Liebe Wallfahrer,
in diesem Jahr kann ich meine Predigt nicht anders beginnen als mit einem dankbaren Rückblick auf den Besuch unseres Papstes Benedikt ziemlich genau vor einem Jahr. Hier auf dem Erfurter Domplatz feierten wir zusammen mit unserem hohen Gast die Eucharistie. Am Tag zuvor waren wir mit ihm in Etzelsbach zusammen, um Maria, unsere liebe Frau und Mutter, zu grüßen. Viele von euch konnten dabei sein - und hatten damals mancherlei Beschwerden auf sich genommen und auch gern ertragen, um an diesem denkwürdigen Ereignis teilzuhaben. Und nicht zu vergessen: zuvor der Besuch des Hl. Vaters gleich nach seiner Ankunft hier im Mariendom, u. a. auch sein Gebet am Grab meines verstorbenen Vorgängers Bischof Hugo Aufderbeck und dann die denkwürdige Begegnung des Papstes mit der Evangelischen Kirche in Deutschland im Augustinerkloster, die in die Geschichtsbücher eingehen wird.
Wahrlich, es waren Stunden dicht gefüllt mit Begegnungen und Gottesdiensten, die uns lange in Erinnerung bleiben werden. Der Besuch des Papstes in der Glaubensdiaspora der neuen Bundesländer hatte zwar keine bayerischen oder rheinländischen Dimensionen gehabt - aber was die Festfreude der Gläubigen und die Herzlichkeit der Aufnahme unseres Gastes aus Rom betraf, konnten wir uns durchaus mit anderen Regionen unseres Vaterlandes messen. Papst Benedikt hat diese Herzlichkeit sehr gespürt und in seinem Dankesbrief an mich hervorgehoben. Gern gebe ich diesen Dank an Sie alle und die vielen Helferinnen und Helfer von damals weiter.
Im Vertrauen unterwegs - so haben wir heute unseren Wallfahrtstag überschrieben. Und diese Überschrift passt: Man kann einen Papstbesuch nicht festhalten. Das Leben geht weiter. Ein Jahr nach diesem Ereignis, mag es noch so eindrucksvoll gewesen sein, drängen sich schon wieder andere Fragen und Probleme in den Vordergrund: die Zukunft Europas, die Stabilität des Geldes, die Sicherung der Renten, die bittere Not der Menschen in Syrien.
Wir sind und bleiben unterwegs - als Völkergemeinschaft, als Gesellschaft in diesem Land, auch als Kirche. Aber - und das unterscheidet uns als Gläubige von jenen, die nicht an Gott glauben, wir sind im Vertrauen unterwegs.
"Wo Gott ist, da ist Zukunft!" Das war damals das Motto des Papstbesuches. Ich möchte noch einmal an einige Sätze aus der Papstpredigt auf dem Domplatz erinnern.
"... Hier in Thüringen und in der früheren DDR habt ihr eine braune und eine rote Diktatur ertragen müssen, die für den christlichen Glauben wie saurer Regen wirkte. Viele Spätfolgen dieser Zeit sind noch aufzuarbeiten, vor allem im geistigen und im religiösen Bereich ... Doch zeigen die letzten beiden Jahrzehnte auch gute Erfahrungen: ein erweiterter Horizont, ein Austausch über Grenzen hinweg, eine gläubige Zuversicht, dass Gott uns nicht im Stich lässt und uns neue Wege führt. ´Wo Gott ist, da ist Zukunft.´"
Und weiter hieß es in der Predigt des Papstes: "Wir alle sind davon überzeugt, dass die neue Freiheit geholfen hat, dem Menschen größere Würde und vielfältige neue Möglichkeiten zu eröffnen. Viele Erleichterungen dürfen wir seitens der Kirche dankbar hervorheben, seien es neue Möglichkeiten der pfarrlichen Aktivitäten, seien es Renovierung und Erweiterung von Kirchen und Gemeindezentren, seien es diözesane Initiativen von pastoraler oder kultureller Art."
Und dann diese nachdenkliche Frage des Hl. Vaters: "Haben diese Möglichkeiten uns auch ein mehr an Glauben gebracht? Ist der Wurzelgrund des Glaubens und des christlichen Lebens nicht tiefer als in der gesellschaftlichen Freiheit zu suchen? Viele entschiedene Katholiken sind gerade in der schwierigen Situation der äußeren Bedrängnis Christus und der Kirche treu geblieben. Wo stehen wir heute?"
Genau das ist die Frage, die sich uns nach 22 Jahren politischer Freiheit stellt. Wir erleben, dass viele die neuen persönlichen und gesellschaftlichen Freiheiten als Beliebigkeit verstehen. Meinungsfreiheit kann doch nicht bedeuten, ungehindert extremistisches Gedankengut propagieren zu dürfen, das nachweislich in der Geschichte über die Völker unfassbares Elend und tausendfachen Tod gebracht hat. Oder ist es wirklich beliebig, wie wir mit fundamentalen Gegebenheiten des menschlichen Lebens umgehen? Die Ehe etwa als Verbindung zwischen Mann und Frau, als Kernzelle der Familie, ist nicht etwas Beliebiges, an dem man nach Gutdünken herumoperieren kann. Ehe sollte Ehe bleiben und nicht als Begriff auf alle möglichen Verbindungen von Menschen angewendet werden. Und ich füge ausdrücklich angesichts der gewachsenen biotechnischen Möglichkeiten hinzu: Der unbedingte Schutz des menschlichen Lebens an seinem Anfang und an seinem Ende ist ebenfalls nichts Beliebiges, das man anderen Interessen unterordnen kann. Meine Unterstützung gilt allen, die sich dafür, auch öffentlich, einsetzen. Das menschliche Leben muss eine Gabe bleiben, über die der Geber verfügt, nicht wir.
Wachsende Freiheit braucht wachsende Verantwortlichkeit. Wachsende Freiheit braucht vertiefte innere Verwurzelung unseres Handelns in einem auf Humanität und Solidarität gründenden Menschenbild - quer durch alle politischen und weltanschaulichen Lager hindurch. Darum sind Erziehung und Bildung so wichtig - wichtiger als noch schnellere Computer und noch leistungsfähigere Roboter. Wobei ich gestehe, derzeit auch sehr interessiert auf den Mars zu schauen und zu staunen, was heutiger Technik möglich ist. Aber, so frage ich mich: Warum ist es nicht möglich, den Menschen in Syrien in ihrer Not beizustehen? Hier braucht es wohl mehr als Wissenschaft und Technik. Hier braucht es den Willen aller, besonders der Mächtigen, zum Frieden und zu einem gerechten Ausgleich.
Nein: Wir sind noch lange nicht am Ziel. Wir sind unterwegs - auf eine Welt größerer Solidarität und Gerechtigkeit hin, im Weltmaßstab und in den einzelnen Ländern und Regionen. Es gibt hoffnungsvolle Zeichen, z. B. den Haager Gerichtshof, der länderübergreifend Kriegsverbrechen ahndet - so unvollkommen das derzeit auch noch geschehen mag. Es ist ein Hoffnungszeichen, dass wir immer mehr lernen, global zu denken und dass mehr und mehr auch das Wohl der kommenden Generationen in gegenwärtige Entscheidungen einfließt. Und dass man heute nach dem Zeitalter der Kleinstwohnungen wieder nach "Mehrgenerationenhäusern" Ausschau hält und Jungsenioren nicht in jedem Fall zum "alten Eisen" zählt, zeigt, dass die Vernunft unter uns doch noch nicht ganz ausgestorben ist.
Und auch in der Kirche sind wir unterwegs. An den letzten zwei Tagen trafen sich Delegierte der deutschen Bistümer in Hannover, um über den Auftrag der Kirche in unserer Zeit nachzudenken. Dazu ruft uns das Evangelium Jesu auf: Menschlichkeit und Liebe in die Gesellschaft hineinzutragen. Und das geschieht: beispielsweise durch unsere Pfarrgemeinden und deren Aktivitäten. Ich danke allen, die sich als Kandidaten für die soeben erfolgte Wahl der Pfarrgremien zur Verfügung gestellt hatten und gratuliere den Gewählten! Einen Beitrag leisten zu einer "Zivilisation der Liebe", wie in Hannover gesagt wurde: Das geschieht durch unsere Gemeinden, unsere kirchlichen Verbände und Gemeinschaften. Hier werden Menschen untereinander vernetzt. Hier wird ihnen Hilfe zur Selbsthilfe vermittelt. Vieles Erfreuliche wäre hier zu nennen, bei allem Wissen um die dauernde Reformbedürftigkeit der Kirche auf ihrem Weg durch die Zeit. Wir sind auch als Kirche unterwegs - im Vertrauen.
Als gläubige Christen vertrauen wir freilich nicht nur auf das, was wir Menschen an Gutem bewirken können. Der Quellgrund unseres Vertrauens liegt tiefer. Wir schauen auf Gott, der uns eine Zukunft eröffnet, die wir selbst nicht schaffen können. Wir sind von einem Erbarmen, einer Solidarität "von oben" getragen, die über alle menschlichen Dimensionen hinausgeht. Das musste Petrus, das mussten die Jünger in der Nachfolge des Herrn damals lernen. Unsere Zukunft gründet nicht in menschlichem Planen und Vorhersehen. Was Petrus dem Herrn damals (vgl. das Evangelium Mk 8,27-35) vorzuschlagen hatte, eben nicht nach Jerusalem hinaufzuziehen, das entsprang sicher seiner Sorge um den geliebten Meister. Jesus lebte in der Tat gefährlich. Er hatte mächtige Gegner - und die haben ja, menschlich geurteilt, über ihn obsiegt.
Der Herr aber schaute anders auf sein Leben. Er wusste sich geborgen in den Händen des Vaters im Himmel. Er schaute über das Ende des menschlichen Lebens hinaus. Er hatte im Sinn, was Gottes Wille war: die von Gott weglaufenden Menschen wieder heimzuführen in dessen Vaterhaus, damit sie dort den Frieden, das bleibende Leben finden, dem sie vergeblich hier in dieser Welt nachjagen.
Für mich enthält menschliche Geschichte immer auch Heilsgeschichte. Gott führt sein Volk. Er führt auch heute die Geschicke der Völker - so sehr wir Fragen haben und oft nicht verstehen, warum so viel Leid und Elend von Gott zugelassen wird.
Gott will mit Hilfe unserer Freiheit dem zum Durchbruch verhelfen, was er im Sinn hat. Und wir fangen an, es immer mehr zu begreifen: Nicht das Geld und der Wohlstand werden uns retten, sondern die Treue und die Solidarität, in der wir - angefangen in den Familien bis hin zur Völkergemeinschaft - einander beistehen. Nicht wissenschaftlicher und technischer Forschritt allein machen die Zukunft human, sondern das Mitfühlen mit dem Nächsten, die Empathie mit seiner Not, die konkrete Nächstenliebe. Humanität und Solidarität hängen nicht vom Intelligenzquotienten ab. Sie hängen davon ab, ob wir ein offenes, mitfühlendes Herz haben - und eine Hand, die bereit ist zum Helfen.
Und lasst mich auch diesen Gedanken hier aussprechen: Auch unsere Kirche wird Zukunft haben: nicht als eine "Festungskirche", die sich hinter Mauern und Zinnen vor der bösen Welt verschanzt, sondern als eine Gemeinschaft von Menschen, die mit anderen Menschen, mit den vielen Völkern, Rassen und Religionen solidarisch den Weg in die Zukunft hinein geht - im Wissen um die eigene Schwäche und das eigene Versagen, aber auch im Wissen darum, dass sie als Kirche im Evangelium und in den heiligen Mysterien ihres Glaubens Schätze bewahrt, die für alle Menschen von Bedeutung sind. Intolerante Christen sind für mich ungläubige Christen. Sie wollen selbst Gott spielen und nicht zulassen, dass er Gott und Vater für alle Menschen sein will. Und diese Aussage gilt für alle Religionen. Fanatismus und wahre Religion schließen einander aus.
Darum ist es wichtig, dass auch bei uns an Gott glaubende Menschen da sind, dass heute und morgen auch in einer säkularen Gesellschaft das Evangelium von Jesus Christus verkündet, dass mit Dank und in Freude Gottesdienst gefeiert und die Nächstenliebe nicht vergessen wird. Ich lade meine Thüringer Landsleute ein: Kommt nicht nur an den Tagen des offenen Denkmals in die Kirche, kommt auch zu dem, wozu diese Kirchen gebaut wurden, den Gottesdiensten: um dort Gottes Wort zu hören und dem zu danken, der uns Leben und Heil zu schenken vermag.
So lasst uns im Vertrauen weiter unterwegs bleiben! Gottes Segen begleite uns dabei. Amen.