdruck und lebendige Quelle dieser Verbundenheit ist das Gebet - das persönliche und das gemeinschaftliche Gebet in seinen unterschiedlichen Formen. Ohne dieses "geistliche Grundwasser" kommt in der Kirche nichts zum Blühen, reifen keine Früchte. Im Gegenteil: Es wächst der Missmut, Resignation breitet sich aus und der Kleinglaube hat Oberwasser.

Ich erinnere an das johanneische Bild vom Weinstock und den Rebzweigen (Joh 15): Ohne Christus vermögen wir nichts; in ihm aber alles, und das immer wieder neu, auch wenn die Zeiten sich ändern und neue Herausforderungen zu bewältigen sind.

Der Besuch von Papst Benedikt kann so zu einer wichtigen Station auf dem geistlichen Weg unserer Ortskirche werden. Wir können mit ihm zurückschauen auf die Jahrzehnte, die für die Christen hierzulande Tapferkeit und Bekennermut erforderten. Wir können auf die ersten Lernschritte schauen, die wir als Kirche nach der politischen Wende in der freien Gesellschaft gemacht haben. Und da gibt es ja auch manch Erfreuliches mitzuteilen. Und wir sollten dem Papst sagen, was unsere geistliche Erfahrung damals war und auch heute ist: "In Christus verwurzelt und auf ihn gegründet bleiben!"


2. Kirche sein, die von Gott Zeugnis gibt - in Wort und Tat

Wenn ich mich frage, was die Kirche vorrangig tun sollte, ist für mich diese Überlegung hilfreich: Was kann uns Christen von niemand anderem in diesem Land abgenommen werden? Was können nur wir als Kirche tun? Etwa: Gottesdienst feiern, das Kirchenjahr mit seinen Festen lebendig halten; Gott in der Öffentlichkeit ins Gespräch bringen, Kinder mit der Bibel bekannt machen, Jugendlichen helfen, Christus kennen zu lernen, Kranke und Sterbende begleiten.

Darum muss es uns als Kirche gehen: Menschen auf den Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus aufmerksam zu machen. Das kann auf unterschiedlichste Weise geschehen, mit Worten und durch Taten, direkt und indirekt, öffentlichkeitswirksam (wie demnächst beim Papstbesuch) oder einfach durch schlichtes Beispiel und Ermunterung, es mit Gott zu wagen. Gottlob, solches Gotteszeugnis geschieht, auch hier bei uns, in dieser Stadt, in unserem Bistum.

Als Bischof freue ich mich, wenn ich beispielsweise an den Dienst unserer (leider älter werdenden) Ordensschwestern in Erfurt denke, aber auch vieler anderer im Dienst am Nächsten. Hier berührt das Evangelium konkret Biographien, bringt Licht und Wärme in das Leben von Menschen. Und da denke ich auch an den Einsatz der evangelischen Casteller-Ring-Schwestern, die leider im Frühjahr dieses Jahres Erfurt verlassen müssen. Ihnen sei für ihr langjähriges Glaubenszeugnis unter den Menschen dieser Stadt von Herzen gedankt!

An solchen Beispielen wird deutlich, wofür Kirche steht: Unser aller Glaubenszeugnis soll dazu helfen, auch anderen einen "Weg" zu Gott hin zu eröffnen.

In den östlichen Bundesländern müssen wir nüchtern mit einer sehr großen Fremdheit der Menschen allem Kirchlichen gegenüber rechnen. Das ist im Blick auf die Vergangenheit verständlich. Die Wege der Menschen zur Kirche sind hier länger und das Terrain steiniger. Aber einen Vorteil haben wir vielleicht: Es gibt hierzulande vermutlich weniger kirchlich "hausgemachte" Vorurteile und Missverständnisse als im alten "Westen". Die Menschen sind unbelasteter von negativen Kirchenerfahrungen, zumindest was ihre eigene Biographie betrifft. Sie sind freilich auch religiös unwissender.

Ein weiterer Vorteil unseres ortskirchlichen Lebens: Im Normalfall haben wir weniger kirchliche "Institutionen" als anderswo. Menschen wollen heutzutage "Gesichter" sehen, keine Werbezettel in die Hand gedrückt bekommen. Wir wissen aus Erfahrung: Jedes "Ansprechen" von Menschen in Glaubensdingen geht nur über den Weg persönlicher Begegnung, im Gespräch von Mensch zu Mensch.

Die Verkündigung des Evangeliums ist das Anbieten eine Lebenssicht, einer Lebenspraxis. Es geht nicht vordergründig um "Mitgliederwerbung". Es geht um das "Heil-Werden" des Menschen im umfassenden Sinn - irdisch und himmlisch.

Eine solche Einstellung kann helfen, uns nicht selbst in falscher Weise unter Druck zu setzen. Es gilt eine gewisse "Absichtslosigkeit" in der Begegnung mit Nichtgetauften durchzuhalten. Wir stehen nicht unter "Erfolgsdruck". Die eigentliche Bekehrung bewirkt ohnehin der Geist Gottes. Wir sind "Zuarbeiter"! Wir leisten als Kirche und als einzelne Christen "Hebammen-Dienste"! Gott schafft sich selbst seine Kinder.

Was wir brauchen ist Geduld, Wachheit für den rechten Augenblick - und Menschenfreundlichkeit. Und manchmal merken wir, dass Gott auch durch uns andere anrühren und in Bewegung bringen kann. Etwa wie bei der Aktion "Folge dem Stern" auf dem Weihnachtsmarkt, wo Menschen durch den Weihnachtsrummel hindurch auf die eigentlichen Botschaft von Weihnachten aufmerksam gemacht wurden. Oder wenn junge Menschen durch unsere Katecheten in der "Feier der Lebenswende" zum ersten Mal etwas von Gott hören. Auf die Menschen zugehen, das anbieten, was uns selbst wichtig geworden ist, ihnen helfen, dass auch sie Gott "in Freude danken" können, wie unser Schrifttext sagt - das sind gute Erfahrungen, die auch den Papst überzeugen könnten. - Und schließlich:


3. Kirche sein, die geduldig Menschen begleitet, tröstet und stärkt

In diesen Stichworten klingt für mich die Art der Seelsorge mit, die Gott selbst uns allen angedeihen lässt. Er "begleitet" uns - helfend, mahnend, warnend, aber niemals verurteilend oder uns abschreibend.

Ich spüre bei vielen eine tiefe Sehnsucht nach gelingenden "Beziehungen", nach menschlicher Nähe und nach "Angenommen-Sein". Wenn es irgendwie gelingt, das erste Misstrauen gegenüber Kirche zu zerstreuen, wirkliche absichtslose Nähe zum anderen glaubhaft zu machen, dann öffnen sich oftmals sehr bald die Herzen. Es gehört zu den schönsten Erfahrungen im Leben eines Priesters, wenn er bei einem Hausbesuch gesagt bekommt: "Das ist aber schön, Herr Pfarrer, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!" Übrigens sagen das manche auch zu einem einfachen Gläubigen, der im Namen der Gemeinde einen solchen Besuch macht.

Die Chance kirchlich-pastoralen Wirkens besteht heute darin, in der zunehmenden Vereinzelung der Menschen Beziehungsnetze zu knüpfen. Ich gebe zu: Wir erfahren in diesem Bemühen auch Ablehnung, wir begegnen Vorbehalten und Misstrauen und mancherlei Ängsten. Besonders ratlos ist man, wenn man bei Mitmenschen psychischen Störungen begegnet. Doch trotz dieser Nöte: Es gibt einfach diese Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Anteilnahme.

Genau darauf antwortet ja das Evangelium. Darum findet es vielleicht gerade heute, in der verbreiteten Not menschlicher Einsamkeit, eine neue Aufmerksamkeit. Das Evangelium hat mehr Sympathisanten als wir meinen, besonders dort, wo diese "Barmherzigkeits-Melodie" durch uns die Herzen berührt.

Sagen wir das manchmal einem Menschen an unserer Seite, besonders, wenn es um schwierige Menschen geht: "Du bist keine Fehlkonstruktion, sondern du bist eine Sonderanfertigung Gottes!". Gerade heute, am Ende dieses Jahres, möchte ich allen in unserem Bistum, auch hier in unserer Stadt, in den Gemeinden, den Verbänden und der Caritas danken, die dies tun: Menschen geduldig begleiten, trösten und in ihren Lebensnöten stärken.


Seht, das würde ich gern dem Hl. Vater sagen wollen: So möchten wir hier in Thüringen Kirche sein, auch wenn wir oft genug dahinter zurückbleiben:

Kirche, die in Christus verwurzelt bleibt, eine betende Kirche;
Kirche, die mutig Gottes Gegenwart mit Wort und Tat bezeugt, eine evangelisierende Kirche;
Und Kirche, die die Menschen begleitet, tröstend und stärkend, eine diakonische Kirche.

Und weil dies schon alles geschieht und auch im neuen Jahr 2011 mit Gottes Gnadenhilfe geschehen wird, höre ich - wie Paulus für die Gemeinde in Kolossäa - nicht auf, Gott zu danken. Lasst es uns vor dem Herrn in der Eucharistie nun gemeinsam tun. Amen.