Heute christlich leben - Vom österlichen "Mehrwert" des Glaubens

Vortragspredigt von Altbischof Joachim Wanke anlässlich des ökumenisch begangenen Jubiläums "250 Jahre erste Katholische Messfeier nach der Reformation in Mülheim/Ruhr"





Nachfolgend dokumentieren wir die leicht überarbeitete Fassung der Vortragspredigt, die Altbischof Wanke am 22.10.2013 in Mülheim gehalten hat.



Heute wird gemeinsam von katholischen und evangelischen Christen im Gebet der ersten katholischen Messfeier in Mülheim 250 Jahre nach der Reformation gedacht. Das ist ein gutes Zeichen für das in der Geschichte gewachsenen Vertrauens zwischen Partnern, die sich früher nicht immer gut verstanden haben. Im Rückblick wird deutlich, was uns vom Geist Gottes an neuer vertiefter Einsicht in die doch bestehende fundamentale Zusammengehörigkeit aller Getauften geschenkt worden ist. Meine heutigen Überlegungen wollen helfen, uns in der Freude über diese Zusammengehörigkeit zu bestärken. - In einem ersten Gedankengang sage ich es einmal so: Was uns als katholische und evangelische Christen grundlegend eint, ist der Glaube an das Evangelium unseres Herrn.


1. Was meint eigentlich: an das Evangelium glauben?

Sie werden sagen: Das ist sehr allgemein formuliert. Vielleicht sollte ich deshalb meine Frage noch etwas präzisieren: Was heißt es, mitten im Alltag meines Lebens, hier und jetzt, an das Evangelium zu glauben?

Bleiben wir zunächst einmal beim einzelnen Christen mitten in der Welt. Der Christ baut als Arbeiter oder Ingenieur ein Haus oder eine Maschine, er fährt mit Frau und Kindern in den Urlaub und hört ab und zu mit Genuss ein gutes Konzert und sieht sich einen interessanten Film an. Aber er geht eben auch in die Kirche, er liest in der Bibel und gibt im Kollegenkreis zu erkennen, dass er an Gott glaubt und an bleibendes Leben über den Tod hinaus, das in ihm schon jetzt durch Taufe und Glauben wirksam wird.

Somit überlappen sich die Lebensfelder des Christen in seinem Alltag in eigentümlicher Weise mit denen, die jedem Menschen zur Bewältigung und zur Gestaltung aufgetragen sind. Jeder Mensch muss sich mit Arbeit seinen Lebensunterhalt verdienen. Jeder Mensch hat das Bestreben, sich in Arbeit und durch schöpferische Tätigkeit zu "verwirklichen", wie wir heute gern sagen (und ich vermeide jeden negativen Unterton bei dieser Formulierung!).

Was ist dabei nun das christliche Proprium? Für den Christen ergibt sich die Eigenart, dass er nicht nur das eine oder andere noch zusätzlich "leistet" (in der Bibel lesen, beten, den Gottesdienst besuchen), sondern dass er auch seine scheinbar rein profanen Tätigkeiten (also etwa Konstruktionsarbeit am Computer, Verwaltungsarbeit im Büro, häusliche Arbeit, Schaffen am Fließband, Unterrichten von Kindern, Ausfüllen eines politischen Amtes usw.) nochmals in einen besonderen Kontext setzt, in ein besonderes "Licht" hält.

Diese Arbeit, darüber hinaus natürlich der ganze Lebensentwurf eines Menschen, erhält gleichsam eine besondere "Einfärbung", eine Art von Fermentierung, die weithin nicht von der Substanz der eigentlichen Alltagstätigkeit zu trennen ist, so wie Salz oder Zucker sich normalerweise in einer Flüssigkeit für das Auge nicht mehr unterscheidbar in diese auflöst. Oder man könnte auch - um ein anderes Bild zu bemühen - sagen: Der Christ setzt vor seine Tätigkeit in der Welt oder auch in der Kirche wie bei einer mathematischen Klammer ein Vorzeichen, etwa ein Plus, das den gesamten Inhalt der Klammer neu definiert. Nur gelegentlich, gleichsam im Verborgenen und wie im Nebenbei kann aufleuchten, dass zwei Menschen dasselbe tun, etwa einen Kranken pflegen, aber dies auf eigentümliche Weise doch jeweils anders tun.

Am deutlichsten wird für mich dieser Unterschied zwischen Glaubendem und Nichtglaubendem im Verlauf des Sterbens, wobei ich durchaus damit rechne, dass auch ich eine animalische Angst vor dem Sterben habe. Ich hoffe freilich, dass ich einmal im Glauben an Gott die Furcht vor dem völligen Ausgelöscht-Werden überwinden kann, was sich dann in der willigen Annahme des Sterbens als letztem und wichtigsten Akt meiner Glaubensoption ausdrücken mag.

Verlassen wir nun einmal die individuelle Sicht christlicher Existenz und schauen wir auf das Gottesvolk insgesamt, die Kirche, als einer dem Evangelium verpflichtete Gemeinschaft. Einziger Zweck der Kirche ist es, um einmal so verkürzt zu sprechen, den Menschen jeder Zeit und jeder Generation im Auftrag ihres Herrn den Gotteshorizont aufzuschließen. Sie will helfen, aus dem "Spiegelkabinett" einer rein innerweltlichen Sicht des Daseins herauszutreten, gleichsam "Türen" und "Fenster" auf Gott hin zu öffnen. Es geht um die Vermittlung einer neuen, österlichen Lebensperspektive und dieser entsprechenden neuen Lebenshaltung aus dem Vertrauen auf das Evangelium heraus.

Die Kirche tut dies im Wissen und im Glauben daran, dass dieser Jesus mehr als ein religiöser Lehrer war, dass er in seiner Person selbst Zugang zur Gotteswirklichkeit eröffnet, also gleichsam eine "Tür" ist, durch die Gott in unser Leben, in diese Welt eintritt und umgekehrt wir Zugang zur Gotteswirklichkeit erhalten. Mit diesem Bildwort von der "Tür" kennzeichnet ja der 4. Evangelist das gesamte Wirken Jesu, das eben mit seinem Tode nicht aufhört, sondern bis zur Weltvollendung am Ende aller Geschichte im Wirken der Kirche fortdauert. Er bleibt also auch heute "die Tür" zur Gotteswirklichkeit. In und mit der Kirche leben heißt, in seinem fortlebenden "Leib" zu leben, in ihm zu "bleiben", wie der Evangelist Johannes uns einlädt. Man kann Jesus nicht ohne seinen Leib haben. Dann hätten wir höchstens eine geschichtliche Erinnerung an ihn, eine blasse Idee, eine Art Lehre, die man nach Belieben modifizieren könnte. Das ist die Zumutung des christlichen Glaubens, sein "Alleinstellungsmerkmal" unter den großen Weltreligionen: Ohne ihn, ohne den in seinem durch die Geschichte mit uns gehenden "Leib", in dem er als der erhöhte Herr unter den Glaubenden anwesend bleibt, können wir nichts Heilsrelevantes tun. So eine Spitzenaussage des 4. Evangelisten. Das gilt es sehr ernst zu nehmen.

Um es nochmals anders zu sagen: Die Kirche ist um des Evangeliums willen da. Evangelium meint in diesem Zusammenhang nicht nur die Verkündigung des irdischen Jesus von Nazareth, wie sie uns in den vier geschrieben Evangelien überliefert sind. Das ist zwar eine weitverbreitete Meinung, die freilich verkürzt, was Evangelium in seinem Vollsinne ist. Evangelium im christlichen Sinn meint die Einsetzung des auferstandenen Christus in alle "Macht und Herrlichkeit", wie wir dies im Credo bekennen. Für den Christen gilt seit Ostern ein grundlegender Machtwechsel, eine Ablösung aller weltimmanenten Mächte und Gewalten aus ihren Machtpositionen und die Einsetzung des Auferstandenen zum Herrn über alle Welt. In der Kirche - so die Grundaussage des Epheserbriefes - befinden wir uns schon in diesem Herrschaftsbereich Christi, in seinem "Leib", in dem wir mehr und mehr zur vollkommenen Gabe für Gott verwandelt werden. Man könnte diesen Vorgang, um ihn einmal in unserem heutigen Erfahrungshorizont auszudrücken, mit dem politischen "Machtwechsel" vor gut zwei Jahrzehnten im Osten Deutschlands vergleichen und seine einschneidenden Folgen und Möglichkeiten, die übrigens auch nicht von allen Menschen wirklich existentiell nachvollzogen und verinnerlicht werden. Manche Zeitgenossen leben eben noch "vorwendemäßig" - und wundern sich, dass in ihrem Leben nichts Aufregendes passiert.

Dieser Botschaft einer von Gott her inszenierten "Wende", diesem Evangelium vom "österlichen Mehrwert" unseres Lebens soll in jeder Generation ein "Resonanzraum" geschaffen werden. Ich gebrauche in diesem Zusammenhang gern dieses Bild. Instrumente benötigen bekanntlich einen Resonanzraum, in welchem der erzeugte Ton zum Klingen kommen kann. Der "Ton", die Botschaft von Jesu Leben, Sterben und Auferstehung ist in der Welt. Diese Botschaft ist ein geschichtsmächtiges, uns auch kulturell prägendes Faktum. Aber diese Botschaft will immer neu gehört und angenommen werden. Sie will und soll ein "Echo" bewirken im Leben, im Herzen aller Menschen.

Paulus hat für diese Grundaufgabe der Kirche eine schöne Formulierung gefunden. Er sagt einmal im Blick auf sein missionarisches Tun gleichsam nebenbei: "Das alles tun wir euretwegen, damit immer mehr Menschen aufgrund der überreich gewordenen Gnade den Dank vervielfachen, Gott zur Ehre" (2 Kor 4,15). Kirche ist dazu da, den Dank, die eucharistia an Gott zu vervielfältigen. Und dazu trägt jeder einzelne Christ bei.

Darum, um diese Anstiftung zur "Danksagung" bemühe ich mich in Thüringen als Bischof. Dazu tragen aber auch kirchliche Sozialarbeiter bei, die eine andere Facette dieser Dankesaufgabe von Kirche verwirklichen, die Diakonie. Dazu trägt eine Mutter bei, die ihr Kind beten lehrt, oder ein Katechet, der jungen Leuten den Sinn des Christseins erschließt. Dazu trägt die am Sonntag um den Herrn versammelte Gottesdienstgemeinde bei, wenn sie stellvertretend für die Vielen das tut, was allen aufgetragen ist: Gott die Ehre zu geben, die ihm allein gebührt.

Möglichst viele Menschen sollen also durch den Dienst der Kirche insgesamt und das Lebenszeugnis jedes einzelnen Christen entdecken, dass sie Grund haben zum Danken, ja, dass sie sich in einem letzten und tiefsten Sinne Gott "verdanken". Dazu aber - und das wäre freilich ein eigenes Thema - ist es notwendig, dass wir alle mehr und mehr lernen, uns in geistlichen Dingen von den Zeitgenossen ins Herz schauen zu lassen. Glaube kann sich nur an Glauben entzünden. Darum muss unsere je eigene Gottesbeziehung "sprechend" werden. (Nur nebenbei merke ich an: Ob das gelingt, ist meines Erachtens die wichtigste Frage im Blick auf die Zukunft von Kirche und Christentum in unseren kulturellen Breiten.)


2. Grundhaltungen, die ein dem Evangelium gemäßes Leben kennzeichnen

Ich möchte nun noch etwas genauer das in den Blick nehmen, was das für mich bedeutet: aus dem Geist dieser österlichen Botschaft heraus zu leben. Gibt es etwas alle Aufgaben und Tätigkeitsfelder des einzelnen Christen und der Kirche insgesamt Umgreifendes, was gleichsam die innerste Ausrichtung des Christlichen aufscheinen lässt? Ich füge also der Frage nach dem Inhalt des christlichen Glaubens die Frage hinzu, was dies mit unserem Leben macht. Ich ergänze im meinem zweiten Gedankengang die Frage nach dem Gehalt des Christlichen um die die Frage nach dessen Gestalt (um dabei erfreuliche, konfessionsübergreifende Dinge zu entdecken!).

Setzen wir einmal ganz elementar an. Es geht bei all dem, was die Kirche und der einzelne Christ zu betreiben hat, letztlich um ein sich dem Blick Gottes Aussetzen. Psalm 123 benutzt das schöne Bild: Frömmigkeit sei wie das aufmerksame Hinschauen auf den Herrn. "Wie die Augen der Knechte auf die Hand ihres Herren, wie die Augen der Magd auf die Hand ihrer Herrin, so schauen unsere Augen auf den Herrn, unseren Gott, bis er uns gnädig ist" (Ps 123,2). Es geht also um ein Anschauen - und Angeschaut werden!

Ich bediene mich dieses Bildes, um die merkwürdige Einfärbung, diese besondere Fermentierung des christlichen Lebens und Handelns zu beschreiben, weil darin eine uns durchaus vertraute Erfahrung eingefangen ist. Es ist ein Unterschied, ob ein Kind vor den Augen der Mutter einer Tätigkeit nachgeht, beispielsweise Aufgaben erledigt oder auch einfach nur spielt, oder ob es sich dabei selbst überlassen bleibt, dies also allein, ohne "Beobachtung" tun muss.

Ich will das Bild jetzt nicht sonderlich vertiefen. Ich weiß auch nicht, ob meine Beobachtung vor dem kritischen Blick von Pädagogen oder Psychologen standhält. Aber ich habe den Eindruck, dass Kinder (manchmal auch Erwachsene) unter Beobachtung sich anders verhalten, als wenn sie allein sind. Mir jedenfalls geht es so. Ich sage es einmal ganz wertfrei: Ein Kind, dass eine geliebte Bezugsperson in der Nähe weiß, fühlt sich angeschaut. Es kann bei jedweder Tätigkeit, selbst beim Spiel, nicht davon absehen, dass da jemand da ist, der zu ihm eine besondere Beziehung hat.

Wir alle wissen, wie wichtig für Kinder Bezugspersonen sind, Personen, die mehr sind als Aufpasser, als Betreuer, als Lehrer, als Garanten der biologischen Existenz des Kindes. Kinder wollen "angenommen" sein, gleichsam unter Absehung ihrer möglichen Leistungsfähigkeit, ihrer menschlichen oder sonstigen Qualitäten. Sie brauchen Personen, die zu ihnen sagen: "Es ist gut, dass du da bist; dass es dich gibt!" Wer das erfahren hat oder auch als Erwachsener erfährt, dessen Leben kann gelingen.

Eben das ist mein Vergleichspunkt. Der christliche Glaube wird dort stimmig, wenn er vom Bewusstsein getragen wird, nicht mit sich selbst allein zu sein, sondern "angeschaut" zu werden - von anderen Menschen, die es gut mir meinen, letztlich von "dem Anderen" schlechthin, von Gott unserem Schöpfer und Vater, wie ihn uns Jesus bekanntgemacht hat. Also eben nicht von einem "Aufpassergott", sondern von einem Gott, der mir (ich rede sehr menschlich!) sein "Herz" zuwendet. Denn daraus verändert sich das WIE meines Verhaltens und meines Tuns. Inwiefern? Es wird
 
a) gelassen werden. Zumindest ansatzweise. Ein Kind wird vor den Augen der Mutter nie in existentielle Bedrängnis kommen. Zugegeben, es mag sich ängstigen, es mag auch manchmal unter Stress stehen. Doch "vor" der liebenden Anwesenheit einer Mutter kommt eine Gelassenheit zum Tragen, die jedem normalen Kind, dass unter guten familiären Bedingungen aufwachsen darf, ohnehin zu eigen ist. Das Wissen, im Letzten, was immer auch kommen mag, "aufgefangen" zu sein, "gehalten", nicht allein gelassen zu werden, wenn wirkliche Bedrohungen sich ergeben, ist die kostbarste Mitgift, die Eltern ihren Kindern vermitteln können.

Die Anwendung auf das WIE des kirchlichen und christlichen Handelns liegt auf der Hand. Es gibt nichts Schlimmeres als nervöse, hektische Pfarrer und kirchliche Angestellte, die andere mit ihren kirchlichen Untergangsvisionen bedrängen. Ich halte es geradezu für ein Kennzeichen wahrer Christlichkeit, bei allem Engagement, bei aller geistigen Wachheit, die uns als Kirchen und einzelne Christen auszeichnen sollte, diese Gelassenheit zu wahren, die weiß, dass wir Gott nicht mit unserer kirchlichen Betriebsamkeit so unter die Arme greifen müssen, als sei er ohne uns hilflos.

Und ein weiterer Aspekt ist in diesem Stichwort Gelassenheit enthalten: der hilfreiche Gedanke an die noch ausstehende Vollendung. Im Bild gesprochen: Eltern, Großeltern freuen sich auch über windschiefe Strichzeichnungen ihrer Kleinen. Nicht die Perfektion eines Bildes erfreut das elterliche Herz, sondern die Geste des Hinhaltens einer Gabe, bei der das Kind sagt: "Sieh, das hab ich für dich gemalt!" Und es erfreut Eltern, wenn sie Anlagen und Begabungen ihres Kindes erkennen, die sich erst später einmal entfalten werden. Wirklich Liebende schauen auf den geliebten Menschen gleichsam im Potentialis, in der "Möglichkeitsform". Sie sehen, was aus ihm werden könnte, nicht so sehr auf das, was im Augenblick bei ihm Fakt ist.

Auf unser Thema hin gewendet: Die Vollendung dessen, was auf uns wartet, ist Gottes Werk, nicht das unserer menschlichen und kirchlichen Tüchtigkeit. Wir Theologen sagen: Die Eschatologie, der Glaube an eine Vollendung, die uns geschenkt wird, bewahrt uns vor der Ideologie, schon hier auf Erden das Vollkommene schaffen zu müssen. Wer das meint, muss eine kommunistische Partei gründen - oder zum Taliban werden. Kirchliches Handeln erkennt man an der Haltung der Gelassenheit.

Freilich: Es muss eine engagierte Gelassenheit sein. Das meint mein zweites Stichwort in diesem Zusammenhang: Das Tun oder Spielen des Kindes vor den Augen der Mutter mag kindgemäß sein, aber es wird

b) ernsthaft sein. Christen und besonders jene, die er wirklich sein wollen, können ihre Aufgaben nur ernsthaft betreiben, also sachbezogen und menschenorientiert, soweit das eben nur möglich ist. Auch kindliches Tun ist durchaus ernsthaft, sachbezogen. Es wünscht sich Anerkennung, es erwartet Lob. Das kann aber nicht erfolgen, wenn nur Allotria getrieben oder gar Unsinn gemacht wird.

Christen wissen sich ständig vor den Augen ihres Herrn. Er wird einmal richten in Gerechtigkeit, und er wird dabei bei seiner Kirche anfangen. Man darf die Gnadenbotschaft des Christentums, wie sie etwa Paulus in seiner theologischen Begriffsfigur von der Rechtfertigung des Sünders aus Glauben nicht als "Laissez-faire-Christentum" missverstehen. Dagegen musste sich Paulus schon zu seinen Lebzeiten verteidigen. Natürlich gilt: Aus Gnade, aber es gilt eine Gnade, die uns zu Werken der Liebe ermächtigt, ja herausfordert. Wer nicht antwortet, hat den Ruf der Retter umsonst gehört. Wer die Hand des Helfers nicht ergreift, bleibt in seiner Eisspalte und erfriert. Auch für uns Getaufte und Gerechtfertigte bleibt die Aussage des Apostels bestehen: "Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat" (2 Kor 5,10).

Das meine ich mit der Ernsthaftigkeit, zu der uns unser gemeinsamer christlicher Glaube herausfordert. Die Nachfolge Christi ist kein Spazierweg, und unsere eigene Existenzverwandlung in die Christus-Gleichförmigkeit wird uns nicht erlassen, nach dem Motto: "Das ist alles nicht so ernst gemeint, was da in der Bergpredigt steht!" Natürlich wird uns letztlich das Heil geschenkt, aber nur dann, wenn wir der Art und Weise zustimmen, wie Gott es uns schenken will, d. h. wenn wir uns selbst loslassen, wenn wir - um mit Paulus zu sprechen - nicht unsere Gerechtigkeit suchen, sondern die, mit der uns Christus umkleiden kann (vgl. Phil 3,9). Und diese Gottesgerechtigkeit ist an der Lebensart Christi abzubuchstabieren.

Dennoch, bei aller Ernsthaftigkeit, die im Blick auf das anstehende Handeln und auf die ersehnte Anerkennung, sei sie von Menschen erwartet oder als von Gott her zugesprochen ersehnt: Die Kirche wird nie aufhören, ihr ganzes Selbstverständnis und damit auch die christliche Einzelexistenz als eine Art Spiel zu verstehen. Ja, ich wage dieses Wort, wiewohl es Missverständnisse auslösen kann. Aber es gehört als notwendige Korrektur zu dem eben Bedachten. Ein Kind vor den Augen seiner Mutter wird auch das Ernsthafte

c) spielerisch verrichten. In diesem Wort schwingen für mich zwei Dimensionen mit. Zum einen ein dialogischer Aspekt. Ein Spiel kann es nur zwischen Spielpartnern geben. Mit sich selber spielen ist eine Ersatzhandlung, die letztlich nicht befriedigt. Wahre menschliche Existenz kommt ja nur zustande, wenn ich das DU entdecke, den Anderen, letztlich Gott. Das ist der Kern der biblischen Botschaft. Aber in diese Richtung weist uns übrigens auch das säkulare Nachdenken über den Menschen und über das, was ihn umtreibt

Ich kann mir letztlich die ganze Schöpfung nur als ein grandioses Spiel der Liebe Gottes denken, eines Gottes, der den Überschwang seiner Liebe "spielerisch" weitergeben möchte in eine von ihm geschaffene Wirklichkeit hinein, eben die des Menschen. Ich verkenne dabei nicht die bedrängende Frage nach dem Bösen in der Welt, die sogenannte Theodizee-Frage. Warum muss es das geben: das unendliche Leid, besonders das Leid Unschuldiger? Darauf gibt es letztlich keine schlüssige Antwort. Ich interpretiere das Leid, die Zulassung des Bösen in der Welt als den "Preis der Freiheit", den Gott einer freien Schöpfung zumutet. Gott nimmt den Menschen ernst, so sehr, dass er sogar das Böse zulässt. Diesen Gedanken können wir hier nicht weiter verfolgen. Ich will hier nur abheben auf den Gedanken: Gott möchte unsere freie Antwort hervorlocken auf sein Angebot der Freundschaft, der Liebe.

Es gibt ein merkwürdiges Jesuswort von den "Kindern, die auf dem Marktplatz sitzen und einander zurufen: Wir haben für euch auf der Flöte (Hochzeitslieder) gespielt, und ihr habt nicht getanzt; wir haben Klagelieder gesungen, und ihr habt nicht geweint" (Lk 7,32). Ich verstehe dieses Wort in diesem Sinn: Gottes Liebe will nicht echo-los, nicht resonanz-los bleiben. So dürfte Jesus seine Sendung verstanden haben. Er lädt zum Spiel der Liebe ein. Seine Gleichnisreden sind voll von Gastmahl-Geschichten. Das ist an sich eine merkwürdige Weise, von Gott und seinem Handeln an uns zu sprechen. Die Bildgeschichten Jesu sind uns so vertraut, dass wir das Befremdliche an ihnen oft nicht mehr wahrnehmen. Wir sind zu einem Fest geladen. Die Metapher des Festes ist mehr als ein Bild. Es enthält die Sache des Reiches Gottes. Es zielt im Kernpunkt auf einen Dialog nie endender, spielerischer, seliger Liebe.
Und eine zweite Dimension ist mit dem Bild des Spieles darin schon angesprochen: Im Spiel kommt es darauf an, dass der Partner reagiert. Ein Kind wird immer wieder, auch mitten in seiner Beschäftigung, seinem Spiel hin zur Mutter schauen oder laufen. Es wird sich vergewissern, ob und vor allem wie sie da ist. Das Kind wird antworten, so oder so, auf die Zuwendung der Mutter, mag diese nun verbal sein oder nonverbal.

Letztlich ist die Liturgie der Kirche ein solches "Spielen" vor dem Angesicht Gottes. Die Liturgie ist in ihrem Kern "Antwort" auf die vom Himmel herabsteigende Liebesofferte Gottes. Unsere Antwort darauf wird immer ungenügend bleiben. Aber wir binden sie an die Lebensantwort des Menschensohnes Jesus Christus, der in seinem Lebens- und Sterbensgehorsam den Dialog zwischen Gott und den Menschen wieder eröffnet hat. "Durch ihn", "mit ihm" und "in ihm" wird Gott von der Kirche und jedem einzelnen der Gottesdienstteilnehmer geantwortet. So, nur so sind wir für Gott ebenbürtige Spielpartner.

Wie sieht eine sich am Evangelium orientierende christliche Existenz heute aus? Meine Antwort hat beides in den Blick genommen: das Evangelium als Botschaft vom österlichen "Herrschaftswechsel". Das ist die Mitte dessen, WAS uns das Evangelium sagt: Es gibt eine "österliche Wende", die Gott herbeigeführt hat und der es mehr und mehr zu entsprechen gilt. Und da bleiben die großen Stichworte wichtig: Immer tiefere Umkehr hin zum Gott Jesu, die Heiligung des eigenen Lebens und wachsende, selbstlose Liebe zu Gott und den Mitmenschen.

Und ich habe über das WIE gesprochen, also die Art und Weise, wie unsere Kirchen, wie der einzelne Christ hier und heute seinen Glauben zu leben hat: Gelassen, ernsthaft, aber letztlich wie in einem Spiel, dessen Gelingen gesichert ist und dessen Seligkeit uns schon jetzt (zumindest ab und zu!) geschenkt wird. So darf jeder Christenmensch fröhlich vor Gott das tun, was ihm möglich ist - sei er nun "katholisch" oder "evangelisch". Meine Bitte: Helfen Sie sich gegenseitig auch weiterhin in Mülheim dabei!