Humanismus mit und ohne Gott - Christlicher Glaube und öffentliche Vernunft

Eingangsstatement von Bischof Joachim Wanke bei einer öffentliche Diskussion im Berliner Bundespressehaus am 22.1.2010

 

Pressemitteilung zum Verlauf der Diskussion

Das Statement von Bischof Wanke (mit Fußnoten) als pdf-Datei zum Herunterladen

Ich treffe oft bei meinen Thüringer Landsleuten auf diese Haltung: "Ach, wissen Sie, Herr Pfarrer, es ist schon gut, dass es so etwas wie die Kirche gibt (wegen der guten Seniorenheime und überhaupt wegen der Moral). Aber ob es Gott gibt? "Nichts Genaues weiß man nicht! Jeder muss für sich allein mit dem Leben zurechtkommen. Und im Übrigen: Ich bin auch ohne Religion ein ordentlicher Mensch!" (Was in den meisten Fällen auch stimmt!)

Hier haben Menschen Abschied von einem Gott genommen, der ihnen vielleicht noch aus ihrer Kindheit durch Religionsunterricht vermittelt wurde (wenn überhaupt). Meist ist ja dieser praktische Ausfall Gottes Folge der Tatsache, dass sie ihren (im besten Fall) früher noch "gelernten Gott" mit ihrem Leben, so wie es ist, nicht mehr zusammenbekommen.

Ich möchte diesen Gesprächsabend mit zwei Überlegungen einleiten: 1. dass Gottesglaube und Denken zusammengehen können, und 2. (im Blick auf die öffentliche, gesellschaftliche Wirkung von Religion) dass der christliche Glaube ethisch ist, aber nicht Ethik garantiert, vor allem nicht ausschließlich.


1. Gottesglaube und Vernunft haben sich gegenseitig etwas zu sagen

Zunächst ist daran zu erinnern: Vernunftargumente für die Existenz Gottes werden einen Glauben an Gott und ein Vertrauen auf ihn allein nie begründen können, es sei denn, es treten Erfahrungen hinzu, die eine Erschütterung eines rein weltimmanenten Daseinsverständnisses mit sich bringen, etwa ein Staunen darüber, dass diese Welt überhaupt existiert, oder das Gefühl einer tiefen Geborgenheit, oder den im Innern empfundenen Anspruch eines unbedingten Sollens oder das Gefühl einer schwer wiegenden Schuld. Man könnte solche und ähnliche Erfahrungen Erlebnisse des Transzendierens nennen, wie das Ludwig Wittgenstein getan hat. Der Erfurter Soziologe Hans Joas spricht von Erfahrungen von Selbsttranszendenz. Die Deutung solcher Erfahrungen ist dabei zunächst offen. Speziell religiöse Erfahrungen machen Menschen, die meinen, in irgendeinem Erlebnis der Gegenwart des Göttlichen zu begegnen, seinem "Anruf", seinem Wink, seiner Spur, etwa im eigenen Leben. Wieder andere werden hellhörig auf diesbezügliche Zeugnisse anderer Menschen, auch etwa in der Literatur. Sie fangen an, tiefer nachzudenken und im eigenen Leben selbst solche Spuren Gottes zu suchen.

Mehr als Argumente sind also Erfahrungen Brücken, die zum Glauben und Vertrauen auf Gott führen. Sie sind Wurzelgrund für einen das Leben bestimmenden religiösen Glauben.

Der katholische Theologe Hans Kessler hat es so formuliert: "Es war nicht die Kantsche Widerlegung der Gottesbeweise, die diese Gott losgewordene Lage herbeigeführt hat, es war das Ausbleiben der religiösen Erfahrung von der Gegenwart Gottes. Nietzsches Satz ,Gott ist tot` markiert das Ende einer Entwicklung, und deren Anfang ist eben der Ausfall der Erfahrung Gottes."

Die mich als Seelsorger bewegende Frage ist: Sind dem Menschen heute Erfahrungen möglich, die eine innere Evidenz für eine religiöse Lebensdeutung besitzen? Ich meine, es gibt solche Erfahrungen, etwa: glückende zwischenmenschliche Beziehungen. Darüber ist jetzt hier (leider) nicht weiter zu sprechen.

Dennoch bleibt es auch weiterhin wichtig, argumentative Brücken zum Gottesglauben zu bauen. Freilich bleibt deren Eigenart zu berücksichtigen. Die folgende Geschichte bringt diese Eigenart gut zum Ausdruck.

Richard Schaeffler, ehemals Lehrstuhlinhaber für Philosophie in Bochum, erzählte in einem Vortrag einmal diese kleine Episode. Sein Neffe, der Physik studierte, kam ratlos zu ihm: "There is no god!" Schaeffler habe metaphorisch geantwortet: Er sei in einer Vorstellung des "Wallenstein" gewesen und habe erfahren: "There is no Schiller!" Damit sollte wohl dem jungen Gotteszweifler verdeutlicht werden, dass Gott immanent, also im Rahmen der vorfindlichen Weltwirklichkeit nicht vorkommen kann wie sonstige Tatsachen. Dem "vorinformierten Blick" aber wird nicht entgehen, dass das ganze "typisch Gott" ist (so wie Wallenstein "typisch Schiller" ist) und Gott (wie der Autor Schiller) die Bedingung der Möglichkeit für das alles, was auf der Bühne zu sehen ist, darstellt. (Das Beispiel hinkt insofern, als Schiller im Unterschied zu Gott eine historische Gegebenheit ist, die empirisch festgestellt werden kann).

Das Beispiel aber macht eines ersichtlich: Gott ist nicht einfach ein Gegenstand, der unter Laborbedingungen dem wissenschaftlichen Blick eines Forschers auszusetzen ist wie jede andere Gegebenheit dieser Welt. Die Frage nach Gott kann deshalb nicht mit wissenschaftlichen Methoden beantwortet werden, weder negativ (wie neuerdings die naturalistische Religionskritik, Dawkins u. a., behauptet), noch positiv, was auch die Theologie nicht behaupten darf. Hier hilft das schöne Zitat Galileis weiter, der eine ältere Quelle zitierend gesagt hat: "Wissenschaft fragt, wie der Himmel funktioniert, und Religion, wie man in den Himmel kommt". Zwischen sky und heaven ist eben ein Unterschied!

Mir liegt daran festzuhalten:
"Die große christliche Tradition meint mit "Gott" nicht ein von der Welt getrenntes, bloß im Jenseits sitzendes Wesen, sondern den absoluten Urgrund des Seins, aus dem alles hervorgeht und der allem ko-präsent ist, d. h. eine total andere Dimension, die nicht erst dort beginnt, wo die uns bekannten (vier oder elf) Dimensionen enden, sondern sie und alles durchdringt und allem zugrunde liegt." Mit anderen Worten: "Einen Gott, den es gibt, gibt es nicht" - so hat es ein Theologe einmal formuliert.

Gott, so dürfen wir zusammenfassen, entzieht sich dem zupackenden und sezierendem Griff des analytischen Denkens. Die menschliche Vernunft kann, wenn sie radikal fragt, den Grenzgedanken von einem tragenden Grund des Ganzen erreichen, aber nicht diesen Urgrund definieren. Kant würde sagen: Wir müssen die Frage nach dem Letzten als "unausgemacht" stehen lassen. Kant hat ja bekanntlich seine Argumente für Gott - er nennt sie Postulate - in der praktischen Vernunft festgemacht, nicht in der "reinen Vernunft". Die "reine Vernunft" muss die Frage nach Theismus und (!) Atheismus unentschieden lassen. Der Theologe sagt: Wir können Gottes Existenz erahnen, aber nicht begreifen. Anselm von Canterbury hat es auf die Formel gebracht: credo ut intelligam - ich glaube, um verstehen zu können, nicht: Ich muss zuvor verstehen, um glauben zu können.

Ich gebe zu: Argumentationstrategisch ist der Atheist im Vorteil. Da die Existenz Gottes nicht einfach auf der Hand liegt, ist die Leugnung einfacher als die Behauptung. In der Regel geht der Theist bei den Hinweisen auf Gott "in Vorhand" und bringt Argumente - Argumente zu destruieren ist aber einfacher als eigene aufzubauen. Deshalb sollte man zum einen immer wieder einmal die Beweislast umkehren und zum anderen darauf aufmerksam machen, dass die Zerstörung eines Arguments noch nicht das Gegenteil beweist.


2. Der Glaube ist kein ethischer Garant des Guten, aber er kann und will darin einweisen

Damit wende ich mich der Frage zu, die in der gegenwärtigen Diskussion um Glaube und Religion eine wichtige Rolle spielt: Brauchen wir Gott als Garanten des Guten? Ist ein Humanismus ohne Gott unmöglich?

Ich sage gleich am Anfang etwas salopp formuliert meine Grundüberzeugung: Christen sind nicht (moralisch) besser (als nichtreligiöse Menschen), aber sie haben es besser.

Man könnte die These vertreten, dass dem Menschen von Natur aus eine gewisse Nächstenliebe eignet (einen Biologen hörte ich einmal sagen, das sei ein Evolutionsvorteil gewesen!). Freilich, ob man mit dieser naturalistischen Betrachtung des Altruismus die unantastbare Würde behinderter Menschen ausreichend schützen kann, ist meines Erachtens fraglich. Aber das mag sich auf die Frage der Motivationskraft von Ethik beziehen, und die könnte in einer auf einem atheistischen Humanismus gründenden Ethik durchaus auch stark sein.

Auf jeden Fall ist die Kritik an der christlichen Ethik zurückzuweisen, diese mache den Menschen abhängig von der Hoffnung auf Lohn bzw. der Furcht vor Strafe, mache ihn also heteronom und nehme daher dem menschlichen Handeln seine Würde. Das ist ein Zerrbild christlicher Ethik, und zudem auch der jüdischen. Man muss durchaus mit solchen Phänomenen bei einer schlechten christlichen Erziehung rechnen. Doch sollten wir zunächst einmal bei der Beurteilung bei der Vollgestalt christlicher Ethik ansetzen.

Im Neuen Testament wird zur Nächstenliebe eingeladen mit dem doppelten Argument: zum einen, weil dies dem Not leidenden Mitmenschen gut tut, und zum anderen, weil ich selbst schon unverdientermaßen Gutes von Gott erfahren habe.

Die Gratuität ist die Quelle der christlichen Ethik. "Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben" (Mt 10,8). Der Mensch, der sich von Gott angenommen weiß, kann sich selbst annehmen, so wie er ist (und das ist eine beachtliche Tat!) - und er kann den anderen an seiner Seite annehmen. Das Primäre an dieser Art von Ethik ist eine positive Vorgabe, ein "Ich darf", nicht das Kantsche "Ich soll". (Dass es dabei auch, wie bei jedem ethischen Handeln, zu Verzerrungen kommen kann, habe ich oben schon gern zugegeben).

Dass nun der Urgrund allen Seins, den wir Gott nennen, Leben und Freiheit zulassende Liebe (Agape) ist, bedeutet eine Annahme, die sich aus dem konkreten Zustand der Welt nicht ableiten lässt. Diese Beschaffenheit ist oft zwielichtig, ja oft zum Weinen. Auch dass diese Zuwendung des göttlichen Urgrundes der Welt Zuneigung zum Menschen, und zwar Zuneigung für alle ist, leite ich allein aus der Botschaft und dem Lebensgeschick des Galiläers Jesus von Nazareth ab. Hier wird für Christen transparent und (im Nachvollzug, wie tausendfach in der Geschichte erwiesen) glaubwürdig erfahrbar: Der Gott Jesu ist ein Gott, der nicht den Menschen, sondern der sich - um des Menschen willen - leiden lässt.

Nochmals: Der Christ will sich mit seiner Ethik nicht über andere erheben. Dazu hat er auch keinen Grund angesichts eigenen Versagens in Geschichte und Gegenwart. Aber diese Ethik erwächst aus dem Wissen, dass Gott zu mir sagt: "Du darfst sein!" Sie erwächst aus einer unverdienten Vorgabe, auf die sie frei antworten will und kann. Christliche Ethik nimmt an Gott Maß, und das ist mehr als jede Gebotsethik leisten kann. Sie wird so zu einer Mystik mit offenen Augen, die sich empathiefähig macht für das Leid des anderen, und daraus Konsequenzen für das eigene Handeln zieht. Es ist bezeichnend, dass es in der christlichen Theologie nicht zur Entwicklung einer Scharia kam, sondern sich antikes Naturrechtsdenken mit der Botschaft Jesu von der voraussetzungslosen Güte Gottes zu einer Ethik verband, die in ihrer humanen Intention für alle Menschen einsichtig und attraktiv sein kann.

Ich bin überzeugt: Diese im christlichen Gottesglauben verwurzelte empathiebereite Ethik dürfte auch für eine humane Gestaltung unserer Zukunft bedeutsam sein. Das wird übrigens ein wichtiges Stichwort im anhebenden Weltgespräch der Religionen sein, aber auch im Gespräch mit Ethiken, die sich aus einer säkularen Option speisen.