Es war und ist mir ein Anliegen, dass wir uns in unserer Bistumskirche Erfurt in den kommenden Jahren nicht an Strukturfragen abarbeiten - so notwendig richtige und vorausschauende Festlegungen auch sind. Das ist durch die Entscheidungen dieses Herbstes (2009) erst einmal mit allen in der pastoral Tätigen zusammen mit der Bistumsleitung entschieden worden.
Es ist an der Zeit, wieder einen Impuls für unseren inhaltlichen Auftrag als Kirche zu setzen. Es braucht ja die immer neue Orientierung an der Botschaft des Evangeliums. Und diese sagt: "Ihr seid mit dem Himmel beschenkt!" Nicht erst später einmal, sondern schon hier und jetzt. Das neu zu entdecken, es durchzubuchstabieren in unserem Alltag, es zu feiern und uns daran zu freuen - das kann ein Schwerpunkt unseres gemeinsamen Bemühens als Bistumskirche hier in Thüringen, im Eichsfeld sein. Der kommende Advent ist eine gute Zeit, damit anzufangen. Darum habe ich heute Sie alle hierher nach Erfurt eingeladen.
In einem Schreiben vom Dezember 2008 hatte ich vom WAS und WOZU unseres kirchlichen Auftrags gesprochen und davon die Frage nach dem WIE unserer pastoralen Arbeit unterschieden. Die Frohbotschaft von Gottes Reich, das kommen wird und doch schon verborgen unter uns gegenwärtig ist, das Evangelium, das letztlich Jesus Christus selber ist, der für uns Gestorbene und Auferstandene - diese gute Botschaft von unserer Annahme als Kinder Gottes in Zeit und Ewigkeit ist die Mitte unseres Auftrags. Davon sollen wir und alle Gläubigen Zeugnis geben. Diesen Anruf Gottes sollen wir immer intensiver hören und begreifen, ihm mit unserem Leben eine Antwort geben und so Gott durch unsere wachsende Christusähnlichkeit die Ehre geben - also einstimmen in die Lebenseucharistie, die Christus als Sohn immerfort dem Vater im Heiligen Geist darbringt. Dazu ist Kirche da: der Melodie dieses Evangeliums einen Resonanzraum zu geben, damit diese Melodie zum Klingen kommen kann. So soll sie die Herzen der Menschen auch heute erreichen, zur Umkehr einladen und österlich verwandeln.
Zu dem WIE unseres Auftrags, wie das heute geschehen kann und was dazu unsererseits an Anstrengungen und Einstellungen nötig ist, hatte ich seinerzeit in dem genannten Brief fünf Arbeitsfelder vorgeschlagen, von denen ich meine, dass sie im gesellschaftlichen Umfeld unserer pastoralen Arbeit Rückenwind und Zuversicht geben könnten. Es lohnt sich, alle Aufmerksamkeit auf diese Arbeitsfelder zu lenken:
· eine für Menschen interessante und dem Heute angepasste Ehrenamtlichkeit weiter entwickeln;
· das Vernetzen der Glaubenden untereinander und mit anderen befördern;
· "Leuchttürme" kirchlich-katholischen Lebens aufstellen, sei es an besonderen Orten, sei es durch Projekte und spezielle Angebote;
· die caritativen Orte als Orte profilieren, an denen auch Kirche und Seelsorge präsent wird;
· und schließlich sich weiter geduldig mühen, den "geistlichen Grundwasserspiegel" in unseren Gemeinden zu heben.
Diese Arbeitsfelder sollen jetzt bei meinen heutigen Ausführungen nicht im Vordergrund stehen, wiewohl wir darüber künftig noch weiter nachzudenken haben.
Ich möchte heute bei dem WAS und WOZU unseres Auftrags verweilen. Es soll der Inhalt der Glaubensbotschaft, ihre Mitte und ihr Kern in den Blick gerückt werden.
Dabei soll uns ein Stichwort anregen, das - beginnend im Advent dieses Jahres - in den kommenden zwei Jahren zu einem inhaltlichen Schwerpunkt unseres Dienstes werden soll. Die Vorbereitungsgruppe, die darüber beraten hat, fand meines Erachtens ein ansprechendes Leitwort: "Mit dem Himmel beschenkt". Sie wissen ja: Die pastoralen Schwerpunkte, wie wir sie in den letzten Jahren praktiziert haben, bringen an sich inhaltlich nichts Neues. Sie sind vielmehr so etwas wie "Scheinwerfer", mit deren Hilfe wir für eine gewisse Zeit das eine und bleibende Evangelium beleuchten, um so seinen Reichtum, seine Vielfalt und Schönheit besser zu erkennen und anderen - unseren Kindern und Jugendlichen, den Erwachsenen und Senioren und auch den Außenstehenden, die uns hören wollen - zu vermitteln.
"Mit dem Himmel beschenkt"
Das ist eine Kurzbeschreibung dessen, was uns das Evangelium bringt. Natürlich muss diese Kurzbeschreibung entfaltet werden, katechetisch, in Predigt und Gespräch, durch gemeinsames Tun und gemeinsames Feiern (das Seelsorgeamt wird dazu in nächster Zeit Anregungen geben) - aber der Satz deutet an, dass hier besonders der Akzent auf das gelegt wird, was wir geschenkt bekommen, weniger auf das, was wir zu leisten haben. Der Satz ist geeignet, den Geschenkcharakter unseres Glaubens zu beleuchten, seine "Türen und Fenster" öffnende Kraft, die Licht und Freude in unser oft so abgedunkeltes und eingezwängtes Leben bringen kann.
Ich erinnere an mein Bild vom "Spiegelkabinett" aus dem Fasten-Hirtenbrief dieser österlichen Bußzeit. Dort hatte ich diese merkwürdige Baulaune barocker Fürsten in ihren Residenzen (etwa Schloss Sanssouci in Potsdam) als Bild genommen, um die Abgeschottetheit, ja Verblendung des heutigen Menschen zu kennzeichnen, der überall nur sich selbst sehen kann - und nicht imstande ist zu erahnen, dass hinter den verspiegelten Wänden seines Lebens noch eine andere Wirklichkeit vorhanden ist: Gott und seine Liebe, sein Erbarmen mit uns und allen Menschen.
Vergegenwärtigen wir uns einmal anhand einer kurzen biblischen Besinnung, was dieses Stichwort "Mit dem Himmel beschenkt" bedeuten könnte. Ich nehme dazu als biblische Grundlegung den 1. Thessalonicherbrief zu Hilfe, weil hier der Apostel besonders prägnant Neubekehrten die zentralen Gesichtspunkte ihrer neuen Existenz in Christus aufzeigt.
1. Berufen und erwählt
"Wir wissen, von Gott geliebte Schwestern und Brüder, dass ihr erwählt seid", sagt Paulus gleich am Eingang seines Briefes, des ersten christlichen Schreibens überhaupt, das wir kennen (1 Thess 1,4).
Lassen wir diesen Satz einmal kurz auf uns wirken. Da kommt ein Pfarrer zum ersten Mal in seine Gemeinde, eine Gemeindereferentin, ein Gemeindereferent, und sagt den Leuten: "Ich weiß, dass ihr von Gott erwählt seid!" Ein solches Vorverständnis eines Seelsorgers von seiner Gemeinde beleuchtet auf eigentümliche Weise das Verhältnis zwischen Gemeinde und dem in ihr tätigen pastoralen Personal. "Ich habe es mit von Gott Berufenen zu tun! Ich bin hier nicht der große Macher, der alles bewirken und am Leben erhalten muss. Ich darf damit rechnen, dass in diesen Menschen Gott selbst am Werk ist." So und ähnlich kann die Grundhaltung beschrieben werden, mit der wir auf jene zugehen dürfen, zu denen wir gesandt sind.
Die erste Grundbotschaft unseres Glaubens ist die einer gemeinsamen Berufung und Erwählung - "aus Gnade", wie Paulus sagt, "umsonst", "ohne unser Verdienst", "gratis".
Wir werden mit dieser Aussage erinnert an das, was uns heute Psychologen, Therapeuten und Erzieher über die Menschwerdung des Menschen sagen. Damit menschliches Leben gelingen kann, reicht nicht allein die Sicherung der biologischen Existenz durch Nahrung und Kleidung etc. Was dem Kind, dem jungen Menschen, ja auch uns Erwachsenen noch notwendiger zum Leben ist, könnte man mit dem Stichwort "Annahme" umschreiben. Beim Gedenken an das Lebens- und Glaubenszeugnis der hl. Elisabeth vor zwei Jahren haben wir das wieder eindringlich gesehen: Wer sich von Gott angenommen weiß, hat die Kraft, auch den Menschen neben sich anzunehmen, auch den unbequemen, den störenden, den nicht liebenswürdigen Zeitgenossen. Er hat vor allem auch die Kraft, sich selbst mit seinen eigenen Grenzen, Schwächen und Versagen anzunehmen.
Bei Leuten, die durch irgendwelche Umstände bedingt zur Taufe und zum Glauben fanden, hört man oft, wenn man nach ihrem Motiv zur Taufe fragt: "Mir ist auf einmal klar geworden, dass ich kein Zufallsprodukt der Evolution bin." Oder: " Ich bin dem bedrückenden Gefühl der Sinnlosigkeit meines Lebens entronnen." Oder: "Jetzt weiß ich: Da ist jemand, der mich ruft, der mich will, ja - der mich liebt!"
Diese Erfahrungen, die oft schlecht in Worte zu fassen sind, gehören mit zu den Grundlagen christlicher Existenz: das Wissen um das Angerufen sein, nicht allein im Sinne einer existenziellen Betroffenheit, die zur Lebensänderung drängt, sondern zunächst einmal im Sinn einer tiefen Erfahrung der Geborgenheit und des Angenommenseins, die ich einmal mit diesem biblischen Wort: eklogé, Berufung, Erwählung aus 1 Thess fassen möchte. Das ist ein Grundmotiv christlicher Lebensweise, die uns auch die Evangelien bezeugen. Nicht wir fangen mit Gott eine Beziehung an, sondern er fängt sie mit uns an. Er hat uns schon geliebt, als wir noch Sünder waren, sagt Paulus (Röm 5,8). Wie das irdisch-menschliche Leben sich nur durch Annahme und zuvorkommende Liebe entfalten und auf Dauer gelingen kann, so noch mehr das Leben der Gnade in uns: Gott kommt uns immer zuvor - auch in dem, was wir als Kirche tun können.
Ich meine, dass eine solche Sichtweise des Glaubens für unsere Gemeinden entscheidend ist. Verwandlung geschieht durch Annahme, durch das Signal: "Du darfst hier sein, so wie du bist. (Was nicht heißt, das du so bleiben sollst!)" Das kennzeichnet eine Gemeinde, einen Seelsorger, dass er oder sie beispielsweise nicht von der kirchlich-katholischen Sozialisation als Maßstab ausgeht, die die meisten von uns in ihren Kinder- und Jugendtagen erfahren haben. Pastoral fängt dort an, wo der mir begegnende konkrete Mensch derzeit steht - und zwar so, wie er ist, vielleicht nur mangelhaft kirchlich oder überhaupt nicht kirchlich, vielleicht nur sporadisch beim Sonntagsgottesdienst auftauchend, mit einer bunten Biographie mit Bruchlinien und nicht ganz stubenreinen Ecken. Kann er überhaupt das sein, was ich erwarte, was ich bei ihm oder ihr nach katholischem Kindergarten und Ministrantenpraxis als verinnerlicht voraussetze?
Eine solche empathische Betrachtungsweise und Kraft muss in uns wachsen, auch im Kern unserer Gemeinden, und so dem Ärger, dem Frust und der Erfolglosigkeit manchen Tuns in der Seelsorge standhalten lernen. Wir konstatieren vielleicht: Wir haben es mit Sündern zu tun. Aber wir sagen sofort hinzu: Wir haben es nicht nur mit Sündern zu tun, sondern mit von Gott geliebten Sündern! Wir haben es nicht mit "religiös Unmusikalischen" zu tun, sondern mit Menschen, die auf die Melodie des Evangeliums durchaus reagieren- wenn sie denn diese nur wahrnehmen. Oder gibt es keine Nächstenliebe unter den Ungetauften und Abständigen, den Kritischen und Distanzierten? Keine Selbstlosigkeit, kein Erbarmen, keine Hoffnung, keine Einsatzbereitschaft? Wir sind Helfer dabei, dass sie alle den Urheber dieser "Melodie" erkennen können, den großen Komponisten, der auch in ihrem Leben schon etwas zum Klingen gebracht hat. Diese Menschen, die Gott uns zuleitet, sollen wie wir immer mehr lernen, dass wir gemeinsam allen Grund haben, Gott zu danken.
Wir Frauen und Männer im Kernbereich unserer Gemeinden, Verbände und Gruppen, wir Frauen und Männer im Dienst der Seelsorge, auch wir Priester und Diakone müssen lernen, mehr und mehr mit Gottes Augen auf die Menschen zu schauen. "Du bist nicht fern vom Reiche Gottes!" Jesus konnte das dem reichen Jüngling sagen - und doch aushalten, dass er wegging. Vielleicht hat Jesus ihm einen Jünger hinterhergeschickt oder ihm ein Wort geschenkt, dass wie ein Stachel in seinem Herzen hängen blieb. Gott geht manchmal lange Wege mit den Menschen, er geht sie ja auch mit uns.
2. Bekehrt und befreit
Zur christlichen Kernbotschaft gehört von Anfang an die Einladung zu Umkehr und Neuanfang. Das ist das Proprium der Botschaft schon des irdischen Jesus; das gehört zum Kernprogramm der ersten nachösterlichen Verkündigung der apostolischen Generation.
Paulus erinnert seine Thessalonicher, die vermutlich erst wenige Jahre Christen sind, mit diesen Worten an ihre "Lebenswende": "Denn man erzählt sich überall, ... wie ihr euch von den Götzen zu Gott bekehrt habt, um dem lebendigen und wahren Gott zu dienen und seinen Sohn vom Himmel her zu erwarten, Jesus, den er von den Toten erweckt hat und der uns dem kommenden Gericht Gottes entreißt" (1 Thess 1,9f).
Ich diagnostiziere wohl nicht falsch, wenn ich dem heutigen Lebensgefühl unterstelle, trotz vieler äußerer Freiheiten, ja Freizügigkeiten sich wie in einem Gefängnis zu fühlen. Die Klagen über gesellschaftliche, politische, berufliche, aber auch persönlich-familiäre Zwänge sind allenthalben zu hören. Viele möchten ausbrechen aus Vorgegebenheiten, von denen sie sich gefesselt fühlen, aber sie haben dazu nicht die Kraft, oder sie wissen nicht, wie sie es anstellen sollen, oder sie haben es versucht und enden doch wieder in neuen Zwängen (nach dem Motto: "Was rennst du denn dauernd mit dem Kopf gegen die Wand? Was willst du denn in der Nachbarzelle?", Stanislaw Jerzy Lec).
Viele der heutigen Lebensphänomene, die uns Seelsorger manchmal so erschrecken, sehe ich als solche innerweltlichen Befreiungsversuche, die freilich oft am Kern des Problems vorbeigehen, nämlich an der gelingenden Selbstannahme. Es ist, als ob "pubertäre Selbsterprobung auf Kosten anderer" sich bis ins hohe Alter fortsetzt - immer auf der Suche nach dem ultimativen Kick, der dann auch nicht die erlösende Freiheitserfahrung bringt.
Das Evangelium und christliches Leben bieten hier eine echte Alternative. Freisetzung durch Selbstbindung - aber eben nicht an sich selbst, nicht an versklavende Mächte und Gewalten: Sex, Geld, Machtausübung über andere, sondern durch Bindung an Christus und sein Gebot. Das Bild, das ich in diesem Zusammenhang gern gebrauche, ist das des Kletterseils, mit dem ein Hochgebirgswanderer sich zwar selbst bindet, aber mit dessen Hilfe es ihm und seinen Bergkameraden gelingt, sicher höher zu steigen und einen neuen, geweiteten Horizont zu gewinnen.
Freisetzung durch Selbstbindung um eines Gutes willen, das erstrebenswert ist! Das ist ja auch unserer irdisch-menschlichen Erfahrung nicht fremd. Nur irren wir uns oft in dem, was wir für erstrebenswert halten.
Hier gibt uns die Heilige Schrift klare Auskunft. Paulus etwa zeigt in 1 Thess 4 auf, worum es im christlichen Leben gehen soll: Es geht darum, Gott zu gefallen. Es geht um unsere Heiligung. Es geht um ein Eheleben ohne Unzucht, um ein Tätigsein in der Welt ohne Habsucht und betrügerische Geschäfte. Es geht um ein rechtschaffenes Leben, das den eigenen Aufgaben nachgeht und nicht schmarotzt auf Kosten anderer usw. Die paulinischen Mahnungen sind voll von solchen konkreten Vorgaben, die alle in sich - zugegeben von der zeitgenössischen Kultur durchtränkt - konkrete Umsetzungen der geforderten Umkehr und Lebensheiligung sind.
Was bedeutet das für unser kirchlich-pastorales Wirken? Es ist eine Illusion zu meinen, es gäbe ein Christentum zu verbilligten Preisen. Dem Ruf Christi folgen ohne Umkehrbereitschaft und immer neues ehrliches Bemühen, das eigene Leben zu heiligen, schafft nur Frust. Wir sind keine Wohlfühl-Religion, die meint, eine Versuchung am besten dadurch zu überwinden, dass man ihr möglichst schnell nachgibt. Das redet uns der alte Adam zwar ständig ein, dazu jetzt noch vermehrt mit Hinweis darauf, dass das oder jenes ja alle machen und es deswegen wohl nicht so schlimm sein könne, die ethischen Anstrengungen ein wenig herabzuschrauben. Dieser postmodernen Versuchung sollten wir nicht nachgeben - und sollten besonders auch jungen Menschen helfen, die Meßlatte bei sich selbst nicht zu niedrig anzulegen. Sie sollen durchaus wissen, dass es sich lohnt, auch ethisch hohen Maßstäben sich zu stellen.
Was wir als Katholiken freilich nicht brauchen, ist ein Rigorismus, der menschenfeindlich ist. Wir sollen uns auch hüten vor einer ethischen Überheblichkeit, die unwahrhaftig ist und die uns ohnehin keiner glaubt. Was wir brauchen ist das demütige Selbstbewusstsein, in der Bindung an Gott und Jesus Christus eine Freiheit zu gewinnen, die uns vor vielen Manipulationsfallen der heutigen Gesellschaft bewahrt. Wer glaubt, wird souverän, auch souverän, mit eigenen Schwächen und Sünden richtig umzugehen. Die Christusbindung macht frei von Versklavungen, die uns letztlich immer tiefer in die Selbstentfremdung und in Lebenstraurigkeit hineinreißen. Jeder, der ernsthaft mit der Abwendung von einer sündhaften Gewohnheit zu tun hatte, wird dies bestätigen: Den Kampf aufgeben verschafft zwar vordergründig Ruhe, aber das geht auf Kosten der Lebensfreude und der inneren Übereinstimmung mit sich selbst.
Ich sage das hier so deutlich, weil ich um die Verschränkung des eigenen Bemühens auf diesem Feld der Selbstheiligung mit der Wirkkraft unseres pastoralen Bemühens bei anderen weiß. Das ist uns selbst ein Ärgernis. Wir möchten das oft gern trennen, also gleichsam sagen: Ich verkaufe euch die wahre Lehre, aber fragt mich nicht nach meiner Praxis. So geht es eben in der Pastoral nicht. (Übrigens auch nicht auf vielen anderen Feldern von Erziehung und Begleitung).
Werfen wir kurz einen Blick in die Geschichte: Ich glaube schon, dass das antike Christentum nicht zuletzt wegen seiner hohen ethischen Standards (etwa Ablehnung der Abtreibung und Aussetzung von Kindern, vgl. Diognetbrief) in der Umwelt damals Anerkennung und Wertschätzung genoss. Der Ein-Gott-Glaube, die praktische Solidarität und Fürsorge der Christen untereinander und die klaren ethischen Haltungen von Christen - natürlich auch die Chance, im Schatten der jüdischen Synagoge in die römische Gesellschaft hineinzuwachsen, diese Faktoren haben die christliche Mission effektiv gemacht.
Wir sollten Ausschau halten nach solchen Befreiungserfahrungen heute, die durch die Christusbindung möglich werden. Wenn Jugendliche merken, dass ihnen ihr christlicher Glaube hilft, den Zwängen der Werbung, der Cliquenbindung und anderer falscher Lebensidole zu widerstehen, ist "die halbe Miete" schon gewonnen. Die Umkehr von den Götzen zu dem lebendigen Gott, von der Paulus spricht, ist auch heute aktuell wie eh und je. Fangen wir einfach bei uns selbst an. Dann können wir auch manchmal humorvoll von prominenten Katholiken, die mit ihren Ehebrüchen und sonstigen Tabubrüchen noch angeben, als prominenten katholischen Sündern zu sprechen - ohne moralischen Zeigefinger, aber doch so, dass klar wird, was zu einem christlichen Leben gehört, auch wenn wir manchmal dahinter zurückbleiben.
Wir hatten eben schon kurz ein drittes Wesenselement des christlichen Glaubens kurz genannt, was ich hier unter die Kerninhalte des Glaubens einreihen muss: In biblischer Sprache heißt dieses Element "die Bruderliebe". Wir sagen heute besser: die Bereitschaft zu geschwisterlicher Solidarität in und über die Gemeinde hinaus.
3. Solidarisch vernetzt und zum Füreinander herausgefordert
Zu den wichtigsten Erfahrungen auch des heutigen Menschen gehört es, in gelingenden mitmenschlichen Beziehungen leben zu können. Das ist oft ein entscheidender Zugang auch zur Gotteserfahrung. "Dass du da bist, das ist für mich wie ein Geschenk des Himmels!" Wir brauchen diese Erfahrung hier nicht lang und breit auswalzen, weil sie ihre Evidenz in sich hat und fester Bestandteil der Lebenserfahrung ist. Auch hier sei noch einmal auf das Elisabethjahr und seine Einsichten verwiesen, aber auch auf das, was wir wohl selbst mehr oder weniger eindrücklich in unserem alltäglichen Lebens- und Gemeindeumfeld wahrnehmen.
"Mit dem Himmel beschenkt" ist ein direkter Verweis auf die Aufgabe der Glaubenden, in ihrer eigenen Mitte Räume der gegenseitigen Annahme und geschwisterlicher Solidarität zu schaffen, soweit das unter heutigen, stark individualisierten gesellschaftlichen Bedingungen nur möglich ist.
Nochmals. Es geht nicht darum, dass wir den Sozialsaat ersetzen. Das kann zwar in bestimmten Situationen auch Aufgabe von Kirche sein. Ich denke an meinen Besuch in der Gemeinde Tscheljabinsk bei Pfarrer Wilhelm Palesch im August dieses Jahres. Neben der Kirche steht ein Sozialhaus der Gemeinde, in dem unterschiedliche Gruppen von Menschen Hilfe und Solidarität erfahren: Obdachlose, mittags unversorgte Kinder, schwangere Frauen und junge Mütter, die mit dem staatlichen Bürokratiedschungel nicht zurechtkommen oder zu Hause allein gelassen werden, die Drogen- und Alkoholabhängigen, die einen Ausweg suchen und "trocken" bleiben wollen - und schließlich denke ich an die Frauen, die dort medizinische Hilfsgeräte verwalten und ausborgen: Krücken, Krankenfahrstühle, allerlei medizinische Hilfsmittel, an die die Armen dort nicht herankommen, weil ihnen Geld und Beziehungen fehlen.
Da wurde mir wieder deutlich, was unser Bekenntnis zu Gott und Jesus Christus bedeutet: Der Glaube ohne die Bruderliebe bleibt leer, und die Bruderliebe erlahmt, wenn sie nicht von der Erfahrung der Gottesliebe immer neu gespeist wird. Die Caritas ist Sakramentenspendung "vor den Toren der Kirche". Und wir empfangen die Sakramente in rechter Weise nur, wenn sie uns in die Bruderliebe, in die Solidarität und Stellvertretung für und mit anderen entlassen.
Paulus sagt es den Thessalonichern so, als ob er nur an Selbstverständliches erinnert - und das, wie gesagt, bei Neubekehrten: "Über die Bruderliebe brauche ich euch nicht zu schreiben, Gott selbst hat euch schon gelehrt, einander zu lieben; und danach handelt ihr auch an allen Brüdern in ganz Mazedonien." (1 Thess 4,9f). Und tröstlich ist es auch für uns, dass Paulus noch hinzufügt: "Wir ermuntern euch aber, Brüder, darin noch vollkommener zu werden". Es war in Thessalonich sicher auch nicht alles so glorreich, wie wir annehmen. Aber das ist Kernthema der paulinischen Mahnungen in nahezu allen seinen Briefen: die gegenseitige Annahme und Hilfeleistung. So auch in 1 Thess (5,15) "bemüht euch immer (!), einander und allen Gutes zu tun".
Solch ein Mühen um Solidarität und praktische Nächstenliebe gibt es gottlob unter uns - offen erkennbar und verborgen. Stiften wir, die wir unter viel besseren gesellschaftlichen und kirchlichen Bedingungen als die Christen in Russland leben können, zu solcher solidarischen Vernetzung und Hilfeleistung an. Hier sollten wir fortsetzen, was im Elisabethjahr mit seinen Anregungen einen kräftigen Impuls erfahren hat. Die Arbeit unserer Elisabethgruppen, das Caritasteam, Bemühungen um einen Sozialreport in einem Pfarrgebiet, der Kontakt zu den Kindergärten und anderen Sozialeinrichtungen, ob kirchlich-katholischer oder anderer Träger - all das kann helfen, unseren Gottesglauben lebendig und authentisch zu halten. Vergessen wir nicht die Werke der Barmherzigkeit, die wir auf Thüringisch buchstabiert hatten - mit gutem Echo bei den Menschen, auch den nichtreligiösen.
Ich hatte damals beim Abschluss dieses Jahres formuliert:
"Dieses Jahr hat gezeigt: Wer den Himmel ernst nimmt, wird für die Erde tauglich. Das ist für mich so etwas wie eine Quintessenz des Elisabethjahres. Gemeinhin steckt in den Köpfen vieler Menschen bei uns die Vorstellung: Der religiöse Mensch macht sich untauglich für das wirkliche Leben. Elisabeths Biographie zeigt uns das Gegenteil. Und das haben wohl so manche, von der alten DDR-Ideologie und ihrer Religionskritik beschädigten Thüringer mit Staunen entdeckt. Es ist wohl doch nicht so, dass Religion und Himmel nur etwas ist für "Engel und die Spatzen", wie einst Heine gespottet hat. Es ist wohl eher anders: Wer keinen Himmel kennt, bekommt mit der Erde Probleme. Und wer Gott ausblendet, versteht sich selbst nicht mehr. Das Elisabethjahr 2007 hat besser von Gott gepredigt als der Bischof - was will ich mehr? "
Was folgt daraus für uns?
Zunächst einmal etwas sehr Tröstliches: Wenn Menschen jenseits einer kirchlich geprägten Lebenshaltung selbstlos und ohne jeden "Dank" ihren Nächsten lieben, berühren sie Gott. Das darf uns in unserem Bestreben, Menschen zur Kirche zu führen, nicht erlahmen lassen. Dennoch ist gut zu wissen: Es gibt auch heute über die Kirchenmitglieder hinaus viele "Gottesfürchtige". Viele unserer Thüringer Landsleute, die mit Kirche nichts anfangen können, sind dennoch Gott nahe - eben, weil sie im Sinn des Gerichtsgleichnisses von Mt 25 in ihrem Leben an manchen Stellen unbewusst Christus dienen, und darin den Vater im Himmel verherrlichen, ohne ihn zu kennen.
Zum anderen: Unser eigener Gottesglaube braucht die Konkretion der "Fußwaschung" am Mitmenschen. Jeder hat da allerlei Gelegenheiten. Besonders wichtig sind jene Dienste, die sich nicht weltlich auszahlen. Es muss in unserem Leben Handlungsweisen geben, die im Sinne der Welt "töricht" sind, die sich nur vom Osterlicht her erklären lassen. Ein Christ wird sich immer wieder zu solch törichten, im Sinne der Welt törichten Verhalten verführen lassen.
Elisabeth hat bekanntlich nicht Wert gelegt auf weltlichen Beifall für ihr Verhalten. Sie hat sich angeschaut gewusst - nicht zuerst von den Menschen, sondern in den Armen ihrer Zeit von Gott selbst. Sie hätte auf Anfragen ob ihres Verhaltens zu den Armen wohl so antworten können: "Ich sehe vieles anders als meine adligen Hofdamen! Schade, ich wünschte ihnen andere Augen!" Wir könnten auch sagen: Sie hat sich mit dem Himmel beschenkt gewusst.
Ob das nicht das Geheimnis der Heiligen ist? Sie wussten sich "angeschaut" vom Himmel her. Das macht uns die Heiligen so sympathisch. Wenn wir die Heiligen ehren, ehren wir nicht tugendhafte Menschen, sondern rühmen die Kraft Gottes, die Biographien verwandeln kann. Heiligenverehrung ist Lobpreis der Gnade Christi. In den Heiligen schauen wir das, was uns schon jetzt geschenkt ist.
Diese Art des Redens vom Himmel, diese Art von "Predigt", die nicht indoktrinieren will, sondern auf den offenen Himmel verweisen will, diese Verkündigung gleichsam mit Händen und Füßen, mit einem aufmerksamen Herzen - die bleibt uns und unseren Gemeinden aufgetragen. Auch in den neuen, geweiteten Strukturen unseres "Missionsbistums" Erfurt werden wir dazu mancherlei Möglichkeiten haben.
* * *
Ich möchte an dieser Stelle kurz auf die Not zu sprechen kommen, die sicher manche von Ihnen bewegt: Wenn unsere Priester, Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten in noch größere Räume hineingeschickt und ihnen noch mehr Menschen anvertraut werden, können sie auch relativ weniger Menschen auf ihrem Lebensweg so intensiv persönlich begleiten, wie es manchmal nötig wäre - oder wir es uns wünschten.
Diese Not ist nicht einfach aufzuheben. Aber sie verweist uns zum einen auf ein Zukunftsbild von Kirche, in der die weniger werdenden Hauptamtlichen nicht die einzigen Seelsorger sein werden. Wenn alle Getauften und Gefirmten vom Geist Begabte sind, haben sie auch Gaben des Ratens, Begleitens, der Ermutigung und des Vorbild-Seins für andere. Das war auch schon in der Gemeinde zu Thessalonich so.
Zum anderen müssen wir auch ein wenig das Berufsbild unserer Priester und Gemeindereferentinnen/ten korrigieren. Nicht jeder Mensch in und am Rand der Gemeinde kann von Hauptamtlichen persönlich begleitet werden. Das sollte durchaus auch geschehen - exemplarisch, zeichenhaft und so weit wie möglich. Aber unsere hauptamtlichen Seelsorger sind auch dazu da, dass das Geflecht der gegenseitigen Seelsorge aneinander immer dichter wird. Hier greifen dann Überlegungen und Initiativen, die eine missionarische Kirche von morgen prägen werden: Wie können wir die Getauften vernetzen? Zum Ehrenamt motivieren? Pastorale Leuchtturm-Effekte schaffen? Wie Orte, an denen leiblich geholfen wird, zu Orten machen, an denen Kirche berührt werden kann? Und vor allem: Was können wir tun, dass wir alle "geistlicher" werden?
Mir wurde kürzlich von Dr. Arno Wand, Heiligenstadt, ein Brief zur Kenntnis gegeben, den am 16. Juni 1817 der Erzbischöfliche Siegler des Erfurter Domstiftes, also der damals erste katholische Würdenträger der Stadt, an den preußischen König geschrieben hatte. Es war eine flehentliche Bitte, die völlig am Boden liegende Erfurter Seelsorge an den Katholiken nicht noch durch die Aufhebung der drei Klöster der Benediktiner, Schotten und Augustiner und durch die Schließung der Frauenklöster an St. Martini und Crucis/Neuwerk, deren Nonnen im Schuldienst tätig waren, den Todesstoß zu versetzen. Wir wissen - der Brief hatte keinen Erfolg. Die Auflösung der alten Strukturen der Reichskirche war nicht abzuwenden. Aber der Weg der Kirche, auch in Erfurt, ging weiter, nur anders, als der Bittsteller sich wohl vorstellte.
Solche Umstellungen, bei der Liebgewordenes aufgegeben werden und Vertrautes losgelassen werden muss, stehen uns auch heute bevor.
Wir stehen in einer Stunde, in der immer deutlicher ein Gestaltwandel der Kirche in den Blick kommt, dessen Konturen sich erst langsam abzeichnen.
Ich mache diesen zu vermutenden Gestaltwandel einmal an einem konkreten Punkt fest. Ich bin der Überzeugung, dass sich beispielsweise - um dieses missionarischen Auftrags willen - die Dienstämter der Kirche noch weiter entfalten werden. Der Kirche selbst als Ganze ist von Gott in Dienst genommen, sie ist instrumentum salutis, Geburtshelferin für die Verlorenen zu neuem Leben in Gott. Ihr ist zutiefst ein Dienstcharakter zu eigen, der sich auf vielgestaltige Weise zeigen kann. Bleibend notwendig ist für die Kirche das auf Weihe beruhende Dienstamt, stellt dieses doch die Vorgängigkeit des Rufes Gottes an uns dar. Wir sind als Kirche nicht ein Verein, der auf dem Vereinswillen seiner Mitglieder beruht, sondern wir sind von Gott gerufene und auf seinen Anruf antwortende ekklesia, also eine von Gott gestiftete Versammlung, die in der vom Bischof und seinem Presbyterium mit dem Gottesvolk gefeierten Eucharistie ihren sakramentalen Einheitspunkt hat. Das von Papst Benedikt ausgerufene Jahr des Priesters erinnert uns an diese bleibende, unersetzliche Aufgabe des Weiheamtes.
Darin erschöpft sich aber nicht der Dienstcharakter der Kirche. Die Kirche kann, wie jüngst die Päpste, etwa Papst Paul VI. in dem Motu proprio ministeria quaedam von 1972, oder Johannes Paul II. in seinem Schreiben Novo millennio ineunte (Nr. 46) von 2001 hingewiesen haben, noch andere Dienstämter einsetzen, die nicht auf Weihe, sondern auf Taufe und Firmung beruhen. Wohlgemerkt: Diese sind nicht einfach automatisch mit der Taufe gegeben, so wie jeder Getaufte zur allgemeinen Mitarbeit in der Sendung der Kirche angehalten ist. Es handelt sich vielmehr um eigene, spezielle Sendungen. Teils sind sie schon vorhanden (wie der liturgische Dienst des Akolythats und Lektorats oder die Sendung von Frauen und Männern als hauptamtliche Gemeindereferenten oder die Beauftragung von ehrenamtlichen Kommunion- und Diakonatshelfern). Teils aber sind sie noch zu entwickeln, und zwar eben für die Bedürfnisse einer missionarischen, besser gesagt: einer "Sauerteig-Kirche" heute.
Hier bitte ich unsere theologischen Lehrer und alle in der Ausbildung und Pastoral Tätigen, auch das im Marienstift soeben eingerichtete Ehrenamts-Kolleg unseres Bistums um Mithilfe beim Nachdenken, ob weitere solche Laien-Ämter heute gebraucht werden und wie sie in dieser geschichtlichen Stunde unserer hiesigen Kirche aussehen könnten.
Also - um diesen Gedankengang abzuschließen: Die Strukturen sind das eine - der Geist, die Zuversicht, mit der wir dem Evangelium zutrauen, auch unser Herz in Gottes Liebe zu verankern und unsere Mitmenschen für Gott zu gewinnen, ist das andere. Haben wir also keine Angst vor dem, was auf uns zukommt.
"Mit dem Himmel beschenkt"
Das ist zunächst ein Wort, das entfaltet werden will. Aber es kann wie eine Antiphon sein, die sich in unser Herz hineinsingt. Wir berühren damit eine tief im Menschen verankerte Sehnsucht, ganz und heil zu werden.
Ich habe versucht, mit meinen drei Stichworten - berufen, befreit und solidarisch vernetzt - das aufzuzeigen. Überlegen wir immer wieder einmal, ob das, was ich und wir gemeinsam in unseren Gemeinden tun, sich hier ansiedeln und verorten kann. Ich bin sicher: Mit diesen Stichworten sind wir im Herzen dessen, was uns das Evangelium schenken will - und wozu es uns in Bewegung bringen will.
Vortrag gehalten vor Vertretern der Pfarrgemeinden am 28. 11.2009 in der Erfurter Brunnenkirche.