"Mit dem Himmel beschenkt: Das muss etwas mit unserem Leben hier und jetzt zu tun haben"

Predigt von Bischof Joachim Wanke bei der Bistumswallfahrt 2010 zum Erfurter Dom St. Marien

 

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Bischof Joachim Wanke predigt bei der Erfurter Bistumswallfahrt 2010

"Du bist für mich ein Geschenk des Himmels!" Das kann durchaus auch ein Thüringer, der nicht an den Himmel glaubt, von einem anderen sagen. Aber auch wir haben das sicher schon einmal zu jemandem gesagt: "Dass ich Dich habe, gerade jetzt, darüber bin ich froh. Du bist für mich wirklich ein Geschenk des Himmels!"

Ja, Geschenke des Himmels können unterschiedlichste Gestalt haben. Das kann eine glückliche Fügung sein, die Bewahrung vor einem Unfall, eine unverhoffte, übergroße Freude, oder eben ein guter Freund, eine gute Freundin, die sich meiner annimmt. Mit dem Wort Himmel bringen wir zum Ausdruck, dass man mit einer konkreten Lebenssolidarität durch einen anderen nicht einfach so rechnen kann. Auf das Eingreifen des Himmels in Gestalt einer helfenden Person haben wir kein Anrecht. Im Alltag müssen wir scheinbar ohne den Himmel auskommen - oder doch nicht?

"Mit dem Himmel beschenkt!" Dieses Wort steht über unserem Wallfahrtstag. Das meint doch wohl nicht: später einmal, wenn alles gut geht, wenn Petrus mich nach kritischer Musterung dann doch in den Himmelssaal einlässt, erst dann seien wir "mit dem Himmel beschenkt". So könnte man den christlichen Himmelsglauben gründlich missverstehen, und so ist er auch missverstanden worden, besonders von jenen, die meinten, ohne den Himmel auszukommen. "Den Himmel überlassen wir / den Engeln und den Spatzen" so spottete einst Heinrich Heine. Er und viele andere meinten, wir selbst müssten mit unseren Anstrengungen die Erde himmlischer machen. Aber dieser vielleicht tapfere, aber doch irgendwie naive Optimismus ist uns gründlich ausgetrieben worden.

Also: "Mit dem Himmel beschenkt!" Das muss etwas mit unserem Leben hier auf Erden, mit dem Hier und Jetzt zu tun haben, so ähnlich, wie die konkrete Erfahrung, die hinter dem Ausruf steht: "Du bist für mich ein Geschenk des Himmels!"  

Versuchen wir es einmal so zu verstehen: Wer sich beschenkt weiß, kann anders, kann besser weiter leben. Zumal wenn es sich um so ein Geschenk handelt, bei dem es um die Treue, die Solidarität eines Mitmenschen geht, der mir verlässlich zur Seite steht. Ohne ihn, ohne sie wäre ich in meiner konkreten Situation auf mich allein gestellt. Und das würde bedeuten:
-    Ich stünde unter Dauerstress,
-    hätte für mich keine Alternativen im Handeln,
-    wäre festgenagelt im eigenen Unvermögen.

"Mit dem Himmel beschenkt". Ich möchte einfach sagen, was das für mich bedeutet. Wenn ich vom gegenwärtigen Himmel spreche, meine ich damit, dass Gottes Gegenwart, seine Liebe und Treue schon hier und jetzt mich tragen - auch wenn ich das oft gefühlsmäßig nicht spüre. Aber ich merke, wie dieser Glaube sich bei mir auswirkt. Ich nenne eine erste Erfahrung:

Das Wissen um Gottes Himmel macht mich frei von Lebensstress. Ich sage es einmal ganz zugespitzt: Stress ist Unglaube. Wer sich unter Lebensstress setzen lässt, gibt zu erkennen, dass er den Himmel über sich vergessen hat.

Jetzt sehe ich schon einige hier auf dem Platz unruhig werden, besonders jene, die einen vollen Terminkalender haben, die beruflich angespannt sind von Montag bis Freitag und manchmal noch übers Wochenende. Nein, diesen oft unvermeidlichen Stress, der besonders heute durch Beruf, Wettbewerb oder Zwang zur Weiterbildung entsteht, den meine ich hier nicht. Darum habe ich bewusst gesagt: Lebensstress. Lebensstress entsteht, wenn ich sagen muss: Es kommt allein auf mich an, auf meine Kräfte, auf mein Durchhalten. Ich sehe nichts anderes - als mich selbst, weder den Himmel über mir, noch den Himmel neben mir, den mir Gott in Gestalt guter Menschen, besonderer Fügungen und kleiner Alltagswunder immer wieder eröffnet. "Mit dem Himmel beschenkt" ist einer, der inmitten des Alltagsstresses Gelassenheit und Zuversicht bewahren kann. Nicht ich rette die Welt, sondern da ist ein anderer, der den guten Ausgang aller Dinge, auch meines Lebens, schenkt.

Für mich als Bischof bedeutet das: Gelassenheit auch im Blick auf unsere Kirche, auf die Zukunft des Gottesglaubens auch in unserer Zeit. Ich bin einfach nicht bereit, alle möglichen Untergangsvisionen für die Welt und die Kirche zu akzeptieren, die beinahe täglich auf meinen Schreibtisch flattern. Ich sehe die Glaubenstreue so vieler tapferer Christen in unseren Gemeinden, ich sehe den gelassenen, treuen Dienst unser Priester, Diakone und Gemeindereferentinnen, ich sehe so viele Anzeichen von Nachdenklichkeit, Zuversicht, Lebenstapferkeit und selbstverständlicher Solidarität auch bei kirchenfernen Menschen. Darum ist dieses Wissen mir kostbar: "Ich bin mit dem Himmel beschenkt" - schon jetzt, ganz konkret, von einem liebenswürdigen Gott, der sich jeden Tag neu von mir mit seinen kleinen und größeren Wundern entdecken lassen will.

Ich nenne eine zweite Erfahrung: "Mit dem Himmel beschenkt" zu sein gibt mir die Möglichkeit, im Umgang mit anderen "schöpferisch" zu sein, anders als gewohnt, manchmal sogar überraschend anders zu handeln. Ich bin nicht eingezwängt in Handlungsmuster, die nicht mit dem Himmel rechnen, und darum nur nach irdischer Rechenweise die Probleme meistern müssen: also z. B. in den Kategorien von Vergeltung, meine Rechte einfordern, egal, was es andere kostet, sich behaupten wollen um jeden Preis. Für manche unserer Neueinsteiger in den Glauben, die als Erwachsene sich haben taufen lassen, ist das eine befreiende Erfahrung.

Ich behaupte nicht, dass ich oder gar alle Christen solch schöpferisches Handeln immer und in jedem Fall schaffen. Ich behaupte nur, dass es für den Christen diese Optionen eines alternativen Verhaltens wirklich gibt. Und ich behaupte, dass ein Zuwiderhandeln, also die Tatsache von Schuld und Sünde, wie wir sie jetzt gerade auch in unserer Kirche erfahren, diese Optionen nicht außer Kraft setzt. Hier möchte ich meinen ungläubigen Mitmenschen fragen: Zeige mir Deine Quellen, aus denen heraus Du die Kraft zu durchhaltender, erbarmender Menschlichkeit schöpfst; zum anhaltenden Mut etwa auch angesichts des Scheiterns, und vor allem angesichts der unausweichlichen Tatsache des eigenen Sterbens.

Wer den Himmel kennt, kann schöpferisch handeln, z. B. verzeihen. Für mich ist Nelson Mandela ein solcher Mann, der die Apartheid-Probleme seines Landes versucht hat nicht nach irdischen Gerechtigkeitskriterien allein zu lösen. Vermutlich hätte das einen blutigen Bürgerkrieg bedeutet. Mandela hat aus der Kraft des Gottesglaubens heraus die Kraft zur Versöhnung gefunden und andere mit dieser Vision durch sein eigenes Lebensbeispiel angesteckt. Er hat freilich darauf bestanden, die Wahrheit über das Unrecht der Vergangenheit aufzudecken. Die entscheidende Kommission, die er ins Leben gerufen hat, hieß: "Kommission für Wahrheit und Versöhnung". Aber Mandela hat der Rache keinen Raum gegeben. Er hat seinen Unterdrückern die Hand gereicht und alle zu einem gemeinsamen Neuanfang aufgerufen.

Das meine ich mit schöpferischem Handeln. Wer den Himmel kennt, entwickelt Phantasie und Mut, für manche Fragen Lösungen eines anderen Typs anzustreben als jene Lösungen, die seit Kain und Abel in dieser Welt üblich sind. Sind wir nicht selbst überrascht, wenn jemand mir eine Bosheit nicht nachträgt, meine Schwächen nicht für sich ausnutzt, wenn er ohne Erwartung von Gegenleistung mir beisteht, wenn er bereit ist, mit mir einen Neuanfang zu wagen? Das hat uns Jesus, unser Herr, gelehrt. Das hat er uns vorgelebt. Und darin hat er Gottes Handeln an uns aufgedeckt.

Dieser Himmel neuer, überraschender Handlungsoptionen ist uns Christen geschenkt - und es würde nicht schwer fallen, diese jetzt für manche Lebensfelder durchzubuchstabieren: für das Verhalten in der Politik, in der Wirtschaft, in unseren Pfarrgemeinden, in der Ökumene, in der Familie, in den alltäglichen zwischenmenschlichen Lebensfeldern. Beim kommenden Pastoraltag mit Vertretern aus unseren Pfarreien, Verbänden und Gemeinschaften am 29./30. Oktober hier in Erfurt wollen wir das für unsere Bistumsfamilie tun. Es kann unter uns anders zugehen, wenn über uns der Himmel offen bleibt - und gottlob: Es geht auch anders unter uns zu. Im Lebenszeugnis der Heiligen leuchtet dieses "Anders-Sein" auf. Aber auch in jeder schlichten Tat der Nächstenliebe, die im Geist Jesu geleistet wird. Und das ist dann nichts anderes als das Licht des Himmels, das Gott selbst ist und an dem er uns schon jetzt Anteil gibt: verzeihen können, hoffen können, standhalten können, aber auch sich erbarmen, notfalls immer neu, und sich die Liebe zum Nächsten etwas kosten lassen.

Und ich nenne eine dritte "Himmelserfahrung", eine Erfahrung des Beschenkt-Seins, die vermutlich das Fundament der zuvor genannten Erfahrungen ist: "Mit dem Himmel beschenkt" sein bedeutet für mich: Mit meiner Lebensangst nicht allein zu bleiben. Ich behaupte einmal: Diese Sorge hat nicht nur Martin Luther umgetrieben, sie ist auch eine Frage des heutigen Menschen. Luther hat seinerzeit diese Frage religiös formuliert: "Wie kriege ich einen gnädigen Gott?"  Unsere Fragen heute lauten so: "Gibt es einen Sinn inmitten so vieler Sinnlosigkeiten? Was bedeutet meine kurze Existenz in einem unendlichen, an mir völlig uninteressierten Universum? Was ist mit den um einer angeblich besseren Welt willen millionenfach Ermordeten? Wer schafft ihnen Gerechtigkeit?"

Solche Fragen übertönen wir gewöhnlich in unserer Unterhaltungsgesellschaft mit mancherlei Lärm. Dennoch: In solchen Fragen steht unser Leben als Ganzes auf dem Spiel. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Angst und Überdruss am Leben unsere Zeit kennzeichnen. Ich sehe nicht, wie ein rein säkulares Denken diese Gespenster überzeugend verjagen kann.

Das ist meine Erfahrung: Der Himmel über mir schneidet in meinem Herzen die Wurzeln der Lebensangst ab. Wer einem Sterbenden schon einmal die Hand gehalten hat, wird erahnen, was ich hier meine. Wenn diese Angst in einem hochsteigt, die Frage nach der nur mir bekannten Schuld, dem Versagen anderen gegenüber, der Unfähigkeit, jetzt noch etwas ändern, das Ruder gleichsam noch einmal herumwerfen zu können - das sind Abgründe, die auch dem Menschen von heute trotz Intensivmedizin und Psychotherapie, trotz seiner Fähigkeit zur Kernspaltung und zur Weltraumfahrt zu schaffen machen.

Wir sind mit dem Himmel beschenkt. Man kann ein solches Vertrauen als Illusion abtun. Man kann das als billige Vertröstung verspotten. Aber ist nicht das Leben letztlich nur auszuhalten, wenn man getröstet wird - als Kind auf dem Schoß der Mutter, als Erwachsener durch die Liebe und Zuwendung anderer, als Mensch, der um sein unausweichliches Sterben weiß, von dem, der Herr über das Leben ist - hier und in der Ewigkeit?

Ich stelle mir manchmal Gott vor als einen Partner, der - wie in einem Spiel - auch mit meinen schwächsten, auch den missglückten Spielzügen noch etwas anzufangen weiß. (Wie Roger Federer oder Rafael Nadal, die noch die unmöglichsten Spielbälle schwächerer Partner beim Tennis aufzufangen und in Pluspunkte zu verwandeln wissen). Darum spiele ich so gern mit diesem Gott mein Lebensspiel
-    ohne Stress,
-    mit Mut und Phantasie zu neuem, schöpferischem Verhalten, das sich nicht einzwängen lässt in das Gewohnte, Herkömmliche, Erwartbare, und
-    ohne Angst, mich dabei zu verlieren.  

Vor kurzem wurde hier auf den Domstufen Händels "Messias" aufgeführt. Es war eine gelungene Inszenierung, eine großartige Umsetzung dieses musikalischen Meisterwerkes, das uns auf Jesus Christus schauen lässt, der als der Menschensohn, der Verklärte, der Auferstandene wiederkommen wird in Herrlichkeit. Und auch das Spiel der Kinder "Nicht wie bei Räubers" hier auf den Domstufen, das sicher manche von Ihnen so wie ich mit innerer Freude gesehen haben, hat auf bezaubernde Weise gezeigt, was es heißt, zu diesem Friedenskönig zu gehören. Auf diesen Friedenskönig gehen wir zu. Sein Himmel ist schon unter uns. Wir dürfen als Beschenkte leben. Vergessen wir es nicht. Amen.



Himmlische Ansichtssachen. Fotos von der Bistumswallfahrt 2010