Ins Weite geführt, aber mit dem Himmel beschenkt

Predigt von Bischof Joachim Wanke bei der Erfurter Bistumswallfahrt "Ins Weite geführt..."

Liebe Wallfahrtsgemeinde!

"Ins Weite geführt!"
Was Weite bedeutet, habe ich vor einigen Wochen bei meiner Reise nach Tscheljabinsk, in diese Millionenstadt hinter dem Ural, gemerkt. Dort wirkt schon über 16 Jahre ein Priester aus unserem Bistum als Pfarrer.

Russland ist ein weites Land - in jeder Hinsicht. Bischof Pickel, der einem riesigen Wolgabistum vorsteht und der heute unter uns ist, wird es bestätigen. Die geographische Weite legt sich freilich aufs Gemüt. Zumindest bei mir. Bischof Josef Werth fuhr von Tscheljabinsk aus mit der Eisenbahn in seine Bischofsstadt Nowosibirsk 22 Stunden.

Zwar ist unser Heimatland Deutschland beträchtlich kleiner - aber ins Weite geführt sind wir trotzdem. In diesen Wochen wird allenthalben an die Ereignisse im Herbst 1989 und die nachfolgende Wiedervereinigung gedacht. Mauern sind gefallen - uns hier im Osten ist eine neue Weite geschenkt worden.
Erst 20 Jahre ist das alles her, aber wir sind noch immer dabei, uns in der Weite einer veränderten Gesellschaft mit ihren nahezu unbeschränkten Möglichkeiten zurechtzufinden.

Natürlich: Vieles ist jetzt Alltag geworden. Aber ich habe das Gefühl, dass in dieser pluralen und bunten Welt die Orientierung schwieriger geworden ist. Dazu kommen noch die alten ideologischen Schädigungen. Ihr wisst noch, wie es war. Die Partei erklärte, was Fakt ist, und gab die Marschrichtung vor. Wer nicht parierte, wurde weggesperrt. Schuld an allem Bösen hatten immer die anderen. Manche glauben das ja noch heute!

So war das in einer kleinen, engen Welt. Jetzt aber haben sich neue Horizonte aufgetan, jetzt sind Türen und Fenster offen, jetzt begegnet das Fremde und Unbekannte. Da kommt auf einmal Zugluft auf. Da wird manchen unheimlich, ja ängstlich zu Mute.

In mancher Hinsicht gilt das auch für uns Christen, für unsere Gemeinden und Gruppen. Die enge kirchliche Vertrautheit untereinander, die uns damals in der DDR möglich war, ist ja ebenfalls aufgebrochen. Für unsere jungen Christen stand auf einmal die Welt offen (und viele nutzten das auch, etwa als "Missionare auf Zeit"). Viel Neues war von uns zu verkraften und mancherlei Umstellungen waren gefordert. Das war und ist nicht einfach.

Ich mache noch auf andere Verunsicherungen aufmerksam, die auf diese "Weitung" und Pluralisierung unseres Lebensumfeldes zurückgehen.

·    Der Blick der Naturwissenschaften führt uns immer neue Horizonte des Wissens vor Augen - und manche werden unsicher im Glauben an Gott den Schöpfer aller Dinge.

·    Da begegnen wir zunehmend Menschen mit anderen religiösen Überzeugungen - und sind in der Gefahr, an Christi Heilsbedeutung für alle Menschen zu zweifeln.

·    Oder: Es wird uns von einer liberalen Öffentlichkeit eingeredet, dass die Tötung eines ungeborenen Kindes eine Bagatellsache sei - und schon werden einige in ihrer sittlichen Überzeugung schwankend.  

Liebe Schwestern und Brüder, Sie spüren, worauf ich hinaus will. Ins Weite hinausgeführt zu werden ist nicht unbedingt ein Spaziergang. Die Weite kann verunsichern. Sie kann ängstigen. Die alten Israeliten murrten in der Weite der Wüste über Mose und Aaron und fingen an, sich nach Ägypten zurückzusehnen, wo sie - wie die Bibel formuliert - "an den Fleischtöpfen saßen und Brot genug zu essen hatten" (Ex 16,3). Im Gefängnis lebt man eben sicherer und braucht sich nicht ums Essen sorgen. (Wobei es um die "Fleischtöpfe" in der alten DDR nicht so sonderlich gut bestellt war!).

Ins Weite geführt zu werden hat seinen Preis. Manche ziehen die Sicherheit der Freiheit vor. In einer unübersichtlichen, bunten, weit gewordenen Welt, in der alles Mögliche sich anbietet - als unterhaltsam, als besitzwürdig, als attraktiv - , da braucht man Orientierung. Da braucht man Durchblick. Da braucht es Standfestigkeit, damit man sich nicht verliert.



Darum möchte ich Ihren Blick, liebe Wallfahrerinnen, liebe Wallfahrer, auf ein anderes Wort lenken, das ich gern in der nächsten Zeit zu einer pastoralen Antiphon machen möchte: Ja, wir sind ins Weite geführt - aber dort nicht allein gelassen, sondern: "Mit dem Himmel beschenkt!"

Wir sollten vor dem Pluralismus und der Buntheit der Welt keine Angst haben. Sicher: Es ist einfacher, wenn eine Mehrheit meine Überzeugungen teilt. Aber besteht dann nicht auch die Gefahr der Gewöhnung und der Langeweile? Gibt uns nicht gerade die heutige Situation die Chance, in neuer Weise die Schönheit, den Reichtum unseres Glaubens an Gott und sein Evangelium zu entdecken, gleichsam den Himmel, den Gott über unserem Alltag aufgetan hat?

Die Grundbotschaft unseres Glaubens ist die  einer gemeinsamen Berufung und Erwählung - "aus Gnade", wie Paulus sagt, "umsonst", "ohne unser Verdienst", "gratis".

Das erinnert daran, was uns heute Psychologen, Therapeuten und Erzieher über die Menschwerdung des Menschen sagen. Damit menschliches Leben gelingen kann, reicht nicht allein die Sicherung der biologischen Existenz durch Nahrung und Kleidung. Was ein Kind, ein junger Mensch, ja auch wir Erwachsene noch notwendiger zum Leben brauchen, das ist "Annahme", ist Gewollt-Sein, ist Geborgenheit. Beim Gedenken an das Lebens- und Glaubenszeugnis der hl. Elisabeth vor zwei Jahren haben wir das wieder erkannt: Wer sich von Gott angenommen weiß, hat die Kraft, auch den Menschen neben sich anzunehmen. Er beklagt nicht nur die Not der Welt, sondern tut etwas dagegen (wie heute auf dem Domplatz im Caritaszelt an dem schönen Beispiel "1mal essen, 2mal satt werden" gezeigt wird).  

Ich frage manchmal Erwachsene, die zur Taufe und zum Glauben gefunden haben, was denn der Grund für diese Entscheidung gewesen sei. Da höre ich oft: "Mir ist auf einmal aufgegangen: Ich bin nicht zufällig auf der Welt." Oder: "Jetzt bin ich sicher: Mein Leben ist doch nicht sinnlos." Oder: "Ich habe jetzt einen Ort, wo ich meine Schuld loswerden kann. Jetzt weiß ich: Da ist jemand, der mich liebt!"

Solche Erfahrungen, die oft schlecht in Worte zu fassen sind, gehören mit zu den Grundlagen christlicher Existenz. Es ist das Wissen um das Angerufen-Sein, nicht allein im Sinne einer existenziellen Betroffenheit, die zur Lebensänderung drängt, sondern zunächst einmal im Sinn einer tiefen Erfahrung der Geborgenheit und des Angenommenseins, die ich mit dem biblischen Wort Erwählung fassen möchte. Nicht umsonst hat uns Jesus im Evangelium (vgl. Mk 9,30-37) gerade ein Kind als Vorbild vor Augen gestellt. Nicht wir fangen mit Gott eine  Beziehung an, sondern er fängt sie mit uns an. Er hat uns schon geliebt, als wir noch Sünder waren, sagt Paulus (vgl. Röm 5,8). Wie das irdisch-menschliche Leben sich nur durch Annahme und zuvorkommende Liebe entfalten und auf Dauer gelingen kann, so noch mehr das Leben der Gnade in uns: Gott kommt uns immer zuvor - das ist der Grund unserer Hoffnung. Er kommt auch dem voraus, was wir als Kirche machen können.

Ins Weite geführt, aber mit dem Himmel beschenkt! Lasst mich dieses Wort kurz entfalten auch im Blick auf die Veränderungen, die wir derzeit und in den kommenden Jahren vermehrt in unseren Pfarreien erleben. Unsere Pfarreien werden größer werden. Sie werden einen neuen, weiteren Zuschnitt erhalten. Auch hier wird gelten: Wir werden ins Weite geführt! Es wird weniger Priester geben und die Hauptamtlichkeit in der Seelsorge wird nicht überall mehr selbstverständlich sein. Pfarreien werden aus mehreren Orten bzw. Gemeinden bestehen und diese werden vieles nur miteinander leisten können.

Ich möchte für diese absehbaren Entwicklungen jetzt die Weichen stellen, damit wir in den kommenden Jahren den Kopf und das Herz frei haben für das Wichtigere: dass wir unseren Thüringer Landsleuten frohgemut das Evangelium bezeugen und beim Werk der Seelsorge aneinander und füreinander bleiben. Deshalb gilt es, die Strukturfragen zügig zur Entscheidung zu bringen, auch wenn diese Entscheidungen erst in den vor uns liegenden Jahren praktisch greifen werden. Wichtiger als die Strukturen ist das Nachdenken über Verkündigung, Seelsorge und Caritas. Das möchte ich allen Beteiligten ins Stammbuch schreiben: mir, meinem Ordinariat, den Hauptamtlichen in der Seelsorge, den Pfarrgemeinderäten und Kirchenvorständen, allen Gläubigen im Bistum.

Strukturen sind nicht Inhalte unseres Glaubens. Man kann Strukturen gegebenenfalls ändern, wenn sich Verhältnisse wieder ändern und sich neue Einsichten ergeben. Aber ich darf als Bischof die Fragen jetzt nicht in der Schwebe lassen. Das würde nur Dauerdiskussionen und Frust erzeugen. Ich verspreche mir sogar Entlastung für alle Beteiligten, wenn der Weg in die Zukunft für alle überschaubar und für die Gemeinden transparenter wird. Wir brauchen das Gefühl: "Ja, das ist realistisch zu packen! Es wird manches in Zukunft in unserem Bistum, in unseren Pfarreien anders gehen, aber es wird weitergehen." Helft mit, dass dies ein guter Weg werden kann.



Liebe Wallfahrerinnen, liebe Wallfahrer!
Seit gestern haben sich in Weimar evangelische Christen zu einem Kirchentag der neuen Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland versammelt. Ihnen möchte ich einen herzlichen Gruß zurufen.
Katholische und evangelische Christen haben für dieses Land einen gemeinsamen Auftrag: Christus und sein Evangelium zu bezeugen. Tun wir dies weiter zusammen - so wie damals vor ´89. Der Ökumenische Kirchentag im nächsten Jahr in München wird diesem gemeinsamen Christus-Zeugnis hoffentlich wieder einen kräftigen Impuls geben.

Und nun habe ich noch nichts zu den Wahlen gesagt! Habt Verständnis dafür. Es ist schon genug geredet - und leider auch unnötig verletzt worden. Ich möchte nur zwei Dinge hervorheben:

Zum einen die Binsenweisheit: Wir bekommen die Regierung, die durch die Wählerstimmen am Ende möglich wird. Wer mitbestimmen will, muss wählen gehen. So einfach ist das. Und zum anderen: Wer Wahlergebnisse zu konfessionellem Hader benutzt, schadet der Demokratie und nicht zuletzt der Partei, die seinerzeit, nach den Erfahrungen der Nazizeit, bewusst überkonfessionell gegründet wurde. Und im Übrigen engagieren sich Christenmenschen in allen demokratischen Parteien. Ich lade ein, auch für die Zeit nach den Wahlen, Argumente zu gewichten und nicht polemische Etiketten zu verteilen.  

Vor einer Woche wurde auf einem Münchener S-Bahnhof ein Mann von zwei jugendlichen Schlägern zu Tode geprügelt. Er hatte Kinder vor ihnen beschützt. Man sollte sich den Namen dieses Mannes merken: Dominik Brunner. Ich halte ihn für einen Märtyrer der Zivilcourage. Er verdient unser aller Achtung. Seht, solche Menschen gibt es unter uns - gottlob! Ich meine, auch in der Politik. Achten wir auf sie.



Liebe Wallfahrerinnen! Liebe Wallfahrer!
Ins Weite geführt und mit dem Himmel Gottes beschenkt. Wir haben miteinander unterschiedliche Themen bedacht. Aber sie hängen alle innerlich zusammen.

Wer ins Weite geführt wird, sei es gesellschaftlich, sei es innerkirchlich, sei es in der Konfrontation mit fremden Religionen oder Überzeugungen, der braucht einen klaren Durchblick. Er darf nicht in dem Gewohnten stecken bleiben. Er muss lernen, seinen Glauben, sein Gottesverhältnis zu vertiefen und so mehr und mehr Profil zu zeigen. Das ist wohl die Absicht Gottes, wenn er uns Weite und Freiheit zumutet. Freiheit ist immer risikoreich - zugegeben - , aber sie ist auch schöner.

Der Rückenwind, den Gott uns beim Bestehen dieser Herausforderungen einer neuen Weite und Freiheit gibt, ist beträchtlich. Gott hat uns vor 20 Jahren erleben lassen, zu welchen Wundern er fähig ist - zusammen mit uns Menschen. Vieles ist uns geschenkt worden: eine neue gesellschaftliche Freiheit, die Einheit unseres Vaterlandes, die Begegnungsmöglichkeit mit anderen Völkern und Kulturen. Es haben sich Türen aufgetan, bei denen es uns unmöglich schien, dass sie sich einmal öffnen würden. Hier gleich um die Ecke etwa, die Türen des Stasi-Gefängnisses, wo die Rechtlosigkeit des Einzelnen bitter durchlitten wurde.

Wir haben vielen für dieses Wunder der friedlichen Revolution zu danken, den Polen und Ungarn, dem damaligen Papst in Rom, einsichtigen Politikern, die die Panzer in den Kasernen ließen - und nicht zuletzt vielen Glaubensgeschwistern, etwa aus der Diözese Würzburg (für die heute Bischof Scheele und Generalvikar Hillenbrand am Altar stehen) und anderen Bistümern. Sie haben uns auch in schwieriger Zeit die Treue gehalten und uns nach dem Herbst ´89 bei den ersten Schritten in die neue Freiheit begleitet. Dafür ein herzliches Danke.

Angesichts solcher Erfahrungen - wer mag da zweifeln, dass wir nicht auch in der Zukunft von Gott geleitet werden? Er hält uns seinen Himmel offen. Dafür lasst uns jetzt Gott danken - und aus dem Dank neue Kraft schöpfen für das, was kommt. Amen.

 

 

Fotos/Copyright: Peter Weidemann, BistumsPressedienstErfurt