Beitrag von Bischof emeritus Joachim Wanke, Erfurt, bei der Eröffnung des online-Kolloquiums „Wege- Gestalten – Profile. Katholische Kirche in der sächsischen Diaspora“ vom 18.-20. März 2021
Meine „Außenansicht“ des Bistums Dresden-Meißen, um die ich für den heutigen Abend gebeten wurde, beginne ich mit einer herzlichen Gratulation. Wir Thüringer Katholiken freuen uns, dass es das Bistum Dresden-Meißen gibt. Es ist ja schon an die 1000 Jahre alt. Aber in der „modernen Neuausgabe“ wird es immerhin auch schon 100jährig. Liebes „Sachsen-Bistum“: Blühe, wachse weiter und gedeihe!
Es ist immer gut, freundliche und friedliche Nachbarn zu haben. Das kann man von den Sachsen ja generell sagen. Sachsen hatte meist nie das bessere Militär, es stand auch selten auf der Seite der Sieger, aber dafür hat es mancherlei anderes vorzuweisen: die Hofkirche und den Zwinger, eine weltbekannte Gemäldegalerie, eine exzellente Theater- und Musiktradition, nicht zuletzt auch weithin bekannte Knabenchöre. Der Freistaat hat eine Geschichte, randvoll gefüllt mit Kunst und Kultur. Unsere sächsischen Nachbarn haben die Gabe, mit Geduld, Geschick und Ausdauer, auch unter widrigen Umständen aus den konkreten Verhältnissen etwas Sehens- und Bewahrenswertes zu machen. Langt es nicht mehr für Gold, dann zumindest für Porzellan, und das „vom Feinsten“!
Und das gilt auch für die kleine Schar katholischer Christen, die 1921 das über 1000jährige Bistum Meißen in Neufassung aus der Taufe hoben – sicher: mit vielen Geburtsschmerzen, mit geringen finanziellen und personellen Ressourcen, aus zwei unterschiedlich geprägten Kirchensprengeln herausgewachsen und zudem mit zwei nicht spannungsfreien Sprachfamilien. Die Startbedingungen für eine Bistumsgründung waren nicht sonderlich günstig. Aber der Neuanfang wurde gewagt – trotz aller Bedenkenträger, mit einem mutigen Vertrauen, das mich als Bischof eines ebenfalls wieder begründeten Bistums bis heute staunen lässt.
Es ist eine schöne Fügung, dass Erfurt bei der Meißener Bistumsgeschichte auf dem allerjüngsten Wegabschnitt, nämlich jenem von Bautzen nach Dresden, kirchenamtliche Hilfe leisten konnte. Am 25. März 1980, vor gut 40 Jahren, hat der schon von schwerer Krankheit gezeichnete Bischof Hugo Aufderbeck, mein Amtsvorgänger in Erfurt, Bischof Schaffran feierlich in Dresden zu seiner neuen Kathedra in der Hofkirche geleitet. Damit war die von Papst Johannes Paul II. verfügte Verlegung des Bischofssitzes samt Domkapitel von Bautzen nach Dresden vollzogen. Von da an hieß das Bistum nun offiziell „Bistum Dresden-Meißen“ und die Dresdener Hofkirche wurde Kathedralkirche. Auch das war damals in tiefster DDR-Zeit eine nicht einfache „Geburt“.
Ja, wir Thüringer Katholiken haben durchaus Grund, uns über die Präsenz, die Lebendigkeit und – nicht zuletzt – über die Gastfreundlichkeit unserer sächsischen Glaubensgeschwister zu freuen. Das möchte in meinem Statement besonders hervorheben. Wir Thüringer mussten ja zusammen mit allen Mitbürgern in der DDR gezwungener Maßen eingesperrt leben. Da waren Erholungs- und Besuchsmöglichkeiten im Sachsenland (gleichsam als „Freigang“ innerhalb der Gefängnismauern!) sehr beliebt.
Ich erinnere dankbar an die gastliche Aufnahme, die wir Katholiken – am staatlich reglementierten „Erholungswesen“ vorbei – im Dresdener und Bautzener Land fanden, in kirchlichen Heimen, Bildungshäusern und Klöstern. Mir persönlich sind noch die Häuser in Hoheneichen, in Naundorf und das Jugendhaus in Schmiedeberg in guter Erinnerung. Die Begegnungen mit anderen und der geistliche Austausch mit ihnen bereicherten den eigenen Lebens- und Glaubensweg. Katholischen Studenten war Rosenthal mit seiner Wallfahrt ein Begriff. Der „Osterritt“ im sorbischen Land etwa war schon in kommunistischer Zeit auch für katholische Christen aus anderen DDR-Regionen ein beindruckendes religiöses Erlebnis. Nicht zuletzt wurde das Dresdner Katholikentreffen von 1987 zum „Ostdeutschen Katholikentag“ aller Bistümer und Jurisdiktionsbezirke. Für uns Geistliche, die wir uns über sechs Jahrgänge hin von der gemeinsamen Ausbildungszeit in Erfurt und Neuzelle her kannten, waren Begegnungen und Besuche bei sächsischen Mitbrüdern immer „Familienbesuche“!
Viele Impulse in Seelsorge und Liturgie, in Caritasarbeit und religiöser Bildung gingen vom Bistum Dresden-Meißen aus. Manches davon wird noch in diesem Kolloquium zur Sprache kommen. Was ich aber gern noch einmal betonen möchte: Der Weg unserer Kirche hier im Osten Deutschlands – vor und nach dem „Mauerfall“ – ist nur mit der Würdigung des vielgestaltigen Beitrags unserer Glaubensgeschwister zwischen Vogtland und Lausitz angemessen zu beschreiben. Dafür gilt es heute einfach einmal Danke zu sagen.
Ich möchte heute zum Festjahr keinen Blumenstrauß überreichen. Ich möchte vielmehr einige Überlegungen zur bleibenden Bedeutung von Bistümern – nicht nur als kirchliche Verwaltungseinheiten – auch in heutiger Zeit vortragen. Meine Intention dabei ist die Hoffnung, dass Erfurt und Dresden-Meißen auf dem Weg in die Zukunft auch weiterhin solidarisch beisammenbleiben. Beide Ortskirchen – jede auf ihre Weise und mit ihren Möglichkeiten – sollten sich weiter im Bemühen verbunden wissen, das Evangelium Christi in unsere heutige Lebenswirklichkeit, gleichsam ins „Thüringische“ bzw. ins „Sächsische“ hinein, zu übersetzen und zum Leuchten zu bringen.
Ich gebe zu: Bistumsgründungen sind immer eingebunden in konkrete geschichtliche Situationen. Das ist an den kirchlichen Neuanfängen im jungen Freistaat Sachsen vor 100 Jahren, bei uns in Thüringen bei der Neubegründung des Bistums vor 25Jahren abzulesen. Für das Land Sachsen damals, nach Abdankung des Königs und am Beginn der Weimarer Republik, war ein Auslöser das starke Drängen der sorbischen Katholiken, ein sorbisches Bistum zu bekommen. Dass daraus ein Neustart für das historische Bistum Meißen wurde, hat seinerzeit sicher nicht allen gefallen – aber er hat sich letztlich als segensreich für den Weg der Ortskirche erwiesen.
Für uns in Thüringen bestanden bei der Neugründung des alten bonifatianischen Bistums 1994 ganz andere Rahmenbedingen. Da war zum einen die plötzliche Chance der Deutschen Einheit. Das löste einen enormen Handlungsdruck für notwendige Transformationen in Politik und Wirtschaft und eben auch in unserer Kirche aus. Die Meißener Bistumsgründung 1921 war im Bild gesprochen eine Art „Zangengeburt“, mit schlussendlich römischen „Kaiserschnitt“! Für uns in Thüringen dagegen war sie eine „Sturzgeburt“ – dachte doch niemand in den Jahren zuvor an ein so rasches Ende der DDR und die Notwendigkeit, nun zu dauerhaften, auch kirchlichen Festlegungen zu kommen.
Zum anderen: Wir haben uns als Verantwortliche für unsere Ortskirche in Thüringen mit einer Entscheidung für oder gegen ein eigenes Bistum schwergetan. Können, dürfen wir das Wagnis eingehen? Ist das nicht undankbar angesichts jahrzehntelanger aus Fulda und Würzburg erfahrener Solidarität? Und noch bedrängender: Werden unsere materiellen und personellen Ressourcen reichen, eine größere kirchliche Selbständigkeit zu wagen? Ich weiß noch, wie sehr mich die nach dem Mauerfall plötzlich einsetzende massenhafte Absatzbewegung der Menschen, auch unserer Katholiken, nach dem Westen unruhig machte. Aber wie gesagt: Das „Zeitfenster“ für Entscheidungen war äußerst schmal. Die politischen Entwicklungen warteten damals nicht auf uns. Das Vereinigungsdatum stand fest.
Wenn ich zurückschaue: Letztendlich haben folgende Überlegungen für eine Bistumsgründung den Ausschlag gegeben, die m.E. auch weiterhin Gültigkeit haben. Das Hauptanliegen könnte man so umschreiben: Die Erfurter Bistumsgründung sollte und will auch in Zukunft ein Signal kirchlich-katholischer Beheimatung in Thüringen sein.
Was meine ich damit?
1. Ein katholisches Bistum wird nicht für die Katholiken allein gegründet, sondern für eine geprägte Region und die in ihr lebenden Menschen. Bistümer sind mehr als Verwaltungseinheiten. Sie wollen Signale der Einwurzelung von Kirche und Evangelium in einem historisch und kulturell vorgegebenen Raum sein. Mehr noch als in der DDR-Zeit möchte ich sagen können: Dieses Land ist nicht mein Schicksal, sondern meine Heimat. Die Menschen bei uns in Thüringen sind mir nicht Fremde, sondern Mitbürger und vielfach auch Freunde, nicht zuletzt im Blick auf die Mitchristen aus den anderen Kirchen.
2. Die katholische Kirche in Gesamtdeutschland konnte mit ihren Kirchengebieten im Osten nicht das machen, was nach der Wende oft in der Wirtschaft passierte: Unrentable Betriebe im Osten wurden „ab-gewickelt“. Die Bistumsgründungen In Erfurt und Magdeburg waren Signale dafür, dass hier vor Ort gewachsenes kirchlich-katholisches Leben anerkannt und fortgeführt werden sollte, wenn auch nun unter neuen Bedingungen. Es wurde also, um im Bild zu bleiben, weder etwas „übergestülpt“ noch „ver¬einnahmt“, sondern hier wurde versucht, den gewachsenen Verhältnissen vor Ort Rechnung zu tragen. Und das wurde damals nicht nur von den „abgebenden“ Bistümern, sondern von der ganzen Bischofskonferenz solidarisch mitgetragen. Das war mir besonders wichtig – und ich muss sagen: Diese Solidarität hat auch in den drei Jahrzehnten nach 1989/90 durchgetragen – auch wenn natürlich nun eine neue Generation von Bischöfen und diözesanen Entscheidungsträgern Verantwortung übernommen hat. Und diese haben z. T. wieder andere bzw. zusätzliche Sorgen.
3. Und schließlich noch diese dritte, mir damals wichtige Überlegung: Das ortskirchliche Leben hier im Osten bedarf voraussichtlich für eine längere Zeit einer eigenen Gestaltung und damit auch eines eigenen Freiraums. Und der sollte von den hier lebenden Gläubigen und den hier tätigen (ich möchte ausdrücklich hinzufügen: und hier auszubildenden!) Seelsorgerinnen und Seelsorgern ausgefüllt werden. Denn in vielfacher Weise geht es hier im Osten um Menschen, die durch die Vergangenheit geprägt, oftmals sogar „verwundet“ und „ver-letzt“ sind. Wir hatten Formen des kirchlichen Lebens herausgebildet, die einfach zu uns und unserer hiesigen Situation passten und die jetzt nicht einfach ad acta zu legen sind. Was hier gewachsen ist, ist für diesen Raum und seine Bedürfnisse gewachsen. Ich denke etwa an Aktivitäten des Gemeindelebens wie beispielsweise die sogenannten „Religiösen Kinderwochen“ in den Ferien, an unsere gemeinsamen östlichen Ausbildungsstätten, an die Rolle des gemeinsamen Kirchenblattes, des von allen genutzten Benno-Verlags. Ich erwähne die sinnvolle Zusammenarbeit der Offizialate, der Seelsorgeämter, der Caritasverbände. Es gab bei uns eine gewachsene „Familiarität“ und gegenseitige Vertrautheit, die manches an „Bürokratie“ überflüssig machte.
Sicher: auch wir mussten vom Westen lernen, und das war manchmal auch mühsam. Der schon bald nach dem politischen Neuanfang 1994 in Dres¬den abgehaltene Katholikentag war m.E. damals ein wichtiges Zeichen: Der Osten gehört zu unserer gesamtdeutschen Kirche dazu, aber eben als „Osten“!
Mit Bistumsgründungen wird also eine Option ausgesprochen: Die katholische Kirche will eine „Kirche zum Anfassen“ bleiben, und zwar nicht nur für die jeweils dort wohnenden Katholiken, sondern auch für alle Mitchristen und nicht zuletzt für jene, die mit katholischer Kirche nur das verbinden, was sie aus „zweiter Hand“ erfahren. Das nimmt uns in die Pflicht und sollte uns jede kirchliche Selbstgenügsamkeit austreiben.
Ich wage einmal die Prognose: Die Kirche einer nahen Zukunft wird hierzulande nicht nur Widerspruch bzw. Ablehnung erfahren. Schon jetzt sind manche Indizien erkennbar, die gleichsam „Brückenköpfe“ für die Botschaft des Evangeliums anzeigen. Ich nenne beispielweise ein neu erwachendes Interesse an der weithin unbekannten christlichen Botschaft. Ich nenne die Ausstrahlungskraft authentischer Persönlichkeiten, die für angestrebte humane Hoffnungsgüter stehen. Es gibt gesellschaftlichen Rückenwind durch eine ausgeprägte „Erinnerungskultur“, die auch hierzulande immer wieder auf den christlich-jüdischen Wurzelgrund Europas verweist. Der „Schöpfungsgedanke“ ist in eine einseitig naturwissenschaftlich und technisch geprägte Weltsicht zurückgekehrt, besonders auch mit seinen ethischen Konsequenzen. Selbst die so viel gescholtene Globalisierung zeigt neu und vertieft die Verantwortungsgemeinschaft der Menschheitsfamilie füreinander und für die „Umwelt“ auf. Es gibt eine Müdigkeit an den abgenutzten, ja kompromittierten Ideologien der jüngsten Vergangenheit und eine neue Sehnsucht nach glückenden Beziehungen, im persönlichen Umfeld und ebenso im sozialen und politischen Bereich. Die zivilisatorischen Fortschritte der jüngsten Geschichte, so zerbrechlich sie auch wirken, gewinnen durchaus an Ausstrahlungskraft und wecken Hoffnung auf mehr.
Es ist also durchaus vielversprechend, in diesen neu aufgebrochenen gesellschaftlichen „Ackerboden“ die Saat des Evangeliums auszustreuen. Wir werden dabei durchaus Sympathisanten finden, auch in manchen Fragen Koalitionspartner. Was eine solche Öffnung für uns persönlich bedeutet, muss ich hier nicht entfalten. Es gilt, unserer eigenen christlichen Lebensgestaltung immer neu geistliche Tiefe, gleichsam spirituelles „Grundwasser“ zu geben. Aber auch die Kirche selbst bedarf – weltweit und lokal – einer neuen Beweglichkeit, die sie gerade versucht, in einer sich schnell wandelnden Welt einzuüben.
Ob die Bistumsgründer in Sachsen 1921 das alles auch so gesehen haben? Das mag man bezweifeln. Die Situation war damals anders – aber die geistlichen „Früchte“ der Bistumsneugründung in jener Zeit waren sicher auch jene, die ich soeben für Thüringen als Hoffnungen umschrieben habe. Sie, liebe Glaubensgeschwister im Freistaat Sachsen, sind uns auf diesem Weg schon länger voraus. Wir Thüringer möchten uns auch in Zukunft weiter an Ihrem Vorbild, an Ihrem mutigen Voranschreiten ausrichten – Gott schenke es!