Liebe Schwestern und Brüder im Herrn!
Johann Wolfgang Goethe lässt im 2. Teil des "Faust" die vier grauen Weiber gegen den alternden Faust antreten: den Mangel, die Schuld, die Not und die Sorge. Mangel, Schuld und Not kann Faust abweisen. Sie sind ihm keine Anfechtung. Allein der Sorge gelingt es, sich in sein Inneres, wie Goethe sagt: "durchs Schlüsselloch" seines Herzens zu schleichen.
Der Dichter lässt die triumphierende Sorge sagen:
"Wen ich einmal mir besitze / Dem ist alle Welt nichts nütze ...
Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle ..."
"In der Fülle verhungern ..." Dieses Stichwort wird mir zum Anknüpfungspunkt für mein diesjähriges geistliches Wort an die Gemeinden zu Beginn der Fastenzeit. In der Zusammenstellung der beiden Worte "Hunger" und "Fülle" wird etwas von unserer gegenwärtigen paradoxen Situation deutlich, zunächst ganz allgemein. Die Sorge hat die fatale Eigenschaft, den Blick zu verengen. Wir sehen nicht mehr das Positive, was uns gegeben ist: etwa ein relativer Wohlstand, ein geordnetes Staatswesen, ein Leben in einem friedlichen Europa, individuelle und gemeinschaftliche Freiheiten, von denen andere Völker nur träumen können. Und doch: Sorgen über Sorgen ...
Und das lässt sich auch auf unsere religiöse und kirchliche Situation anwenden. Wir sehen nicht mehr vor lauter Sorgen, was uns von Gott geschenkt ist. Wir haben Weihnachten gefeiert, das Fest der Geburt Jesu Christi, der uns den Zugang zum Herzen Gottes neu geöffnet hat. Und doch sind wir nicht in der Lage, in Mariens Lied einzustimmen: "Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter." Der Blick ist fixiert auf die Schwierigkeiten in der Kirche, die zurückgehenden Zahlen, die Sorge um das Bestehen im Morgen. Manche fragen besorgt: War es früher vielleicht doch besser? Wo sind die alten Sicherheiten geblieben? Warum jetzt diese Erfahrungen des Mangels, des Rückgangs im kirchlichen Leben? Warum allenthalben diese Kritik, diese Auflösung alter Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten? Auch hier also: Sorgen über Sorgen ...
Man könnte diese Klagelitanei leicht fortführen. Doch ich möchte unseren Blick auf ein Wort lenken, das von der biblischen Verkündigung und vom Beten der Kirche her inspiriert ist: Wir sind schon jetzt mit dem Himmel beschenkt.
Dieses Wort soll uns als Leitwort, als ein pastoraler Schwerpunkt in den nächsten zwei Jahren begleiten: in unseren Pfarrgemeinden, in unseren Verbänden und Geistlichen Gemeinschaften, in unseren Familiengruppen und Freundeskreisen und auch als Einzelne, jeden für sich. Darüber werden wir uns noch bei einem Pastoraltag am 29./30. Oktober, zu dem ich nach Erfurt einlade, austauschen können. Der vielgestaltigen Sorge können wir nur Herr werden, wenn wir uns der Liebe Gottes neu bewusst werden. Nicht wir sind es, die die Kirche retten müssen. Wir sind vielmehr von Gott mit einem Reichtum beschenkt, den es neu zu entdecken gilt.
Wie kann dieses "Entdecken" gehen? Ich möchte unseren Blick auf drei Bereiche lenken, in denen sich zeigen kann, was das Wort "mit dem Himmel beschenkt" meint.
(1) Zunächst mache ich aufmerksam auf das, was wir im Kranz der Feste im Kirchenjahr immer neu feiern dürfen: Ostern und Weihnachten, Pfingsten und Himmelfahrt, unsere Patrozinien, die Gedenktage der Heiligen und die Sonntage als wiederkehrende österliche Erinnerung, die das Dunkel des Alltags von innen her erhellen. Diese kirchlichen Feste sind wie Einfallstore für die göttliche Zuwendung zu uns. Indem wir diese Feste bewusst mitfeiern, wird in uns lebendig, was uns im Glauben trägt: dass wir in Gott schon jetzt geborgen und von seinem Erbarmen getragen sind.
Ich lade ein, wieder die Sakramente als Quellorte der göttlichen Liebe neu wertzuschätzen. Die Eucharistie ist eine Wegzehrung nicht nur für die Sterbenden. Sie ist Wegzehrung und Stärkung schon jetzt auf dem Weg der irdischen Pilgerschaft, ein Weg, der noch andauert und der uns Kraft und Mut abfordert. Ich lade ein, das Bußsakrament wieder neu zu entdecken. Dieses kostbare Geschenk des Herrn will uns nicht klein machen. Es will uns im Gegenteil groß und stark werden lassen, weil Gott die "Geringen aus dem Staube heben" und die "Armen mit seinen Gaben beschenken" will.
Zugegeben: Das sind Bildworte. Aber in ihnen verdichtet sich die reale Erfahrung vieler gläubiger Generationen. Auch die Menschen vor uns hatten ihre Sorgen und Nöte, oft größere als wir. Und sie haben sie bestanden und sind tapfer ihren Weg weitergegangen, weil sie um diese sakramentalen Quellen unseres Glaubens wussten und davon Gebrauch machten.
(2) Ich möchte zweitens auf weitere Erfahrungen verweisen, die etwas von Gottes Himmel aufstrahlen lassen. Die Schönheit der Dinge, die uns schon jetzt im irdischen Leben geschenkt ist, lässt uns die Schönheit Gottes erahnen: das Lächeln eines Kindes, die aufkeimende erste Liebe zwischen jungen Menschen, die Treue und Zuneigung, in der Menschen im Alter zueinander stehen, aber auch die Schönheit eines Kunstwerkes, die Schönheit der kleinen alltäglichen Dinge, die uns manchmal erst im Nachhinein bewusst wird. Entdecken wir auch den Reichtum jener Kunst, die die Frömmigkeitsgeschichte in unserem eigenen Land geschaffen hat: Dome und Kirchen, aber auch andere sakrale und säkulare Bauten und Kunstwerke, auch die Musik, die das Herz und die Sinne ansprechen und uns auf Gottes Schönheit verweisen. Die Frömmigkeit geht nicht allein über den Verstand. Sie kann sich auch des Auges bedienen, des Hörens, des Verkostens jener Qualität, die auf eine andere, von oben kommende "Gutheit" und Schönheit verweist. Das kann das Herz anrühren und bewegen. Auch nichtchristliche Menschen finden manchmal Zugang zu Gott, weil sie ein Gespür für den Reichtum, die Vielfalt und die Schönheit der Natur besitzen. Das Bemühen, die Schöpfung zu pflegen und zu erhalten, ist für manche wie ein versteckter Ausdruck einer Frömmigkeit, die sie - aus welchen Gründen auch immer - nicht in religiöse Worte und christliche Lebenspraxis fassen können.
Ich gebe zu: In einer Zeit, die uns mit vielen unnötigen Bildern überschüttet, in der oft das ganze Elend der Welt, auch das Brutale, Hässliche und Obszöne über uns ausgegossen wird, ist es nicht leicht, sich diesen Blick für die Schönheit vieler Dinge zu bewahren. Ich rufe die Künstler, die Musiker, die Schriftsteller, die Architekten, die Erzieher auf, zu helfen, dieses Gespür des Menschen für das Gute und Schöne zu fördern und zu entfalten. Wir erkennen in dem, was wir vorfinden, aber auch in dem, was Menschen neu schaffen und gestalten, die Schönheit unseres Schöpfers, der uns Menschen teilhaben lässt an seiner Fähigkeit, sich im Schönen und Guten zu zeigen. Wir sagen manchmal in bestimmten Situationen und beim Anblick schöner Dinge: "Das ist himmlisch!" Eigentlich ist das gar nicht verwunderlich. Wir sind "mit dem Himmel beschenkt" durch das, was uns schon jetzt in dieser Welt und ihrer Herrlichkeit in manchen Momenten aufleuchtet.
(3) Und ich nenne einen dritten, vermutlich Sie überraschenden Bereich, in dem wir an den Reichtum unseres Glaubens erinnert werden: die Situation von Kreuz und Leid. Hier muss ich jetzt sehr sorgfältig formulieren, um keine Missverständnisse auszulösen. Nein: Es geht nicht um eine Verherrlichung von Kreuz und Leid. Es geht freilich gerade um diese Orte unseres Lebens, die für jeden unvermeidlich sind, weil sie einfach mit unserer Kreatürlichkeit und unserer Endlichkeit zusammenhängen. Gerade dort können wir gewiss werden, dass wir getragen und mit dem Himmel umfangen sind.
Denken wir daran: Nicht die Schwere des Leidens Jesu hat uns erlöst. Erlöst hat uns, dass unser Herr in seinem Leid geduldig blieb und sich nicht von der Liebe zu seinem Vater hat trennen lassen. Er ließ sein irdisches Leben los, aber er ließ sich hineinfallen in die Hände Gottes - uns zuliebe, die wir das immer nur ansatzweise und mit Angst um uns selbst vermischt tun können. Jedes in Tapferkeit angenommene und getragene Leiden, jedes Kreuz, das in Geduld und tiefer Ergebung in Gottes rätselhafte Zumutung ausgehalten wird, verbindet uns mit unserem Herrn, der selbst in unbegreiflicher Solidarität und Liebe um uns gelitten hat.
Wie oft wünschten wir, dass Gott das Leid aus der Welt schafft, vor allem von uns persönlich fernhält. Papst Benedikt hat in der Antrittsansprache bei seiner Amtseinführung gesagt: "Wir leiden unter der Geduld Gottes. Und doch brauchen wir sie alle. Der Gott, der Lamm wurde, sagt es uns: Die Welt wird durch den Gekreuzigten und nicht durch die Kreuziger erlöst. Die Welt wird durch die Geduld Gottes erlöst und durch die Ungeduld der Menschen verwüstet."
Das, was der Papst hier sagt, ist einsichtig. In der Geduld und im Festhalten am Vertrauen werden wir gerettet. Gott hat uns nicht Kreuz und Leid gleichsam als Eintrittsbedingungen für den Himmel verordnet. Das wäre abwegig. Aber er hat Orte des Leidens zugelassen, damit wir erfahren, dass wir selbst dort, in der äußersten Bedrängnis, bei ihm geborgen sind. Vielleicht sind die Kranken, die Behinderten und die Sterbenden in unseren Gemeinden doch der kostbarste Reichtum der Kirche. Sie befinden sich an dem Ort, an dem sie - in Verbindung mit der mitleidenden Liebe unseres Herrn und wenn sie dazu innerlich ihr Ja sagen - schon jetzt mit dem Himmel beschenkt sind.
Es ist tröstlich, dass sich Jesus auf seinem Leidensweg von Veronika hat helfen lassen. Es braucht in unserer Mitte vielgestaltige "Veronika-Dienste", um unseren Kranken und Sterbenden im Glauben beizustehen. Es braucht durchhaltende treue "Elisabeth-Dienste", die sich den Armen und Geringen zuwenden, um ihnen Erfahrungen des "Gehalten-Werdens" zu vermitteln. Ich danke allen, die sich solchen Diensten widmen. Lassen wir darin nicht nach. Solche Dienste helfen mit, dass Menschen schon jetzt erfahren, dass sie mit dem Himmel beschenkt sind.
Liebe Schwestern und Brüder, dieses Wort "Mit dem Himmel beschenkt" gebe ich Ihnen für die kommende Zeit zum Bedenken.
- Wir dürfen die Wahrheit dieses Glaubenswortes erfahren in den Festen des Kirchenjahres, in den Heilszeichen der Sakramente.
- Wir dürfen den Himmel Gottes erspüren dort, wo wir irdischer Schönheit begegnen, "himmlische Augenblicke" verkosten, die erfreuen und trösten.
- Und wir dürfen paradoxerweise dort, wo wir etwas schmerzlich loslassen müssen, erst nach und nach und dann einmal endgültig, erfahren, dass wir dennoch geborgen und angenommen sind. Und eben das ist - in einem ganz tiefen Sinn - der Himmel Gottes.
Ob wir vielleicht doch mehr Grund zum Danken haben, als wir meinen?
Es segne und behüte Sie alle der gute und mächtige Gott: der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Amen.
Ihr
Bischof Joachim Wanke