Diese Kirche, ein kostbares Juwel barocker Baukunst, eine Symphonie aus Licht und Gold, hat eine merkwürdige Mitte: ein Folterbild, unser Herr an der Geißelsäule. Es ist, als wollten die beiden Brüder Zimmermann, die diese Kirche geschaffen haben, uns auf etwas Staunens-wertes aufmerksam machen. Denkt daran und vergesst es nie: Es gibt eine Liebe, die euch unter Schmerzen sucht. Im Bild des gegeißelten Heilandes zeigt sich Gottes Liebe, die uns alle voll Erbarmen umfängt.
Das heutige Bruderschaftsfest will uns daran erinnern, mehr noch, es lädt uns ein, diese für uns leidende Liebe unseres Herrn und Gottes zu feiern - und ihr zu antworten.
Wir wissen aus unserer eigenen Erfahrung: Eine Liebe, die nicht bereit ist, auch in schwierigen Situationen, ja unter Schmerzen am anderen festzuhalten, ist keine Liebe. Sie ist vielleicht versteckte Selbstliebe, vielleicht Ablenkung von eigenen Problemen, vielleicht auch Suche nach sonst fehlender Anerkennung - aber eben nicht Liebe. So manches, was sich als Liebe präsentiert, kann sich als sublimer Egoismus erweisen. Sie ist nur dann nicht Egoismus, wenn es hart auf hart geht, wenn man sich nicht nur an den Rosen erfreuen will, sondern auch die Dornen aushält.
Das Bild der Wieskirche vom gegeißelten Heiland verweist uns auf das Urbild einer Liebe, bei der es keine Täuschung und keinen Irrtum geben kann: Gottes herabsteigende, uns suchende, eine leidensbereite Liebe, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist. Treffend bringt das eine Tafelinschrift zum Ausdruck, die ich einmal unter einem Flurkreuz gelesen habe. Dort stand:
"Du findest deines Gottes Spur,
in jedem Winkel der Natur.
Doch willst du ihn noch größer sehn,
so bleib vor diesem Kreuze stehn."
Ja, hier vor dem Bild unseres leidenden Herrn und Gottes zeigt sich, was wir Christen wirklich verehren: Nicht einen Gott des Schreckens und unerbittlicher Vergeltung, sondern einen Gott, der uns sucht und zu sich heimholen will - in aller Freiheit und ohne uns zu knebeln und zu fesseln, außer eben mit den Fesseln einer Liebe, die bereit ist, um uns zu leiden.
Unsere Liebe muss bei diesem Maßstab ansetzen, bei Gott selbst, dem Urbild und Quell der Liebe. Sie muss sich messen lassen an der Bereitschaft, notfalls das geliebte eigene Leben (oder zumindest Teile davon) herzugeben. Dieser Maßstab zählt, wenn etwas Liebe sein soll. Alles andere wäre nur Spielerei, Konvention oder gar - wie gesagt - Selbstbespiegelung des eigenen Ichs im anderen.
Die Andacht zum gegeißelten Heiland ist also kein Selbstzweck. Hier geht es nicht um fromme, weltenthobene Andacht, die folgenlos bleiben kann. Wer sich geliebt weiß, verändert sich. An jungen Leuten merken wir das manchmal. Wenn sie auf Freiersfüßen gehen, werden selbst die größten Rabauken liebenswürdig. Sie zeigen sich von ihrer besten Seite. Er oder sie sind verändert, weil ein anderer, eine andere sie mit Sympathie und Liebe anschaut. Und manchmal sagen dann die Eltern. Ich kenne dich ja gar nicht wieder!
Es ist darum konsequent, wenn wir bei der Betrachtung einer Liebe, die uns sucht, auf die Nächstenliebe zu sprechen kommen. Liebe ist nur Liebe, wenn sie in Tat und Wahrheit liebt, nicht nur mit Wort und Zunge, wie es im 1. Johannesbrief heißt. Wahrlich - ein gefährliches, hochexplosives Wort, auch für uns Christen heute. So gesehen war und ist die Wieskirche, die hier gepflegte Passionsfrömmigkeit eine kostbare Quelle von Mitmenschlichkeit, Solidarität und gegenseitigem Erbarmen für viele Generationen bis heute.
In Thüringen verehren wir als Bistumspatronin die heilige Elisabeth. Sie kommt ja aus einem berühmten Andechser Geschlecht und ist wohl allen auch hierzulande gut bekannt. Elisabeth ist ja nicht nur Vorbild einer warmherzigen Nächstenliebe, sie ist ja vor allem auch Mystikerin, eine Frau, die häufig vor dem Bild gerade des gekreuzigten Jesus kniete. An solch einer Biographie lässt sich am besten ablesen, wie sehr der Blick auf den passionsbereiten Herrn das eigene Leben und darin auch das Zusammenleben der Menschen verändern kann.
Elisabeth steht da gottlob in einer unübersehbaren Schar anderer Menschen, bekannter und unbekannter, die ihre auf Gott antwortende eigene Liebe in der Lebenshingabe als echt erwiesen haben. Ihnen darin nachzueifern, ist bleibende Aufgabe des Christen, als Einzelne und in Gemeinschaft.
Heute möchte ich diesen einen Gedanken hervorheben: Wenn es so ist, dass Gottes Gott-Sein sich in der Liebe erweist, und diese Liebe daran erkannt wird, dass er um unsretwillen sich seiner Stärke entkleidet, ja schwach wird bis zum Tode - dann bedeutet das eine Revolution im herkömmlichen Gottesbild der Religionen. Das hat schon Paulus erkannt, wenn er im Nachdenken über Jesu Tod am Kreuz und dessen heilbringende Wirkung für uns schreibt: "Diese Botschaft ist den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit."
Wir sind gewohnt, so zu fragen: Braucht es nicht einen starken Gott, um alles Widergöttliche zu vernichten? Braucht es nicht Macht und Gewalt, um die Welt in Ordnung zu bringen? Wie kann Gott noch Gott sein, wenn er sich klein macht, unscheinbar und verletzlich?
Mit solchen Fragen hat das antike Heidentum, aber auch alles nachchristliche Heidentum bis in die Moderne hinein den christlichen Glauben an den gekreuzigten Gott ad absurdum führen wollen. Das Spottkreuz vom Palatin, mit dem ein heidnischer Soldat seinen christlichen Kameraden ärgern wollte: eine am Kreuz hängende Gestalt mit Eselskopf und dazu die Worte gekritzelt: "Alexamenos betet zu seinem Gott!" - das bringt auf den Punkt, warum das Christentum als Störung, ja als Provokation der herkömmlichen Religion empfunden wurde.
Hier wird ein Gott verkündet, der die Verhältnisse auf den Kopf stellt: Hier steht die Hingabe über der Selbstbehauptung, die Schwachheit über der Macht, die Liebe über dem Hass und jeder Form von aggressiver Abgrenzung. Hier leuchtet auf, was Jesus in der Bergpredigt von Gott sagt - und was er selbst im eigenen Leben vollzieht: die Liebe, die - uns zugute, uns zuliebe - bis zum Äußersten geht.
Heute ist allenthalben von der Wiederkehr der Religion die Rede. Ich halte von dieser Diag-nose nicht allzu viel: Die Religion war auch in der Vergangenheit da - wir haben sie hier im angeblich aufgeklärten Europa nur nicht bemerkt. Was jedoch gefährlicher an dieser neuen Wahrnehmung von Religion ist, dass damit eine Angst vor der Rückkehr gewalttätiger Götter verbunden ist. Der Gott des christlichen Glaubens wird mit solchen Gottesvorstellungen gleichsam in einen Topf geworfen und jeder Christ, der seinen Glauben ernst nimmt, als potentieller Terrorist angesehen.
Aber könnte diese Angst vor der Religion auch damit zusammenhängen, dass wir hier in den Ländern der europäischen Christenheit vergessen haben, welchen Gott uns das Evangelium verkündet - den Gott und Vater Jesu Christi, der seine Macht in seiner Liebe erweist, und dessen Liebe sich um unsretwillen arm macht, klein und gering - in der Geburt Jesu in einem Stall ebenso wie in seiner (von uns Sündern provozierten) Hinrichtung am Kreuz.
Diesen Gott gilt es neu und tiefer zu erkennen - um darin alle Angst untergehen zu lassen, die meint, Gott könne nur groß sein, wenn wir Menschen klein und armselig sind.
Nein, umgekehrt ist es - und dafür steht unser Glaube, dafür steht Elisabeth mit ihrem Leben, steht das Lebenszeugnis so vieler Heiliger der Nächstenliebe: Gott will, dass wir groß sind, dass wir heil sind, dass wir reich werden im Erkennen und im Lieben - und darum ist die Schwäche Gottes, die Schwäche seiner Liebe unsere Rettung.
Daran haben wir Gott als den Gott Jesu Christi erkannt, dass er, der Herr, sein Leben für uns dahingab, sagt die Heilige Schrift. Dieses Erkennen Gottes als hingebende, sich verschenkende Liebe hat Elisabeths Leben und Handeln bestimmt. Auf diese Liebe hat sie zu antworten gesucht. Und das hat Elisabeths Leben so liebenswert gemacht - für uns Menschen, und noch mehr für Gott.
Ich bin überzeugt, dass auch von Dir dies gesagt werden kann, von jedem einzelnen, der heute dieses Bruderschaftsfest mitfeiert. Auch Du hast Menschen an Deiner Seite, die dankbar sind dafür, dass es dich gibt. Auch ungläubige Thüringer, die mit Kirche nichts groß anfangen können und nicht wissen, was der Himmel Gottes ist, sagen das manchmal von einem guten Menschen in ihrer Nähe: "Dass es dich gibt, ist für mich wie ein Geschenk des Himmels!"
So kann unsere Nächstenliebe, mag sie auch oft nur schwach und schnell erschöpft sein, doch einen anderen, eine andere mit einer Liebe berühren, die zum Zeichen für Gottes starke, nicht zu strapazierende Liebe wird. Einem anderen zuhören, mit ihm ein Stück seines Lebensweges gehen, Geduld haben mit den Kindern und Enkelkindern, einen Kranken nicht verlassen, für jemanden in Bedrängnis Zeit und Nervenkraft einsetzen, einen Einsamen besuchen und einen Leidenden trösten - und schließlich: für jemanden beten: Das sind Werke der Barmherzigkeit, die auch heute gefragt sind.
Es ist gut, dass es Menschen gibt, die diese Botschaft der Wieskirche tief in ihrem Herzen verstehen. Eure Bruderschaft vom gegeißelten Heiland ist kostbarer und notwendiger, als manche meinen. Hier verehren wir eine Liebe, die uns unter Schmerzen sucht. Hier schauen wir unseren Gott und Herrn, wie er wirklich ist: ein unerschöpfliches Meer des Erbarmens, der Güte und Zuwendung zu uns Menschen. Geben wir davon etwas weiter, jeden Tag neu, bis wir einmal selbst selig verkosten können, was wir hier im Glauben verehren. Amen.
Predigt gehalten am 10.10.2010

