Eine zweite Chance

Erfahrungen, Hoffnungen und Empfehlungen für Kirche und Gesellschaft. Vortrag von Bischof em. Joachim Wanke

Bild: Peter Weidemann; in: Pfarrbriefservice.deEin Aufkleber der "Erinnerungsguerilla", die "an die Kraft von Fragen [glaubt]. Fragen, die an zentrale Themen im menschlichen Leben rühren"

Mein Vortrag versucht die Situation der katholischen Ortskirche in Thüringen in den Jahren nach der „friedlichen Revolution“ 1989/90 zu skizzieren.  Deren Herausforderungen, Freuden und Ängste in diesem Zeitraum sind freilich nur zu verstehen, wenn wir als Hintergrund die tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzungen im Osten Deutschlands samt ihren Folgen im Blick behalten.

In der jüngeren Geschichte der katholischen Kirche in Thüringen gab es zwei tiefe Einschnitte: das Kriegsende 1945 mit seinen dramatischen Auswirkungen (es sei nur an die Flucht und Ausweisung von Millionen Deutschen aus dem Osten erinnert, darunter viele Katholiken) und die „friedliche Revolution“ 1989/90. Drei politische Systeme haben die Älteren im Osten Deutschlands erlebt: den Nationalsozialismus, den DDR-Staat und nun den demokratisch-freiheitlichen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland. Im Gefolge dieses raschen Wechsels gab es radikale Veränderungen im Leben der Menschen – und auch in unserem kirchlichen Leben. Die DDR- Jahrzehnte brachten mancherlei Bedrängnisse und Verfolgungen, aber eben nach dem politischen Umbruch auch eine Zeit des Aufatmens und neuer Hoffnungen. Derzeit freilich scheinen sich eher allgemeine Unzufriedenheit und diffuse Ängste im Osten auszubreiten, deren Gründe unterschiedliche Ursachen haben.

Ich schaue kurz zurück: Wie hat sich die Kirche auf die mit der „friedlichen Revolution“ gegebenen neuen gesellschaftlichen und auch kirchlichen Gegebenheiten eingestellt?
Zunächst einmal dadurch, dass wir als gläubige Christen, die wir lange um die Einheit unseres Volkes und die Freiheit der Kirche gebetet hatten, die grundlegend veränderte Situation positiv annahmen. Aber das geschah auch mit einer gewissen Nüchternheit und im Wissen, das nicht alles, was vom „Westen“ kommt, „Gold“ ist.

Meine Sorge als Bischof galt dem Bemühen, unser kirchliches Leben mit seinen verschiedenen Aufgabenbereichen nun auch unter den Bedingungen einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft zu sichern und möglichst kontinuierlich fortzuführen, ohne irgendwelchen Illusionen nachzujagen!

Viel Neues war zu verkraften, ungewohnte Aufgaben und Gegebenheiten, die uns in Thüringen sehr befremdlich vorkamen: Seelsorge in Kasernen, in Gefängnissen, bei der Polizei, Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, über Finanzämter eingezogene Kirchensteuer, ungewohnte Präsenz in Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen, Einladungen zur Mitarbeit in der säkularen Bildungslandschaft und manches andere mehr. Wir taten uns mit manchen dieser neuen Arbeitsfelder anfangs schwer, z.B. uns mit der „staatlichen“ Schule anzufreunden.

So gab es nach einer gewissen Anfangseuphorie bald auch Ernüchterung und vor allem die besorgte Frage, ob wir angesichts so vieler Umwälzungen in der Gesellschaft als Kirche in Mitteldeutschland und für Mitteldeutschland überhaupt bestehen konnten. Ich denke etwa konkret an die bald einsetzende massenhafte Abwanderung vieler Menschen, auch aus unseren Gemeinden. Sie waren ja angesichts des Zusammenbruchs vieler VEB-Betriebe oftmals gezwungen, im Westen Arbeit zu suchen.

Erst nach und nach wurde mir und uns bewusst, dass in dieser veränderten Situation auch seelsorgliche Chancen lagen. Oder fromm ausgedrückt: Dass Gott unseren Glauben und unser Vertrauen auf den Prüfstand stellen und vielleicht authentischer, „ehrlicher“ machen wollte. Denn es ist um vieles leichter, sich als Opfer zu fühlen und mit dem Finger auf andere als „die Bösen“ zu zeigen, als sich tapfer und mit Einfallsreichtum in neue Verhältnisse einzubringen. Es galt also auch nach der „friedlichen Revolution“ weiter meine (auch schon den DDR -Jahren) oft gebrauchte Pastoral-Ermunterung: „Lasst uns miteinander das Evangelium auf ´mitteldeutsch´ buchstabieren!“ Dass dies bedeuten würde: ggf. „die (kirchlichen) Segel neu auszurichten“, eben weil der Wind nun aus anderer Richtung als bisher gewohnt wehte, ahnten wir anfangs noch sehr vage, aber dies zeigte sich bald mit großer Klarheit.

Im Blick auf das veränderte Umfeld brachte ich die uns in den neuen Ländern gestellte kirchliche Herausforderung nach 1989/90 gern auf die folgende Kurzformel: In DDR-Zeiten mussten wir in der Seelsorge und Verkündigung auf den Verdacht reagieren: Kirche, religiöser Glaube verdirbt das Denken. Wir hatten seelsorglich an einer ideologischen Front zu kämpfen, was wir mit einigem Erfolg auch getan haben.

Nun gab und gibt es einen neuen „Verdacht“: Kirche, Religion verdirbt das Leben. Christ-Sein? Das bedeute Bindung, Einengung, Bevormundet-Werden. Der Glaube, konkret kirchlich verortet, mache das Leben mickrig und kleinkariert, beschneide die Freiheit und verderbe die Freude am Genießen des Lebens, ja mache die Menschen intolerant und fanatisch. Kurzum: Religion, Christentum „stört“. Gegen solche Einstellungen anzugehen ist bedeutend schwieriger! In mancher Hinsicht holen wir im Osten derzeit immer noch Erfahrungen nach, die die Kirche und Seelsorge im Westen schon lange hat machen müssen.

Eine wichtige Weichenstellung, in Solidarität mit der ganzen Katholischen Kirche in Deutschland getroffen, war 1994 die Neugründung des (schon von Bonifatius gegründeten) Bistums Erfurt. Damit war bei aller historischen und pastoralen Kontinuität des kirchlich-katholischen Lebens in der thüringischen Diaspora und im katholisch geprägten Eichsfeld der Wille zu einem Neuanfang zum Ausdruck gebracht.

Manch einer hatte damals gefragt, ob sich das wohl lohnt: Ein Bistum für 200 000 Katholiken? Ich frug damals anders: Ein Bistum für 1 Million ungetaufter Menschen in Thüringen?  So gefragt wird auf einmal deutlich, was uns eigentlich mit dieser Bistumsgründung zugetraut, ja aufgetragen ist:  Zusammen mit unseren evangelischen Mitchristen und allen Getauften Jesus Christus bekannt zu machen, und zwar Menschen, die Gott nicht kennen.

Das wichtigste Signal, dass die Erfurter Bistumskirche aussenden sollte, ist dieses: Das Evangelium Jesu Christi gehört originär zu Thüringen dazu. Der christliche Glaube hat hier nicht nur eine reiche, katholische wie auch evangelische Geschichte. Er prägt Gegenwart und Zukunft dieses Kulturraumes mit. Darum darf der Blick nicht auf die Vergangenheit fixiert sein, sondern auf das, was heute für katholische Christen und ihre gemeinsame Sendung zusammen mit allen Christen in der Ökumene ansteht – und das ist durchaus chancenreich und noch längst nicht erschöpfend in seinen Möglichkeiten erkundet, geschweige denn angepackt.

Wir Katholiken sind in Thüringen eine – durchaus aus alten christlichen Wurzeln gespeiste – „Missionskirche neueren Typs“. Ihr Weg ist nicht einfach in allem vorgegeben. Sie muss diesen Weg in der Spannung von Bewahren und Sich-Bewähren immer neu finden. Bischof Ulrich Neymeyr, mein Amtsnachfolger, spricht mit Recht in Anspielung an ein Wort des Apostels Paulus vom  „achtsamen Weiterbauen“. Wir müssen nicht beim Punkt Null beginnen, zumal auch im Blick auf die reiche evangelische Frömmigkeitstradition in unserem Thüringer Land.  Aber wir müssen klug überlegen, was jetzt geboten ist, wo die Kräfte zu bündeln sind – und wir vor allem darauf achten, gediegenes geistliches „Baumaterial“ zu verwenden und uns nicht in Äußerlichkeiten zu verlieren (oder gar untereinander zu zerstreiten).

Die Jahrzehnte der DDR-Zeit waren schwerpunktmäßig dem Aufbau und der Festigung der Pfarrgemeinden gewidmet. Staatliche Restriktionen, aber auch fehlende Möglichkeiten, in der Öffentlichkeit zu wirken, verhinderten eine stärkere Ausrichtung des kirchlichen Lebens in Richtung Gesellschaft, wenngleich das Zeugnis der einzelnen Christen, aber etwa auch das der Caritasarbeit innerhalb des DDR-Systems nicht gering eingestuft werden darf. Doch jetzt verlagerte sich nach der „friedlichen Revolution“ eindeutig die Aufmerksamkeit auf das Anliegen einer einladenden, werbenden Präsenz des  christlichen Gottesglaubens in der Öffentlichkeit. Wir mussten und müssen lernen, in einer werte-liberalen, kirchenfernen, aber doch auch irgendwie offenen Gesellschaft „das Licht (des Evangeliums) auf den Leuchter zu stellen“. Was mich als Bischof bedrängt, ist die Vorstellung: Ein Thüringer würde nach seinem Tode vor Gott stehen und erstaunt zu ihm sagen: „Ich habe noch nie etwas von dir gehört!“ Dann hätten wir als Kirche wirklich versagt.

Was ich mit diesem „von oben“ kommenden Licht des Evangeliums meine, wird in dem bekannten Gleichnis Jesu vom „verlorenen Sohn“ (Lk 15) anschaulich. Es ist für mich wie eine Kurzfassung dessen, was wir „christliches Menschenbild“ nennen. Es zeigt die drei entscheidenden Grundbestimmungen des Menschen auf: 1. Er ist auf einen Weg gestellt, nicht zuletzt deswegen, weil er selbst es in seinem Freiheitsdrang so will; 2. er ist in ein ständiges Gespräch mit Gott verwickelt (auch dort, wo er meint, mit sich selbst allein zu sein) und vor allem: er ist 3. – und das ist der Kern der christlichen Frohbotschaft – auch als Versager und Gescheiterter (als „Sünder“) dennoch angenommen und neu mit bleibender Würde und Anerkennung vom Himmel her beschenkt . Damit könnte man den etwas abgenutzten Begriff „Erlösung“ umschreiben. Unser Grundgesetzt hat in Artikel 1 diese Überzeugung so festgehalten: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, also auch die der Schwachen, derer, die nicht mitkommen, die Würde derer, von denen Bertold Brecht gedichtet hat: „Und die im Dunklen sieht man nicht!“.

Gott lässt den Menschen also seinen Weg gehen – selbstbestimmt, in aller Freiheit. Nirgends im Gleichnis wird das Verlangen des Sohnes getadelt, sich das Erbe auszahlen zu lassen und in die Fremde zu gehen. Und doch bleibt der Vater ihm präsent, selbst im Elend an den Schweinetrögen, aus denen der Verlorene nicht einmal seinen Hunger stillen darf. Sein Ursprung, das Wissen um Gottes durchtragendes Erbarmen, begleitet den Verirrten – und so findet er zurück und gnadenhafte, nicht herablassende, sondern eine von Herzen kommende Aufnahme. Die Vergebungskraft des Vaters ist größer als die Selbstbeschämung des Heimkehrenden.

Fragen der Lebensdeutung und des Menschenbildes sind wahrlich keine bloßen akademischen Fragen. Sie haben eine überaus praktische Bedeutung, nicht nur für die Lebensführung des einzelnen Menschen, sondern für den Aufbau und Zusammenhalt unserer Gesellschaft insgesamt, etwa für gemeinsame Grundüberzeugungen von dem, was gut und menschlich ist, was man tun sollte und was man eben unter keinen Umständen tut. Das ist gleichsam der geistige „Kitt“ einer Gesellschaft, der sie zusammenhält – und sie zukunftsfähig hält! (Und dieser Kitt scheint gegenwärtig zu zerbröseln – in Ost wie West!).

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der Sozialismus, wie er im Osten Deutschlands praktiziert wurde, an seinem falschen Menschenbild gescheitert ist. Unmittelbar mag man sicher noch andere Faktoren für dieses Scheitern verantwortlich machen: wirtschaftliche Ineffizienz, Unfähigkeit zu politischen und kulturellen Innovationen, Abgleiten in eine ökologische, mehr aber noch in eine geistig-weltanschauliche Verwüstung, die uns derzeit im Osten so schwer zu schaffen macht. Doch hinter all dem stand und steht, so meine These, ein verkehrtes Menschenbild. Grundlegende Dimensionen unseres Menschseins blieben in diesem System und der dahinterstehenden Ideologie ausgeblendet bzw. kamen nicht zur Geltung: die Sehnsucht nach Freiheit, das Gespür für Wahrhaftigkeit, das Verlangen der Menschen sich schöpferisch entfalten zu können, vor allem auch in der religiösen Dimension der menschlichen Existenz:  das Bewusstsein, sich „verdankt“ zu wissen und danken zu können und manches andere mehr.

Das eigentliche Wunder der „friedlichen Revolution“ in unserem Land ist meines Erachtens die Tatsache, dass sich hier ein Menschenbild, so wie es uns im Ansatz die Bibel vermittelt, gegen das ideologische System des Marxismus-Leninismus durchgesetzt hat. Der konkrete Mensch in seinen Sehnsüchten und Hoffnungen war stärker als ein ausgeklügelter Macht- und Sicherheitsapparat. Das lässt mich für die Zukunft hoffen.

Für uns als Kirche heißt das:  Es steht an das gemeinsame, auch ökumenische Gespräch und die Verständigung über die Profilierung der „Glaubensbotschaft“, ihres zentralen Inhaltes und ihrer Sprachgestalt. Es gilt die Gewichtung der kirchlichen Aktivitäten neu zu bedenken. Es gilt, Ausschau zu halten nach Anknüpfungspunkten und „Brückenköpfen“ für das Evangelium im heutigen Lebensalltag der Menschen, der von Pluralismus, Mobilität und wirtschaftlicher Verunsicherung gekennzeichnet ist. Ein solcher „Brückenkopf“ ist z. B. die Sehnsucht der Menschen nach einem Leben „in guten Beziehungen“.

Es gilt, herausragende Orte und Ereignisse, gleichsam „Leuchttürme“ christlichen Miteinanders, die in die Gesellschaft ausstrahlen, als Chancen für „Beteiligungsmöglichkeiten“ auch Nichtgetaufter am kirchlichen Leben anzubieten. Ihre vom Geist Kolpings geprägte Arbeit in diesem Haus in Duderstadt etwa ist ein gutes Beispiel dafür.  Oder das neu belebte Kloster Volkenroda in Thüringen, das allen, besonders auch jungen Menschen, die Türen öffnet. Oder das Haus der Salesianer „Villa Lampe“ in Heiligenstadt. Gern weise ich auch auf unsere kirchlichen Schulen hin, die auch nichtchristliche Jugendliche aufnehmen.

Meine Vision: Es wird zu einer neuen Verknüpfung von Gottesdienst, Seelsorge und „Leibsorge“, von Liturgie, Verkündigung und Diakonie kommen. Ein gelungenes Beispiel für diese Verknüpfung war für mich das „Elisabethjahr 2007“ in Thüringen, damals ökumenisch anlässlich des 800. Geburtstages dieser großen Heiligen gefeiert. Damals wurden die „Sieben Werke der Barmherzigkeit für Thüringen heute“ formuliert. Das jährliche Sankt- Martin-Gedenken auf dem Domplatz in Erfurt bewirkt bei den vielen tausend Besuchern für den Gedanken einer nachhaltigen, gerechten und dennoch barmherzigen Gesellschaft vielleicht mehr als manche fromme Predigt!

Und schließlich: Der je eigene geistliche „Grundwasserspiegel“ eines Christen bedarf ständiger Aufmerksamkeit und Pflege. Ohne ein „geistliches Grundwasser“ kann Christsein nicht gedeihen, ob für uns persönlich oder im Miteinander als Kirche (n).  Es gilt eine Frömmigkeit für die heutige Zeit auszuprägen, die der Ausdünnung der Gottesgegenwart im Alltag Widerstand leisten kann. Hier sehe ich auch ein fruchtbringendes Feld ökumenischen Austausches und spiritueller Zusammenarbeit. Menschen, die ihr Leben im Gottesgeheimnis verwurzeln, bleiben für nichtchristliche Zeitgenossen interessant. Weil das so ist, bin ich für die Zukunft der Kirche und christlichen Glauben in Thüringen zuversichtlich.

Und wenn ich über den Tellerrand unserer kirchlichen Aufgaben hinausschaue: Eine der wichtigsten, gesamtgesellschaftlichen Aufgaben für uns in Mitteldeutschland wäre es, die Konsequenzen aus dem Scheitern der marxistischen Gesellschaftsutopie für den Ausbau und Weiterbau einer freiheitlichen, demokratisch verfassten Gesellschaft zu ziehen. Und auch eine wirklich gründliche (!) und ehrliche Auseinandersetzung mit dem „Dritten Reich“  täte uns not! Eine gute Politik muss wissen, mit welchem Menschen sie es zu tun hat. Nicht zuletzt Parteien, die von einer christlichen Grundorientierung ausgehen, sollten sich mit Fragen des Menschenbildes, der Menschenwürde, der Zielbestimmtheit menschlichen Lebens und Arbeitens auseinandersetzen.

Ich sehe übrigens das Interesse an solchen Fragen durchaus wachsen, etwa unter der Fragestellung: Wohin treibt unsere Gesellschaft? Was hält sie eigentlich zusammen? Vorrangig vor allen in wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fragen ist unsere Gesamtorientierung angefragt: Wer sind wir? Was wollen wir? Welche Zukunft soll uns bestimmen?  Auch in einer digital und von technischer Intelligenz geprägten Gesellschaft bleiben dies Fragen, auf die uns kein Computer Antwort geben kann.

Ich möchte abschließend noch kurz auf einige Probleme der aktuellen Situation in den östlichen Bundesländern eingehen.

Manchmal höre ich Stimmen, die die friedliche Revolution angesichts mancher Härten für die Menschen im Osten als mehr oder weniger misslungen ansehen. Der Vorwurf lautet meist: Der Osten wurde nicht gerecht behandelt. Sicher: Im Nachhinein kann man immer „klug“ reden, was man hätte besser machen können. Man muss freilich stets von den damaligen Rahmenbedingungen eines Neuanfangs in der „Region Ost“ ausgehen. Das war ein gewaltiges Vorhaben – und zwar ohne historische „Blaupause“, an der man sich hätte orientieren können. Wer seinerzeit sofort und umfassend „paradiesische“ Zustände erwartet hatte, lag schon damals falsch. Dennoch: Vieles ist in diesen drei Jahrzehnten gelungen – das zeigt gerade auch der Vergleich mit osteuropäischen (Reform-) Ländern. Aber es bleibt im Blick auf gerechte Lastenverteilung zwischen Ost und West ein weites Arbeitsfeld für die Zukunft. Zudem kommen noch weitere Herausforderungen hinzu, die nun die ganze Bundesrepublik betreffen: die Energiewende, die Klimapolitik, die Regulierung von Zuwanderung (im Kontext von ganz Europa). Ich nenne ausdrücklich auch die Diskussion über inhaltliche Zielsetzungen im Bereich Bildung und Erziehung. Ich bleibe dabei: Frau Honecker als Bildungsministerin hat m. E. dem Osten mehr geschadet als die Politik des ganzen alten ZK´s der SED insgesamt!

Ich bin von der Leitung dieser Studientagung nach meiner Einschätzung des Ost-West-Gegensatzes gefragt worden. Dazu meine Empfehlung: Man sollte die Gegensätze zwischen Ost und West nicht zu einem Dauerthema machen. Sicherlich: Es gibt solche Gegensätze, allein schon von der Geschichte her. Diese gilt es zu berücksichtigen. Doch eine Fixierung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf solche Unterschiede, zudem mit vorwurfsvollem Unterton, halte ich auf Dauer für schädlich. Zum einen, weil sich in der nachwachsenden Generation der Unterschied zwischen ost- oder westdeutscher Herkunft ohnehin mehr und mehr verwischt. Und zum anderen: weil unser föderal gewachsenes und geprägtes Deutschland auch andere Unterschiede kennt – etwa von Nord nach Süd hin, oder von industriellen Zentren einerseits und ländlichen Regionen andererseits mit all den damit zusammenhängenden Problemen.  Dauernd auf Ost-West-Gegensätze zu starren hilft nicht weiter, wie beispielsweise auch nicht in der Ökumene. Wer dort nur die Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten konservieren will, dient nicht der Einheit und schafft keine Zukunft. Schauen wir mehr auf das uns Verbindende – und das ist in der Ökumene und auch in der nun größer gewordenen Bundesrepublik mehr als wir denken.

Ein zunehmend besorgt machendes Phänomen ist derzeit die Polarisierung, die unsere Gesellschaft erfasst, verbunden mit Hass- und Gewaltausbrüchen. Es gilt zunächst zu differenzieren. Ausdrücklich verfassungsfeindliche und gewaltbereite Gruppen am rechten und linken politischen Rand kann und muss man sicher durch den Verfassungsschutz und ggf. durch Verbote im Zaum halten. Aber wie mit den nicht verbotenen extremen Parteien und Vereinigungen umgehen? Und davon noch einmal zu unterscheiden:  wie mit deren Sympathisanten bzw. dem z.T. diffusen Wählerklientel, welches sich von deren Positionen, manchmal auch nur einzelnen Parolen, ansprechen lässt?

Hier würde ich den Rat geben: Klar unterscheiden zwischen den politischen Kräften, die auf dem Fundament unseres Grundgesetzes und seiner Ordnung stehen oder diese abschaffen wollen. Mit letzteren dürfte ein Gespräch, zumal  wenn Hass und Gewaltaufrufe dazukommen, nicht möglich sein. Die auf dem Boden der parlamentarischen Demokratie stehenden Kräfte sollten sich nicht untereinander verunglimpfen, sondern miteinander das Gespräch suchen. Es geht um gegenseitiges Verstehen. Es geht um Klärung von Sachverhalten, um Suche nach einer guten Lösung von Problemen. Verketzerungen und eigene Vorurteile helfen da nicht. Es geht ja besonders auch um Zukunftsperspektiven gerade für jene, die vom gesellschaftlichen Wandel, etwa in der Wirtschaft, stark betroffen und deshalb verunsichert sind. Auch gälte es, eine Weitung der Perspektive jenen zu ermöglichen, die eine kulturelle Überfremdung befürchten und meinen, die verengten DDR-Erfahrungen seien der Maßstab für eine zusammenwachsende Menschheit. Es könnte ja sein, dass Zuwanderung  auf Dauer uns reicher macht – nicht ärmer.

Als Seelsorger und Theologe, der um die Spaltungen und Spannungen etwa auch in unserer katholischen Kirche weiß, möchte ich auf den Rat des Kirchenvaters Augustinus verweisen (sinngemäß): Den Irrtum, das hieße heute: die Fundamentalopposition gegenüber der parlamentarischen Demokratie klar abweisen – aber die Irrenden, die Parolen und Schlagworte als Lösung von heutigen Problemen ansehen, als Mitbürger achten und respektieren! Das ist nicht einfach – und meine Kirche hat in der Geschichte oft gegen diesen Ratschlag verstoßen.  

(Positive Beispiele: Dominikus im frühen 13. Jhd., der um die rigoristischen Katharer warb, oder wie Franz von Sales im 18. Jhd., der mit den Genfer Reformierten das Gespräch suchte; vgl. auch die gegenwärtige politische Vermittlungstätigkeit der „Gemeinschaft San´Egidio“ in von Bürgerkriegen zerrissenen Staaten)

Dialog auf Augenhöhe, aber hart um die „Sache“ ringend, das wäre – nicht nur in Religionsfragen, sondern auch „in politicis“ – ein Türöffner für eine gedeihliche Zukunft.    

Es ist nicht gesagt, dass Christen, nur weil sie Christen sind, bessere Politik machen. Politik ist immer ein gemeinsames Suchen nach den besten gangbaren Möglichkeiten in einer konkreten Situation, besonders auch angesichts neuer Fragen und Probleme. Aber dass die Väter der Montanunion (Robert Schumann, De Gasperi, Adenauer u.a.) damals Politik aus christlicher Überzeugung heraus zu gestalten suchten, ist wohl offensichtlich. „Niemals mehr Krieg zwischen europäischen Völkern!“, das war ihre Vision.

Die Christlichkeit  im Handeln von Menschen vergleiche ich gern mit einem Ferment, das einer Speise Geschmack und Würze verleiht. Was wir im geeinten Deutschland und darüber hinaus gegenwärtig besonders dringlich brauchen, ist: Ideologische Abrüstung, Vernunftgebrauch (durch Sachkenntnis gestützt und nicht von „Bauchgefühlen“ geleitet). Wir brauchen Bereitschaft zu globaler Solidarität (statt „Hauptsache- Ich“- Haltungen). Manche erstrebenswerte Ziele kommen nur durch Verzicht (aller!) zustande. Wichtig bleiben:  Fairness und achtungsvoller Umgang der Verantwortungsträger untereinander. Wir brauchen Augenmaß, Mut auch zum Vorläufigen und Vertrauen darauf, dass ein gutes Beispiel auch politisch mehr bewirkt als die stärkeren Kanonen (auch „Wortkanonen“!).

Die Stärke unseres Grundgesetzes ist ihr freiheitlicher Rahmen. Ich sage gern – auch als Seelsorger: „Was nicht in Freiheit gedeiht, das gedeiht überhaupt nicht“, zumindest steht es in Gefahr, bei Belastungen zu zerbröckeln. Das gilt auch für unser Gemeinwesen. Die Weimarer Republik ist nicht zuerst wegen der Nationalsozialisten gescheitert, sondern daran, dass es zu wenige selbstbewusste, streitbare Demokraten gab, die um den Wert ihrer Republik (trotz ihrer Mängel) wussten.  Uns Deutschen hat die Geschichte eine zweite Chance gegeben. Ergreifen wir sie – gemeinsam!


Der Vortrag wurde beim Kolloquium "30 Jahre Deutsche Einheit" in Duderstadt am 21. Februar 2020 gehalten.