Mit den Heiligen sehen lernen

Predigt im Erfurter Dom von Bischof Joachim Wanke am Festtag der Bistumspatronin, der heiligen Elisabeth von Thüringen

 

Liebe Gemeinde!

Es kommt bekanntlich auf die Perspektive an! Man kann Dinge und Personen sehr unterschiedlich sehen. Derzeit wird der Mensch z. B. oft als Verbraucher, als Kunde gesehen. Manchmal mag das durchaus sinnvoll sein - etwa, wenn es um Werbung geht. Aber ist der Mensch nicht zuerst einmal Mensch, lebendige Person, vor allem: Ist er nicht zunächst Mitmensch und zudem ein Mitgeschöpf, ein Partner Gottes?

Die hl. Elisabeth schaute mit einem besonderen Blick auf die Menschen ihrer Zeit. Sie war eine Frau mit einer veränderten Perspektive. Sie war vom Evangelium angerührt, von der Botschaft Jesu vom Gottesreich, wo eine andere Logik gilt als unsere rein ökonomische. Wer dem Evangelium traut, sieht manche Dinge anders. Er fängt z. B. an, in den Armen nicht nur ein soziales Problem zu sehen, sondern den gegenwärtigen Christus.

Jesu eigene Zuwendung zu den Kleinen und Geringen bezeugt nicht allein gesellschaftskritische Sensibilität. Sie ist ein direkter Ausfluss seines Gottesverständnisses. Vor Gott sind die Armen groß, heißt es in der Bergpredigt. Armut ist nicht zuerst ein sozialer Zustand, sondern eine Lebenshaltung. In denen, die bereit sind, alles von Gott zu empfangen, erkennt sich Jesus wieder. Solche Menschen sind Geist von seinem Geist, sie sind die "Anbeter im Geist und in der Wahrheit", wie das Johannesevangelium einmal formuliert (vgl. Joh 4,23).

Jesus hat Gott neu entdeckt. Jesu Leben, sein Verkünden und sein Handeln bezeugen, wie sehr er sich dem Vater im Himmel verdankt weiß. Er will anstiften, die "kostbare Perle", den "reichen Schatz" zu entdecken, um dessentwillen es sich lohnt, alles hinzugeben. Das Reich Gottes, als dessen Verkünder er sich versteht, ist ja letztlich Gott selbst, seine gnädige Herrschaft, sein Erbarmen, das die Sünde und den Tod als Herrschaftsmächte abgelöst hat. Wer sich als Reich-Gottes-Anwärter weiß, gewinnt einen neuen Horizont. Er taucht in Jesu Lebensart ein. Er fängt an, die vielen Dinge "loszulassen", die das Herz besetzen und den Lebenshorizont eng machen. Der Jünger Jesu, der um Christi österlichen Sieg weiß, gewinnt eine neue Weite. Für ungläubige Zeitgenossen ist das immer wieder überraschend. Wie sagt man heute so schön? Christen "ticken" anders.

Darin besteht das Geheimnis der Heiligen. Es geht bei Elisabeth nicht vorrangig um Nächstenliebe als Nächstenliebe. Natürlich geht es auch darum. Wir könnten so sagen: Nächstenliebe ohne Nachfolge Jesu ist eine Tugend. Nächstenliebe um Jesu willen und in seiner Nachahmung ist - Gottesverehrung. Das Handeln des Glaubenden wird dann zu einer Antwort, die nicht den Armen als solchen im Blick hat, sondern in ihm Gott selbst, dessen törichte Liebeslogik wir nachahmen wollen.

Darum gilt von den Heiligen aller Generationen das Jesuswort: "Selig die Augen, die sehen, was ihr seht!" Die Heiligen sehen in der Tat alle Wirklichkeit mit neuen Augen. Sie stellen alle Dinge in einen neuen, eben einen österlichen Horizont. Für uns Christen wird die Wirklichkeit nicht verzaubert. Die Realitäten behalten ihre Widerständigkeit. Wir werden als Christen nicht dem Leid und dem Schmerz enthoben. Uns werden auch keine heroischen Tugendkräfte verliehen, die uns zu Helden einer besonderen, herausragenden Moralität machen. Gern zitiere ich dieses Wort, das ich einmal von einem christlichen Politiker gehört hatte: Wir Christen sind nicht besser (als andere), aber wir haben es besser!

Was uns geschenkt ist, ist diese "Beleuchtung" aller Wirklichkeit, die vom Osterlicht her kommt. Vielleicht erklärt das die tiefe Freude der hl. Elisabeth, die Zeitgenossen an ihr bezeugen. Selbst in Leid und Trauer ist diese Freude nicht von ihr gewichen. Hier ist jemand in einer Liebe geborgen, die für ihn unerschütterlich ist, nicht aufzuheben durch irdische "Todeszeichen".

Was folgt daraus für uns?

Zunächst einmal etwas sehr Tröstliches: Wenn Menschen jenseits einer kirchlich geprägten Lebenshaltung selbstlos und ohne jeden "Dank" ihren Nächsten lieben, berühren sie Gott. Das darf uns in unserem Bestreben, Menschen zur Kirche zu führen, nicht erlahmen lassen. Dennoch ist gut zu wissen: Es gibt auch heute über die Kirchenmitglieder hinaus viele "Gottesfürchtige". Viele meiner Thüringer Landsleute, die mit Kirche nichts anfangen können, sind dennoch Gott nahe - eben, weil sie im Sinn des Gerichtsgleichnisses von Mt 25 in ihrem Leben an manchen Stellen unbewusst Christus dienen, und darin den Vater im Himmel verherrlichen, ohne ihn zu kennen.

Zum anderen: Unser eigener Gottesglaube braucht die Konkretion der "Fußwaschung" am Mitmenschen. Jeder hat da allerlei Gelegenheiten. Besonders wichtig sind jene Dienste, die sich nicht weltlich auszahlen. Es muss in unserem Leben Handlungsweisen geben, die im Sinne der Welt "töricht" sind, die sich nur vom Osterlicht her erklären lassen. Ein Christ wird sich immer wieder zu solch törichtem, im Sinne der Welt törichtem Verhalten verführen lassen.  

Elisabeth hat bekanntlich nicht Wert gelegt auf weltlichen Beifall für ihr Verhalten. Sie hat sich angeschaut gewusst - nicht zuerst von den Menschen, sondern in den Armen ihrer Zeit von Gott selbst. Sie hätte auf Anfragen ob ihres Verhaltens zu den Armen wohl so antworten können: "Ich sehe vieles anders als meine adligen Hofdamen! Schade, ich wünschte ihnen andere Augen!"

Ob das nicht das Geheimnis der Heiligen ist? Sie wussten sich "angeschaut" vom Himmel her. Wenn wir die Heiligen ehren, ehren wir nicht tugendhafte Menschen, sondern rühmen die Kraft Gottes, die Biographien verwandeln kann. Heiligenverehrung ist Lobpreis der Gnade Christi.

Der evangelische Pfarrer Paul Schneider, der Prediger von Buchenwald, hat am Ostertag aus seiner Arrestzelle heraus den Mitgefangenen auf dem KZ-Hof zugerufen. "Christus ist erstanden!" Er ist in seinem Sterben ein Osterzeuge geworden. In dem gleichen Arrestblock hat zuvor der katholische Tiroler Pfarrer Otto Neururer, ein gewissenhafter und treuer Seelsorger, um Christi willen sein Leben gelassen. In diesen und vielen anderen Märtyrern strahlt auf, was alle Christen, über die Konfessionsgrenzen hinweg verbindet: Das gemeinsame Zeugnis für Christus, den österlichen Sieger über alle Menschenschuld, ja über das, was uns am meisten ängstigt, unseren Tod.

Das tröstet mich manchmal: Die Ökumene der Heiligen ist weiter vorangeschritten als die Ökumene der Kirchen. Weil das so ist, kann uns die Verehrung der Heiligen auch ökumenisch weiterhelfen, etwa heute, wo manche evangelische Christen aus dem politischen Leben unseres Bundeslandes diesen Gottesdienst mitfeiern. Elisabeth gehört wahrlich nicht nur den Katholiken. Sie gehört allen Christen. Sie gehört den Menschen unseres Landes, auch den kirchenfernen. Wir wollen sie deshalb immer wieder in den Blick rücken und an ihr lernen, wie wir uns gegenseitig anschauen sollten. Amen.