Es war einige Tage nach dem Besuch des Heiligen Vaters in unserem Bistum im September. Da bekam ich Post aus Rom - vom Papst persönlich. Es war ein Dankesbrief. Wörtlich schrieb der Papst: "Bitte übermitteln Sie meinen aufrichtigen Dank auch Ihren Mitarbeitern und allen Helfern, die zum Gelingen meines Aufenthaltes beigetragen haben, wie auch allen Menschen in ihrem Bistum für den freudigen Empfang und die Zeichen der Wertschätzung und der Verbundenheit mit dem Nachfolger Petri." Und weiter schrieb Papst Benedikt: "Der Besuch in Ihrer Bischofsstadt und die Marienvesper mit den Katholiken im Eichsfeld waren für mich ein besonderes Erlebnis und werden mir stets in lebendiger Erinnerung bleiben."
Diese Worte wollte ich Euch, liebe Wallfahrer, gern weitergeben. Alle, die damals dabei waren, haben das gespürt: Die hl. Messe auf dem Domplatz und speziell die Vesper in Etzelsbach, Euer Dasein und die herzliche Freude und das Mitfeiern der Vielen haben den Papst sehr berührt.
Ich bin dankbar und froh, dass dieser Jahrhundertbesuch bei uns so gut verlaufen ist - dank Eurer Hilfe. Ich hoffe und bete, dass von diesem Ereignis noch lange gute geistliche Wirkungen ausgehen.
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Als sich der Papst damals auf dem Erfurter Flugplatz von mir verabschiedete, da habe ich mich bei ihm für sein Kommen und seine Predigten bedankt und ihm gesagt: "Heiliger Vater, Sie können sich auf die Glaubenstreue der Gläubigen unseres Bistums verlassen!"
Habe ich da den Mund zu voll genommen? "Worauf du dich verlassen kannst!" Dieses Leitwort hat mir die Gesprächsgruppe der Männer, die diese Wallfahrt vorbereitet haben, für die Predigt mitgegeben. In diesem Wort steckt ja ein zweifacher Hinweis. Zunächst einmal eine Aussage: worauf wir uns verlassen können - und dann eine Mahnung, ein Hinweis: worauf andere sich bei uns verlassen wollen. Da habt Ihr schon die zwei Punkte meiner Predigt.
Das Wichtigste am Anfang: dass wir uns auf Gott verlassen können.
Manchmal kann man wirklich fragen, worauf man sich heute noch verlassen kann. Da kann man schon leicht ins Grübeln kommen. Gelten noch die Werte und Ideale, zu denen uns unsere Eltern und Seelsorger erzogen haben? Stimmt es, dass Geradlinigkeit sich auszahlt, oder ist der Ehrliche am Ende doch der Dumme? Gibt es wirklich noch tragende Überzeugungen, zu denen man ein Leben lang stehen kann? Gilt ein feierliches und überlegtes Ja-Wort, das Mann und Frau sich geben - oder ist das ein frommer Wunsch, der angesichts der Realitäten illusorisch ist?
Der vor kurzem verstorbene Schriftsteller und tschechische Staatspräsident Vaclav Havel hat die folgenden bemerkenswerten Sätze gesagt, die ich hier einmal zitieren möchte. Er schreibt:
"Wir genießen all die Errungenschaften der modernen Zivilisation. Doch wir wissen nicht genau, was wir mit uns anfangen, wohin wir uns wenden sollen. Die Welt unserer Erfahrungen erscheint chaotisch, zusammenhanglos, verwirrend. Experten der objektiven Welt können uns alles und jedes in der objektiven Welt erklären; unser eigenes Leben verstehen wir immer weniger. Kurz, wir leben in der postmodernen Welt, in der alles möglich und fast nichts gewiss ist."
Vaclav Havel legt hier den Finger auf eine Wunde unserer Zeit. Wir wissen nicht mehr, woher wir kommen und wohin wir gehen. Wir verstehen uns selbst nicht mehr. Uns sind weithin die tragenden Gewissheiten entschwunden.
Nun ist es freilich nicht so, als ob der christliche Glaube auf alle Fragen der Zeit immer eine Antwort wüsste. Der Weg des Menschen ist ein unaufhörliches Fragen und Suchen nach dem Rechten, dem Guten, dem menschlich Angemessenen. Ist die Nutzung der Atomkraft für friedliche Zwecke verantwortbar oder nicht? Sollen die Völker Europas zusammenstehen oder sollte jedes Volk sehen, wie es allein zurechtkommt? Darf der Friede bewaffnet sein und wie kann man Völkermord und schweres Unrecht an Schuldlosen verhindern? Solche und viele andere Fragen bedürfen des Nachdenkens, auch des Streitens und Ringens um den besten Weg.
Aber bei aller Unsicherheit in Einzelfragen: Gibt es überhaupt noch verbindliche Ziele? Welche Gesellschaft wollen wir eigentlich? Eine, in der nur das Kapital regiert? In der die Schwachen auf der Strecke bleiben? In der die Sterbenden entsorgt und die Kinder als Störfaktor betrachtet werden? Ich will das hier nicht ausbreiten, weil in der Tat viele Fragen, die sich heute stellen, kompliziert sind und sich einfache Schwarz-Weiß-Lösungen verbieten. Aber es empört mich schon zu erleben, wie heute etwa Familienarbeit und das Dasein von Müttern und Vätern, die ihre Kinder in den ersten Lebensjahren zu Hause betreuen, unter rein ökonomischen Gesichtspunkten abgehandelt, ja als angeblich unmodern und altmodisch verunglimpft werden.
Es gibt einen Druck der öffentlichen Meinung, es gibt mediale "Lautsprecher", die auf uns eindröhnen und uns ständig einreden wollen, was richtig und was falsch ist, dabei aber verschweigen, von welchem Menschenbild sie insgeheim bestimmt sind: Das alles kann einen ungefestigten Menschen verwirren.
Darum: Es ist gut, dass wir uns auf Gott verlassen können. Gottes Wort, sein Gebot macht uns vom Zeitgeist frei. Es sagt uns, was böse und was gut ist. Das Leben zu töten, ob am Anfang oder am Ende bleibt Sünde, auch wenn ein Arzt dabei anwesend ist; und sich der sozialen Verantwortung in der freien Marktwirtschaft zu entledigen, weil solche Verantwortung lästig ist, macht eine Gesellschaft inhuman und schneidet ihr die Zukunft ab.
Wer Gott und sein Gebot achtet, wird frei für eigene Überzeugungen. Wer sich an Jesus Christus und seinem Evangelium orientiert, kann sich nicht im Dschungel der Meinungen verlieren, die heute unser Herz und unser Denken besetzen wollen. Darin gibt uns der Glaube Verlässlichkeit. Denn er sagt uns: Die Gerechtigkeitssucher sind wichtiger als die Fortschrittsoptimierer, die keine Grenzen kennen. Es ist richtig, wenn die Friedensstifter die Nobelpreise bekommen, und jene unter uns Anerkennung finden, welche durch ihr Tun und Handeln Solidarität, Nächstenliebe und Erbarmen in die Gesellschaft einbringen.
Ja, es ist gut, dass wir Gott kennen, dass wir uns auf sein Wort verlassen können. Gott ist der Verlässliche schlechthin. Seine Treue ermöglicht unsere Treue. Seine Treue hält uns, wenn wir selbst untreu und schwach werden und uns nicht nach dem richten, was er uns sagt. Auf sein Erbarmen dürfen wir vertrauen. Jeder Messbesuch, jede Lossprechung in der Beichte, ja, jedes Vater-Unser, das ich andächtigen Herzens zu Gott bete, ist ein Sich-Hinein-Flüchten in diese göttliche Verlässlichkeit. Lasst keinen Tag vergehen, ohne zu beten: Vergib uns unsere Schuld! Und: Erlöse uns von dem Bösen! Wer Gott kennt, kann sich selbst verstehen. Wer ihm vertraut, muss sich nicht selbst aufgeben. Und vor allem: Wer das Evangelium kennt, weiß, welch große Verheißung uns gegeben ist, Gottes Reich, in dem einmal all unser Suchen und Fragen ein Ende haben wird.
Aber nun auch das Zweite: worauf andere sich verlassen möchten - bei mir, bei uns, in der Kirche, in Staat und Gesellschaft.
Wenn ich diese Stichworte so aufzähle, merke ich, was jetzt alles in der Predigt anzusprechen wäre. Aber keine Sorge: In der Kürze liegt die Würze, besonders, wenn man bei Predigten stehen muss.
Was jeden Einzelnen von uns betrifft, mich eingeschlossen, gilt die alte Regel: Was ich von anderen erwarte, muss ich zuerst bei mir einüben. Verlässlichkeit, Geradlinigkeit, Ehrlichkeit - das sind reziproke Werte. Die beruhen auf Gegenseitigkeit. Vertrauen wächst, wenn ich selbst vertrauenswürdig bin. Verlässlichkeit kann ich erwarten, wenn auch ich zu meinem Wort stehe; und auf eine Entschuldigung darf ich hoffen, wenn auch ich die Größe habe, mich zu entschuldigen und ein Versagen einzugestehen.
Das gilt für den persönlichen Umgang untereinander, für das Miteinander in den Familien und Nachbarschaften, in Betrieben und Büros, in Gruppen und Gemeinschaften, in denen wir auf das gegenseitige Vertrauen, auf Verlässlichkeit und Treue elementar angewiesen sind. Lasst euch da nicht von Ohrenbläsern und böser Nachrede irritieren. Es gibt Menschen, die freuen sich, wenn sie Misstrauen und Streit säen können. Nicht alles, was wir manchmal gedruckt oder in facebook lesen, muss wahr sein. Gerade wir als Christen sollten da souverän bleiben: Zunächst einmal glaube ich an den guten Willen des anderen - und wenn sich dann hinterher anderes herausstellt, habe ich immer noch Zeit, meiner Enttäuschung Ausdruck zu geben und Richtigstellungen zu verlangen.
Nicht, dass es auch unter Christen Streit geben kann! Nicht die Tatsache, notfalls auch kontrovers um den richtigen Weg zu ringen, ist das Schlimme (denkt nur daran, wie selbst Petrus und Paulus nicht immer einer Meinung waren). Schlimm ist ein Streit, der den anderen klein machen will, der mit Halbwahrheiten und Unterstellungen arbeitet, der Pauschalurteile in die Welt setzt oder gar zur Hetzjagd auf andere aufruft. Das vergiftet das Zusammenleben. Da lädt man Schuld auf sich. Das gehört in den Beichtstuhl.
Lasst mich in diesem Zusammenhang auch einige Fragen ansprechen, die uns als Kirche betreffen. Ihr wisst, wie kontrovers es im Augenblick auch in der Kirche in Deutschland zugeht. Verunsicherungen machen sich breit, Enttäuschungen über das Ausbleiben von Reformen, von denen manche sich Wunder erwarten, Schuldzuweisungen an die jeweils "anderen", an die Fortschrittler oder die Konservativen, die dann - so oder so - an allem Elend Schuld sind. Und von solcher Kritik werden auch die Bischöfe und der Papst nicht ausgeschlossen.
Was soll ich dazu sagen? Ihr kennt mich. Als Bischof stehe ich dafür ein, dass unsere Kirche katholisch bleibt. "Darauf dürft ihr euch verlassen!" Und darum stehe ich fest in der Gemeinschaft mit den anderen Bischöfen der Welt und mit dem Nachfolger Petri, den Christus (und nicht irgendwer) zum Fels seiner Kirche gemacht hat.
Natürlich mache ich mir auch Sorgen, schwere Sorgen: dass Gläubige leichtfertig vom Gottesdienst fernbleiben; dass viele den katholischen Glauben kaum noch kennen oder sich ihn privat zurechtschneidern; dass so wenige den Ruf Gottes zum priesterlichen Dienst oder zum Ordensstand beantworten; dass manche katholische Eichsfelddörfer demnächst keinen Pfarrer im Ort haben werden, sondern nur in der Nachbarschaft. Ich sorge mich darüber, dass viele Ehen so brüchig sind und die Familien es immer schwerer haben, gut zusammenzuhalten. Ich schäme mich der Sünden, die in der Kirche passieren und die die Verkündigung des Evangeliums so belasten. "Ja, Herr, erneuere Deine Kirche - und fange bei mir an!" Das ist das passende Gebet für die Kirche unserer Tage.
Fange bei mir an, der ich bei der Priesterweihe ein eheloses Leben als Zeichen meiner Hingabe an Gott feierlich versprochen habe; der ich als Ordensmann, als Ordensfrau durch mein Leben im Rätestand das Gottesvolk auf das Reich Gottes hinweisen darf, dem wir nichts vorziehen sollen.
Fange bei uns an, die wir als Eheleute einander am Altar die Treue für ein ganzes Leben in guten und schlimmen Tagen versprochen haben. Fange bei mir an, damit ich als Christ, in meinem Beruf und Stand als Christ erkennbar bleibe - und nicht abducke, wenn es gilt, Profil zu zeigen.
Und weiter: Gib Deiner Kirche den Mut, notfalls auf weltlichen Beifall zu verzichten und nicht zuerst der Kirchensteuer, und dann erst dem Heiligen Geist zu vertrauen - so habe ich übrigens das Stichwort Entweltlichung in der Freiburger Rede des Papstes verstanden. Und darin, in solcher geistigen Unabhängigkeit von Gesellschaft und öffentlicher Meinung, haben wir ja im Osten einige Erfahrung.
Das ist meine Vision eines Reformweges, über den wir derzeit in unserer Kirche sprechen. Die Neubesinnung auf das Konzil, das nun 50 Jahre zurückliegt, die Besinnung auf die Inhalte unseres Glaubens, zu der uns Papst Benedikt im kommenden Jahr des Glaubens ermuntert, das kann dieser Vision wieder Profil und Tiefenschärfe geben. Und zu dieser meiner Kirchenvision gehört auch, dass jene, in deren Leben durch Schuld und Versagen, aber auch durch tragische Ereignisse Wunden und Narben zurückgeblieben sind, selbstverständlich weiter zur Kirche gehören. Sie bleiben vom Erbarmen des Herrn umfangen so wie du und ich.
Und auch dies lasst mich im Blick auf Politik und Gesellschaft sagen. Es gibt neuerdings wieder einen Radikalismus, besonders am rechten Rand, der aus der Geschichte nichts gelernt hat. Man kann es nicht fassen! Wer blinden Nationalismus predigt und zu Hass gegen Fremde anstiftet, wer Gewalt gegen Personen und Sachen billigend in Kauf nimmt und die demokratischen Organe unseres Staates verunglimpft - der hat den Eichsfelder nicht auf seiner Seite! Aus dumpfen Bauchgefühlen, aus Ressentiments, aus nationalistischen Parolen ist für Deutschland nie etwas Gutes erwachsen.
Darum bleibt wachsam, gebraucht euren Verstand und bedenkt die Folgen! Ich möchte ausdrücklich loben, was ich jüngst aus Leinefelde gehört habe. Wenn sich viele Menschen neben verschiedenen Formen bürgerschaftlichen Engagements auch durch gemeinsames ökumenisches Gebet zu Gewaltlosigkeit und Toleranz bekennen, haben extremistische Parolen keine Chance, weder solche von links noch von rechts.
Liebe Wallfahrer!
Der Himmelfahrtstag ist der Tag des Abschieds Jesu von den Seinen. Der Herr hat sein Werk auf Erden vollbracht. Er geht zurück zum Vater. Er sendet uns den Geist von oben, der seine Kirche durch die Zeiten begleitet und stärkt.
"Kann ich mich auf euch verlassen?" Das ist die Frage des zum Himmel Erhöhten an uns, seine Jünger, an jeden Einzelnen. Und unsere Teilnahme hier am Wallfahrtsgottesdienst will die Antwort auf diese Frage sein: "Ja, Herr. Wir bekennen uns zu Dir. Zu wem sollen wir sonst gehen? Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Von dir lassen wir uns nicht trennen ...worauf du dich verlassen kannst!" Amen.