Sehr geehrter Herr Pastor N.N.
über das hiesige Ordinariat hat mich Ihr freundlicher Gruß und Ihre Anfrage erreicht. Vielen Dank dafür.
Ihren Erwartungen kann ich nur z.T. entsprechen. Über „Gott und Korona-Pandemie“ habe ich mich bislang öffentlich nicht geäußert, zumal ich mich seit meiner eigenen Emeritierung diesbezüglich ganz generell sehr zurückhalte. Speziell bei dem Thema „Gott und die Pandemie“ bin ich zusätzlich vorsichtig, weil es zum einen einige gewichtige theologische Äußerungen gibt, zuletzt etwa jene von Bischof Bätzing aus Limburg, zum anderen der Erwartungsdruck, der in der medialen Öffentlichkeit im Blick auf kirchliche bzw. theologische „Korona-Aufklärung“ den Eindruck verstärkt, in falscher Weise über Gott „Bescheid“ zu wissen und andere darüber belehren zu können.
Gern aber möchte ich mit Ihnen einige ganz persönliche Gedanken teilen, die man sich ohne Zweifel als Christ und als Seelsorger angesichts der gegenwärtigen Belastungen und Nöte für so viele Menschen macht. Was die Menschen um einen herum bewegt, ist ja immer auch Gegenstand des eigenen Fragens, Nachdenkens und Betens und nicht zuletzt auch Redens und Handelns als Glaubende. Ihnen wird es da sicherlich nicht anders ergehen.
Für mich persönlich sind derzeit gleichsam wie „Leuchtstrahler“ in das Dunkel des „Warum“ und „Wozu“ dieser Pandemie-Erfahrung drei biblisch gespeiste Orientierungshilfen von Bedeutung. Ich mache diese einmal etwas plakativ an Schriftworten fest.
Zum einen las ich jüngst im Stundengebet wieder das Wort aus dem Buch Kohelet (1,9): „Es gibt nichts Neues unter der Sonne“. Der sich derzeit so hervordrängende Eindruck des „Besonderen“ bzw. „Außergewöhnlichen“ einer Seuchenpandemie, nur weil diese auch in der Breite unsere Wohlstandswelt in Europa und Nordamerika trifft, wird durch solch ein Wort relativiert. Das Phänomen von Seuchen, speziell von unbekannten Viren-Pandemien hat die Menschheit von jeher begleitet und wird – trotz aller medizinischen Bemühungen um deren Eindämmung bzw. Bekämpfungen – uns auch in Zukunft begleiten. Das gehört einfach zur evolutiven Ausstattung des Organischen und seinen Rahmenbedingungen, die sicherlich gestaltet und im Blick auf menschliches Leben abgesichert werden müssen, die aber nicht „abzuschaffen“ sind. Der Christ sollte helfen, mediale Aufgeregtheit und Wirklichkeitswahrnehmung gut auseinanderzuhalten.
Tiefer führt schon ein zweites Wort aus dem Hiob (2,10). „Nehmen wir das Gute an von Gott, sollen wir dann nicht auch das Böse annehmen?“ Eine solche Überlegung ist wohl nur in einem Horizont vermittelbar, der mit Gott als tragender Schöpfermacht rechnet. Es zielt auf die „Gottesamnesie“ vieler Zeitgenossen. Sie (und wir Christen sind immer auch diesbezüglich mit gefährdet) vergessen, dass es Autonomie und Freiheit nur im Rahmen einer „verdankten Existenz“ gibt. Das wird heute vehement bestritten – aber nachdenkliche Menschen wissen nicht nur aus der Offenbarung, dass hier eine Grundfrage unseres Selbstverständnisses als Menschen, ausgestattet mit einer unausrottbaren Sehnsucht nach Zukunft, auf Antwort wartet. Die Aporien zeigen sich derzeit in Gesellschaft, Kultur und Mängel an psychosozialer Stabilität vieler Biographien und sozialer Gruppierungen angesichts der Weitung unseres Daseins- und Erkenntnishorizonte immer dramatischer. Jürgen Habermas lässt grüßen! Die Pandemieerfahrung ist eine Einladung zu gemeinsamen Fragen nach einer humanen Zukunft für alle.
Und schließlich wird mir gegenwärtig das Wort des Apostels Paulus neu wichtig: „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wie gehören dem Herrn“ (Röm 14,8). Das führt in die Herzmitte des Evangeliums. Es schließt einen Freiheitsraum auf, der sich in der „Nachahmung“ Christi auftut, der nach Aussage unsers Glaubens zum „Dienen“ gekommen ist. Er will zur Teilhabe am Leben Gottes fähig machen – und zum gegenseitigen Dienst, das am Wohl der Anderen ausgerichtet ist. Und damit wären wir bei dem, was heute so prekär, aber dennoch heftig nachgefragt ist: Menschliche Nähe zueinander angesichts von „Abständen“, die uns die Medizin und unsere (notwendige) Vorsicht abverlangen. Das Gespräch darüber und die tastenden Versuche, diese Spannung immer neu und konkret zu bewältigen, verdient volles Engagement. Eine Kraftquelle für diesen Einsatz ist die merkwürdige Unbekümmertheit des Apostels um sein irdisches Leben (was mich etwa an manche Widerstandsmärtyrer der Nazizeit erinnert und überhaupt an alle, die Höheres anstreben als ein „innerweltliches Perfektum“). Der christliche Glaube tritt in Zeiten wie heute mit seinem eigentlichen Profil in den Blick. Er besteht auf Geborgenheit dort, wo angefochtenes Dasein uns zu schaffen macht.
Das sind einige ganz persönliche Überlegungen, die mich derzeit beschäftigen. In noch größerer Kürze formuliert: Die Pandemieerfahrungen sind eine Einladung, sich erstens nicht zu sehr zu „verwundern“, zweitens das jetzt Notwendige auszuhalten und durchzutragen – und schlussendlich nicht im Selbstmitleid zu versinken. Aber wenn ich das so niederschreibe, merke ich vor allem, was mir selbst fehlt.
Ihnen einen freundlichen Gruß und gute Wünsche
Ihr + Joachim Wanke