Liebe Mitchristen!
Woher nimmt Jesus eigentlich seine Sicherheit? Er sagt zu seinen Jüngern: „Ihr seid (!) das Salz der Erde. Ihr seid (!) das Licht der Welt." Es braucht nicht viel Phantasie, sich das armselige Häuflein seiner Jünger vorzustellen. Und dazu noch die damalige Welt, die in vielem nicht anders war als die unsrige.
Es gehörte schon Mut dazu, diese Schar als Boten in die Welt zu schicken. „Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern". Ob sich Petrus später im Stillen doch manchmal gefragt hat, ob Jesus eigentlich wusste, was in einer Großstadt wie Rom los ist? Und Paulus, der sich mit seiner Predigt unter die eingebildeten Intellektuellen auf den Areopag in Athen wagte? - übrigens mit nur mäßigem Erfolg. Nicht in Athen, sondern in Korinth hat er eine christliche Gemeinde gesammelt, in einer Stadt, die mit ihrer „Reeperbahn" in der ganzen Mittelmeerwelt einschlägig bekannt war.
Nein - weltfremd waren die Jünger Jesu durchaus nicht. Sie wussten, was los war. Die Berichte und Briefe des Neuen Testaments zeigen, dass die Jünger Jesu keine Scheuklappen trugen. Sie wussten um die Schwächen der Menschen, auch um ihre eigenen. Dennoch hat sich an ihnen Jesu Wort bewahrheitet. Sie und viele Frauen und Männer in ihren Fußspuren haben etwas gewagt, wozu uns scheinbar der Mut fehlt: Sie haben die Worte Jesu ernst genommen.
Sie sind Licht geworden, das geleuchtet hat, und Salz, Würze für eine Gesellschaft, die der Auferstehungsbotschaft mit Spott begegnete, oftmals sogar mit Schikanen und Polizeieinsatz. Es dauerte mehrere Generationen. Aber dann war das Evangelium in der Öffentlichkeit präsent.
Solche Botschafter des Evangeliums fanden sich in allen Generationen. Ohne Bonifatius stünde hinter mir heute vermutlich etwas anderes als unser Mariendom, und ohne Elisabeth hätten die Armen noch lange auf Krankenfürsorge warten müssen.
Und wir heute in Thüringen, im Eichsfeld des Jahres 2002? „Ach, Jesus, wenn Du wüsstest, was jetzt los ist!" - so bete ich manchmal! Das „Schlimme" ist: Jesus weiß es! Er weiß: Die Menschen sind mit Arbeiten und Spaßhaben beschäftigt. Er weiß: Gott - das ist für viele ein Fremdwort geworden, und Leben nach seinem Gebot - angeblich etwas für Zurückgebliebene. Und die Kirche? Sie steht sich scheinbar selbst im Weg. Sie ist behaftet mit ihren Sünden aus
Vergangenheit und Gegenwart, den tatsächlichen und manchen, die ihr noch zusätzlich angedichtet werden. Salz? Licht? Was ich landauf landab höre, lässt sich etwa so zusammenfassen: „Lieber Bischof! Wir suchen uns selbst das, was unser Leben würzt! Und Beleuchtung vom Himmel haben wir nicht nötig. Wir machen's uns schon allein hell genug!"
Also doch: Die Fahnen einziehen? Still und unerkannt als Christen leben und alles Gott überlassen? Dagegen stehen die Worte Jesu. Sie sitzen uns wie ein Stachel im Fleisch. Es gibt die Versuchung, diese Worte abzuschwächen. Etwa so: „Damit sind die Bischöfe gemeint!" „Also lieber Bischof: Walte Deines Amtes - aber lass uns kirchliches Fußvolk bitte in Ruhe!" Oder: „Die Priester sind gemeint, die Ordensleute!" Oder gar „der Papst und die da in Rom!" Ja - die sind auch gemeint.
Aber am Sinn der Worte Jesu gibt es nichts zu deuteln: Alle Christen sind gemeint: Die, die ein Amt haben und die keines haben, die im Rampenlicht stehen und jene, über die kein Journalist berichtet. Alle, die katholischen, die evangelischen, die freikirchlichen, alle, die es irgendwie mit ihrem Getauftsein ernst nehmen wollen. „Ihr seid das Salz der Erde! Ihr seid das Licht der Welt!"
Je länger ich Bischof bin, desto mehr brennen mir diese Worte Jesu im Herzen. Diese Worte provozieren mich. „Was tust Du, lieber Bischof, damit mein Evangelium zu den Menschen kommt? Müssen euch erst Terroristen das Fürchten lehren? Muss erst ein Schüler zum Mörder werden, ehe ihr Christen aus eurer Reserve hervorkommt?"
Im Sinne Jesu Licht und Salz in der Welt sein - was kann das heißen? Lasst mich zwei Gedanken entfalten.
1. Das entscheidende Licht und Salz ist Jesus Christus selbst. Er ist unter uns
am Werk.
Das dürfen wir nie vergessen. Nicht wir beleuchten und würzen, sondern wir sind selbst „Beleuchtete" und „Gewürzte" - von Ihm, unserem Herrn. Taufe und Firmung haben dazu den Grund gelegt. Die Eucharistie verbindet uns immer neu mit Ihm. Die wiederholte Kommunion mit unserem Herrn will uns langsam und beharrlich Jesus ähnlich machen, wobei ob dieser Zumutung der alte Adam in uns Zeter und Mordio schreit. Und zudem ist uns das Wort Gottes geschenkt. Es provoziert uns mit seinen Herausforderungen, wie etwa das Leitwort der heutigen Wallfahrt! Jesus Christus ist im Heiligen Geist unter uns am Werk. Er verändert Biographien. Er lässt Menschen neu anfangen. Er macht aus mutlosen Jüngern kraftvolle Zeugen - auch heute. Das ist durchaus zu merken. Inmitten der Gleichgültigkeit der vielen - auf einmal melden sich junge Männer zum Priesterberuf und junge Frauen lassen sich als Gemeindereferentinnen senden. Inmitten der Kirchenferne der Gesellschaft - auf einmal suchen Erwachsene die Taufe. Inmitten eines Ortes, einer Stadt, in der die meisten am Sonntagmorgen ausschlafen oder ihren Hund ausführen, kommt eine treue Schar zum Gottesdienst. Inmitten einer Gesellschaft, die am liebsten mit dem Finger auf andere zeigt, bekennen Menschen sich zu ihrer Schuld. Sie suchen das Bußsakrament. Sie sagen nicht, was heute so gängig ist: tua culpa, durch deine Schuld. Sie sagen vielmehr: mea culpa, durch meine Schuld.
Noch viele andere Zeichen der Wirksamkeit des Geistes Christi, seines Evangeliums entdecke ich.
Was mich überwältigt hat - und lasst mich dies an dieser Stelle einmal ausdrücklich sagen: Die Hilfs- und Spendenbereitschaft der Gläubigen und vieler Thüringer, den Flutgeschädigten an Elbe und Mulde zu helfen. Wir haben in unserem Bistum eine Spitzenkollekte von über 300.000 EURO gehabt. Und das Bistum legte noch einmal den gleichen Betrag dazu. Eine solche Kollekte ist in Zeiten knappen Geldes nicht selbstverständlich. Danke dafür!
Aber noch mehr Danke, dass dies (und manches andere mehr, was ich nicht weiß und was nicht in den Zeitungen steht) Zeugnis gibt von der lebensverwandelnden Kraft Christi. Es gibt das Salz und das Licht Christi mit seinen guten Auswirkungen unter uns, innerhalb unserer Gemeinden und auch außerhalb unserer Kirche.
Jesus konnte Menschen, die noch unentschieden und ängstlich waren, sagen: „Du bist nicht fern vom Reich Gottes!" (Mk 12,34). Es gibt Menschen, die unsicher sind, worin sie ihr Herz festmachen können. Sie fragen: „Kann man wirklich darauf vertrauen, dass es Gott gibt? Spricht diese Welt mit ihrem Leid und ihren Schrecken nicht gegen ihn?" Und im Blick auf den 11. September: „Macht Religion nicht fanatisch und gewalttätig?"
Ja, es gibt Missbrauch von Religion. Auch der Name Gottes ist nicht dagegen gefeit, Fanatikern als Rechtfertigung für Menschenhass und Mord zu dienen. Aber der Missbrauch von Dingen sagt bekanntlich nichts über deren eigentliche Qualität. Der Gott Jesu Christi ist ein Liebhaber des Lebens. Er hat es erfunden. Er gibt uns die Chance, es mit Mut und Kraft in Freiheit zu gestalten. Und im Übrigen: Wir Christen schauen auf einen verwundeten Gott. Das gibt es
meines Wissens in keiner der Weltreligionen. Der Gott Jesu siegt nicht mit Waffen, sondern mit leidensbereitem Erbarmen. Ja, er lässt uns Menschen Freiheit - aber leidet an der missbrauchten Freiheit mit.
Es braucht darum gütige Menschen, um Mut zu machen, an die Güte Gottes zu glauben. Es braucht vertrauende Menschen, damit andere lernen, ebenfalls zu vertrauen, sich selbst loszulassen, den Sprung der rettenden Lebensübergabe an Gott zu wagen. - Darum dieser zweite Gedanke:
2. Das Evangelium wirkt aus eigener Kraft, aber es sucht Zeugen.
Ausgerechnet in Korinth, der berüchtigten Stadt, hört Paulus in einer Vision die Worte des Herrn: „Rede nur, schweige nicht! Denn ich bin mit dir, niemand wird dir etwas antun. Viel Volk nämlich gehört mir in dieser Stadt" (Apg 18,10). Viel Volk gehört ihm auch in dieser Stadt Erfurt, in unserem Land Thüringen mit seinen Städten und Dörfern. Die Menschen hier wissen es nur noch nicht und können so nicht „den Vater im Himmel preisen" (Mt 5,16).
Ich frage mich manchmal: Warum ist der mächtige Gott so interessiert, dass das armselige Häuflein seiner Gläubigen ihn den Nichtglaubenden bezeugt? Kann er nicht selbst dafür sorgen, dass er gepriesen wird, er, der sich „aus dem Munde der Kinder und Säuglinge Lob schaffen" kann (Ps 8,3)? Ich denke: Gott hat das so eingerichtet um unseretwillen. Damit wir nicht lahm und müde werden, vergesslich und träge! Es gibt die ungläubige Welt, damit wir gläubiger
werden. Es gibt die Herausforderung der Ungetauften, damit wir erkennen, wie reich wir beschenkt sind.
Die Evangelisierung der Welt fängt bei uns selbst an - und zwar durch den Mut, mit dem wir selbst uns dem Herrn zuwenden. „Herr - fange bei mir an, mit der Bekehrung, mit der Glaubensfreude, mit dem Wagen und Loslassen, dem Verzeihen-Können und dem Leben aus dem Vertrauen!" Wenn das geschieht, braucht ihr euch keine Sorgen machen, ob ihr Licht und Salz werden könnt. Dann seid ihr es, ohne es zu merken oder gar ausdrücklich zu wollen.
Und auch diese Erfahrung werdet ihr machen: Auf dem Weg der Nachfolge Christi können wir nur bleiben, weil wir durch andere gestützt und zum Weitergehen ermuntert werden. Unser christlicher Glaube lebt vom Glauben, Hoffen und Lieben vieler, die mit uns gehen. Für mich waren das, neben manch anderen, die das gar nicht wissen, meine Mutter, mein alter Heimatpfarrer, meine katholische Klassenlehrerin an der sozialistischen Oberschule, mein theologischer Lehrer Heinz Schürmann, es war vor allem der unvergessene Bischof Hugo Aufderbeck. Das ist das Strukturprinzip von Kirche: Miteinander und füreinander - Licht und Salz sein. Aber darin und auf diese Weise eben auch für die Welt, für die kirchenfernen Nachbarn und Kollegen.
Und lasst mich aus aktuellem Anlass noch dies anfügen: Wir stehen bei diesem Tun nicht unter Erfolgszwang. Bei dem derzeitigen Wahlkampf der Parteien ist das bekanntlich anders.
Die armen Wahlkämpfer! Manchmal möchte ich ihnen zurufen: „Es ist gut. Ihr habt jetzt alles so schön und auch mehrfach gesagt. Gönnt euch jetzt ein wenig Ruhe und Erholung! Wir werden am nächsten Sonntag schon richtig wählen!"
Aber nein: Sie dürfen sich nicht ausruhen! Die Kurven der Meinungsforschungsinstitute sitzen ihnen im Nacken. Sie sind zum Erfolg verurteilt! Darum: Einsatz bis zum letzten Tag, sonst gibt es Ärger mit der Zentrale. Ich gebe zu: Der Vergleich ist etwas unfair. Werbung für politische Überzeugungen vor wichtigen Wahlen ist etwas anderes als der Verweis auf Gott und das Vorleben christlicher Werte. Das Evangelium hat es besser als Parteiprogramme: Es gilt länger als 4 Jahre. Vor allem: Es ist nicht auf Mehrheiten angewiesen. Es entfaltet auch dort seine Kraft, wo es Minderheiten leben und glaubwürdig bezeugen. Und zudem gilt: Das Evangelium zielt auf Bekehrung, nicht auf schnellen Applaus.
Doch leite ich aus diesem Hinweis auf unsere unermüdlichen Wahlkämpfer auch eine Mahnung an uns als Wählerinnen und Wähler ab. Meinen wir nicht, ein demokratisches Gemeinwesen lebe nur vom gelegentlichen Wahlgang seiner Bürgerinnen und Bürger. Es lebt davon, dass wir auch zwischen den Wahlgängen verantwortlich leben und handeln.
• Das bedeutet beispielsweise, uns trotz der heute so geweiteten Freiheitsräume dennoch an Recht und Gesetz zu halten.
• Das bedeutet, in Treue zu selbstgewählten Bindungen, etwa in Ehe und Familie zu stehen.
• Das bedeutet, uns in der Pluralität der Meinungen ein feines Gespür für Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit zu bewahren und nicht billigen Parolen oder einer Agitation aus dem Bauch heraus aufzusitzen.
Das bedeutet, im Suchen des eigenen Nutzens den Mitmenschen nicht zu vergessen.
• Das bedeutet, Kinder nicht als Schadensfall anzusehen und das Recht der Ungeborenen auf Leben zu achten.
• Und das bedeutet, uns nicht von Zukunftsängsten umtreiben zu lassen.
Wer nur auf mögliche Schreckensszenarien starrt wie das Kaninchen auf die Schlange, wird in der Tat handlungsunfähig, ja: er wird zukunftsunfähig! Er verliert die Freude am Leben.
Liebe Mitchristen, liebe Gäste dieses Wallfahrtsgottesdienstes!
Der Dienst, in den uns Jesu Wort vom Salz und vom Licht nehmen will, ist keine Überforderung. Was wir sein sollen, sind wir schon längst. Wir müssen nur das aktivieren, was Gottes Geist in uns hineingelegt hat. Das Licht des Evangeliums Gottes auf den Leuchter stellen - das ist keineswegs unmöglich oder gar wirkungslos, auch nicht hier bei uns, bei Menschen, die mit der Zeit merken, dass die irdischen Lichter zu flackern anfangen und das Salz des so heftig angepriesenen Konsums anfängt, schal zu werden.
Ich rufe die katholischen Christen, ich rufe die Mitchristen in der Ökumene auf:
Bleiben wir diesem Land nicht das Gotteszeugnis schuldig! Die Menschen haben ein Anrecht darauf, Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus zu kennen - und sich von ihm Leben schenken zu lassen, bleibendes, „nachhaltiges" Leben, Leben in Fülle, wie Jesus sagt. Nach diesem Leben suchen wir Menschen, ob wir religiös sind oder nicht. Wir halten Ausschau nach einem Halt, der wirklich Halt gibt. Viele Erfurter haben das nach dem schrecklichen 26. April dieses Jahres bewegend zum Ausdruck gebracht. Wir möchten unser einmaliges, so kostbares Leben einem Geheimnis, einer Liebe anvertrauen, ohne den dumpfen Verdacht, dabei getäuscht, dabei „verschaukelt" zu werden.
Liebe Mitchristen! Können wir diesen Verdacht zerstreuen? Wir kennen doch den, der allein Halt im Leben und Sterben geben kann und dessen Liebe den Menschen nicht klein, sondern groß macht. Von diesem Gott gilt es zu sprechen, nicht nur mit Worten, sondern mit der Sprache unseres Lebens, mit der Sprache unseres Herzens. Ihr könnt es - und ihr tut es, mehr als ihr meint!
Nehmt diese Botschaft von der heutigen Wallfahrt mit: Auch das Thüringen des Jahres 2002 ist Gottes Ackerfeld. Es ist Zeit zur Aussaat.
Ihr Jugendlichen, gerade ihr, die ihr im Sommer in Toronto mit dabei gewesen seid! Steckt mit eurer Begeisterung die anderen an! In Niederorschel und in Jena, in Heiligenstadt und in Eisenach Salz und Licht Christi zu sein ist noch spannender als in Toronto!
Es gibt einen lockeren Spruch, der auf die heutige Welt der Werbung gemünzt ist: „Tu Gutes - und rede davon!" Ich möchte diesen Spruch abwandeln: „Lebe aus dem Evangelium - und lass
andere erkennen, warum du das tust!" Es könnte sein, dass uns dabei selbst ein Licht aufgeht! Amen.