Vortrag von Bischof em. Joachim Wanke, Erfurt, in Gotha, Evangelisches Augustinerkloster 27.4.2016
Manchmal werde ich gefragt, was wir Christen gemeinsam im Blick auf das bevorstehende 500jährige Reformationsgedenken tun können. Ich gebe dann gern als Antwort: gemeinsam als Katholiken, Protestanten und "Freikirchler" in der Heiligen Schrift lesen. Jahrzehnte und Jahrhunderte trennte uns das unterschiedliche Verstehen der Schrift, jetzt kann und soll die Bibel uns wieder zusammenführen. Die gemeinsame Lektüre der Hl. Schrift, gerade unter konfessionell getrennten Christen, hilft die Einheit im Glauben zu bestärken. Sie ist Ausdruck des geistlichen Ökumenismus, den die katholische Kirche fördern möchte. Die Älteren unter uns erinnern sich: Das war nicht immer so. Es gab vor nicht allzu langer Zeit Warnungen unserer Kirche vor der Lektüre evangelischer oder freikirchlicher Übersetzungen der Bibel. Das hing mit der Frage zusammen, wie man das Verhältnis zwischen Hl. Schrift und Kirche bzw. ihrem Lehramt einschätzt. Hier hat gottlob das 2. Vatikanische Konzil ein tieferes Verständnis dieses Verhältnisses gebracht, das jetzt ökumenisch Frucht trägt. Darüber später. Zunächst möchte ich erläutern, was für uns Katholiken die Heilige Schrift bedeutet.
Ich beginne mit dieser Feststellung: Mit der Anerkennung der Bibel bzw. der Bibellektüre allein, möge diese auch überkonfessionell gemeinsam erfolgen, ist es nicht getan. Wir müssen vertiefter verstehen lernen, worum es beim Hören und Lesen des Wortes Gottes, dessen Inhalt ja die Bibel ist, eigentlich geht. Ja, wie ist denn überhaupt der Zusammenhang von Bibel und Wort Gottes zu verstehen? Was ist gemeint, wenn nach dem Vortrag der Lesung im Gottesdienst gesagt wird: "Wort (Singular!) des lebendigen Gottes"? Darum sei zunächst eine wichtige Unterscheidung erinnert: "Wort Gottes" meint mehr als den Text der Heiligen Schrift. Natürlich ist die Schrift (im Bild gesprochen) "Gefäß" des Wortes Gottes. Aber eben doch nicht in dem Sinn, als ob der Text der Hl. Schrift und das Wort Gottes identisch wären (so wie der Islam den Koran als unmittelbare Stimme Gottes versteht: Gott hat arabisch gesprochen!). Es gilt, diese Unterscheidung im Blick zu behalten. Das "Wort Gottes" ist nicht zunächst das gedruckte oder gelesene Wort der Heiligen Schrift. Das "Wort Gottes" ist in den Worten der Heiligen Schrift enthalten. Das ist so, wie wenn ich einen Brief erhalte oder schreibe. Da stehen zwar auf dem Papier Wörter und Sätze. Aber hinter den Sätzen des Briefes, der Art und Weise, wie er geschrieben ist, hinter der Melodie des Textes steckt die eigentliche Botschaft, z. B. diese: Ich denke an dich! Oder: Du fehlst mir sehr! Oder: Ich hab dich gern! Oder: Das Vergangene soll vergessen sein. Lasst uns miteinander wieder neu anfangen! So ist das "Wort Gottes" auch ein Wort in bzw. hinter den Worten und Geschichten, die uns z.B. die Evangelisten überliefert haben. Es ist übrigens interessant: Am eindringlichsten ist eine Botschaft, wenn man sie persönlich überbracht bekommt. Bei wichtigen Dingen, die zwischen Regierungen zu klären sind, schickt man keinen Brief, sondern man schickt einen Diplomaten, einen Botschafter. Oder der Regierungschef fährt persönlich in das andere Land und sagt, was Sache ist. Einem Redenden beim Sprechen ins Gesicht zu schauen, offenbart schon etwas mehr von dem, was er eigentlich sagen will. (Paulus klagt manchmal, dass er den Gemeinden "nur" schreiben kann. Lieber würde er persönlich anwesend sein...) So ist das Evangelium, das "Wort Gottes", zunächst einmal eine Anrede, ein Anruf. Wir wissen: Die Evangelisten haben ihre Berichte nicht geschrieben, um unsere historische Neugier zu befriedigen, sondern um zum Glauben an Jesus Christus als den von Gott verheißenen Retter und Heiland zu führen. Aber die Evangelisten wussten auch: Zum Glauben kommt man nicht durch Papier und Druckerschwärze. Im Gegenteil: Manchmal ist es sogar so: Je mehr Worte gemacht werden, desto misstrauischer wird man. Es ist eigentlich ein Notbehelf, dass das Evangelium aufgeschrieben wurde. Bei Matthäus etwa merkt man deutlich, dass er sein Evangelium als Materialsammlung, als eine Art "Handbuch" für die Katechten und Evangelisten seiner Zeit versteht. Gott hat es anders gemacht als wir Menschen uns das ausdenken konnten. Er hat uns kein kluges Buch geschenkt, nicht einen Brief geschrieben. Gott hat sich uns gegenüber in seinem "Sohn" Jesus Christus ausgesprochen. Er ist das eine, bleibende "Wort", das wir mit Verstand und Herz, mit den Augen und - wenn wir an die eucharistischen Gaben denken - mit den Händen ergreifen, "begreifen" können, gleichsam mit allen Sinnen. Der 1. Johannesbrief sagt es im Rückblick auf das Leben Jesu so: "Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände angefasst haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens" (1 Joh 1,1). Der Kirchenvater Irenäus von Lyon hat es einmal so ausgedrückt: "Jesus Christus ist das Wort in den vielen Wörtern". Darum gilt: Die Heilige Schrift will nichts anderes, als uns zu helfen, Jesus Christus zu begreifen als das uneinholbare, letzte und bleibend gültige Wort des himmlischen Vaters. Sie will helfen, Jesus Christus immer tiefer kennen- und lieben zu lernen, sich ihm in der eigenen Lebenshaltung anzugleichen, um so andere auf ihn aufmerksam zu machen, aber auch so selbst in ihm Seligkeit und Lebensfülle zu finden. Halten wir als eine wichtige Einsicht fest: Personen sind wichtiger als Texte. Das mag eine Binsenwahrheit sein, aber in unserem Zusammenhang unserer Frage nach der Bedeutung der Bibel in der christlichen Ökumene und im eigenen Christenleben von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Eine alltägliche Beobachtung als kleine Verständnishilfe: Ich ertappe mich dabei - mit Abstrichen natürlich -, meine Lektüre danach auszurichten, was mir von geschätzten Personen empfohlen wurde. "Ja, wenn der oder die das empfiehlt, da musst du dir das auch mal zu Gemüte führen!" Das ist wohl eine Erfahrung, die Ihnen nicht fremd sein mag. Gottlob: Die Bibel ist keine naturwissenschaftliche Prosa, und die Psalmen sind auch keine Elegien, wie Rainer Maria Rilke sie verfasst hat. Biblische Texte sind "Betroffenheitsliteratur". "Und als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz", heißt es nach der Pfingstpredigt des Petrus. Diese Reaktion ist das, was wir uns eigentlich für das Hören und Lesen der Heiligen Schrift wünschen sollten: "Sie (die Juden) sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder?" (Apg 2,37) Wir sehen sofort: Wenn die Bibellektüre in diese Dimension vorstoßen soll, reicht nicht das Verteilen und häppchenweisen Vorlegen von Bibeltexten. Natürlich dürfen wir dem Wirken Gottes manches zutrauen. Sein Geist wirkt auf oft sehr merkwürdigen Wegen. Den französischen Dichter Paul Claudel traf der Ruf zur Umkehr beim Hören von Choralmelodien in der Kathedrale Notre Dame in Paris. Nochmals: Texte fangen an zu sprechen durch Personen. Jesus hat Jünger herangebildet - keine Texte verfasst. Er hat Menschen beten gelehrt, und dabei lernten sie das "Vater unser" und so überlieferten sie es uns. Jesus hat sich der Jünger und der Menschen erbarmt - und darum verstanden diese, was er mit dem Gleichnis vom bösen Knecht sagen wollte. Wir erinnern uns: Dem wurde eine Riesenschuld nachgelassen, aber zu eigener Großherzigkeit in einem viel geringeren Fall gegenüber seinem Mitknecht fand er nicht die Kraft. Das bedeutet: Die Bibel ruft nach Zeugen, nicht nach Buchhändlern. Man muss erst selbst etwas erfahren haben, um davon etwas weitergeben zu können. So war es damals, vgl. die Frau am Jakobsbrunnen und ihre Landsleute aus Sichem...Joh 4. So ist es auch heute. Die Christen selbst sind die geborenen Interpreten der Bibel - mit ihrem Glauben, Hoffen und Lieben, mit ihrem Leben, und zwar mit seinen Höhen und Tiefen. Deshalb formuliere ich als meine Erwartung an unsere gemeinsame Hochschätzung der Bibel unter Christen: Die Bibel soll uns helfen, über unser eigenes Leben und über unseren Glauben zu sprechen, uns darüber auszutauschen und für andere in Glaubensdingen auskunftswillig und auskunftsfähig zu werden. Es geht darum, über Konfessionsgrenzen hinweg Glauben und Leben zu teilen. Und das geschieht, wenn wir uns gemeinsam dem Wort und Anspruch Gottes aussetzen. - Wie kann eine solche Haltung der gläubigen "Selbstfindung", der "Selbsteröffnung" im Glauben mit Hilfe der Heiligen Schrift wachsen? Wir Katholiken sagen: Die Bibel ist der Kirche anvertraut. Damit meinen wir nicht die römische Glaubenskongregation. Damit meinen wir das Volk Gottes in seiner geistlichen Buntheit und vielfältigen Gnadenbegabung. Wenn eine Frau und Mutter einmal den Mund aufmacht und sagt, was für sie in ihrem Lebensalltag das Osterlicht bedeutet, wenn ein Mann der Politik bezeugt, wie er Gott vorzuordnen versucht vor der gebotenen Loyalität zum "römischen Kaiser", sprich: zur eigenen Parteilinie, wenn ein Jugendlicher seinen Kumpeln in der Clique sagen kann, dass jemanden zu haben wertvoller ist, als viele Dinge zu haben - dann geschieht das, was immer in der Glaubensgeschichte passiert ist: Dann werden Herzen berührt und gegebenenfalls fängt etwas Neues in einem Menschenleben an. "Du bist nicht fern vom Reiche Gottes!" sagt Jesus dem fragenden Schriftgelehrten (Mk 12,34). Jesus hat erleben müssen, dass manche den großen Wurf der Nachfolge nicht wagten, etwa der reiche Jüngling, dem es unvorstellbar war, sich von seinem Reichtum zu trennen (Lk 18,23). Wir wissen nicht, wie es mit dem jungen Mann weiterging. Nur eines wissen wir: Jesus hat ihm keine gedruckte Sammlung seiner Gleichnisse mitgegeben. Vielleicht hat er ihm einen seiner Jünger hinterhergeschickt. Der chancenreichste Einstieg in Biographien findet die biblische Botschaft, wenn sie sich auf der Beziehungsebene zwischen Menschen einnisten kann. Es gibt nichts Interessanteres als das Leben von Mitmenschen. "Wie ist es Dir mit Deiner Ehe ergangen?" "Wie kommst Du mit den Kindern zurande?" "Wie hast Du diesen Schicksalsschlag verkraftet?" "Wie kommt es, dass Du, der Du doch sonst ganz normal bist, ständig zur Kirche rennst?" Wir kennen solche Fragen und Sticheleien zur Genüge. Worte allein reichen hier nicht als Antwort. Es bedarf der Berührung des anderen mit der eigenen Person. Das Miteinander-Lesen muss begleitet sein von einem (Mindestmaß an) Miteinander-Leben. Jesu Art und Weise, in sein eigenes Gottesverhältnis einzuführen, bestand ja darin, die Jünger an seinem Leben, Beten, an seinen Freuden und Schmerzen, selbst an seinen Versuchungen Anteil zu geben. "Kommt und seht!", sagt Jesus denen, die auf ihn aufmerksam werden. "Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte" (Joh 1,39). Dieses "Mitgehen" und "Mitleben mit Jesus" wird in jeder Zeit andere Gestalt gewinnen. Für mich ist diese Grundeinsicht in ihrer Wahrheit unzweifelhaft: Jedem Gottesglauben in der Art Jesu wohnt ein Mitglauben inne, gleichsam ein ekklesiales (kirchliches) Moment. Wir glauben niemals allein. Wir glauben mit dem Glauben der anderen. Wir glauben mit dem Glauben derer, die uns "im Glauben vorangegangen sind", wie es einem eucharistischen Hochgebet heißt. Wir glauben zusammen mit den Heiligen, mit denen, die im Kalender stehen, und den unzähligen, die nicht zur Ehre der Altäre erhoben wurden. Wir glauben im Letzten den Glauben Jesu mit, der ja nach Hebr 12, 2 der "Urheber und Vollender des Glaubens" ist, eine sehr merkwürdige, aber mich nachdenklich machende Christusprädikation.
Damit berühre ich das, was manchmal als evangelisch-katholische Differenz im Blick auf den Umgang mit der Heiligen Schrift angesehen wird: die Rolle, die die Kirche bei der Schriftauslegung spielt. Manche evangelische bzw. freikirchliche Mitchristen meinen, bei uns Katholiken schiebe sich zwischen Christus und den Einzelnen bzw. die um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde in ungebührlicher Weise die Kirche als Christus verdunkelnde Heilsanstalt. Vielleicht geben wir als katholische Christen für diesen Verdacht durch mancherlei unerleuchtete Reden und Verhaltensweisen Anlass. Z.B. durch ein Reden von der Glaubenstradition, aus der die Hl. Schrift zusätzlich ergänzt werden müsse. Ich versuche dies hier einmal richtig zu stellen.
Das Thema Schrift und Tradition hat, in der Vergangenheit in der Ökumene heftige Kontroversen ausgelöst. In der älteren katholischen Theologie wurde eine sog. Zwei-Quellen-Theorie vertreten, wonach die göttliche Offenbarung teils in der Schrift, teils in der mündlichen Tradition enthalten sei ("partim-partim"). Diese "Denkfigur" entwickelte sich aus Situationen, in denen einzelne Theologen bzw. theologische Schulen in der Kirche die Hl. Schrift gegen die Glaubensüberzeugung der Kirche insgesamt in Stellung brachten, die Kirche aber in manchen Einzelfragen ihre Glaubensüberzeugung noch nicht detailliert bzw. noch wenig theologische reflektiert darlegen konnte. Das gab es übrigens schon im Neuen Testament selbst, wenn etwa 2 Thess 2,2 sich gegen ein einseitiges Auslegen angeblicher Paulustexte verwahrt, oder 2 Petr 1,20f vor eigenmächtiger Schriftauslegung warnt (vgl. auch 2 Petr 3,15ff, wo ein altkirchliches Misstrauen gegen Paulus greifbar wird, wohl auch im Jakobusbrief). Auch später gab es immer wieder diese Spannung zwischen Berufung auf die Hl. Schrift und den Glaubenskonsens der Kirche insgesamt.... Das bekannteste Beispiel ist sicherlich die Szene: Luther auf dem Reichstag in Worms. Luther beruft sich in der Frage der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade allein auf die Schrift. Und die Kirche weiß noch nicht richtig auf die Frage zu antworten, ob nicht auch die von der Gnade Gottes ermöglichten Werke des Menschen etwas mit der Rechtfertigung zu tun haben könnten. Vielleicht so, wie der Dank, den ich als Beschenkter meinem Wohltäter abstatte, wie selbstverständlich mit zum Vorgang des Schenkens gehört .... Heute können wir dies besser als damals theologisch reflektiert formulieren, wie ja die gemeinsame evangelisch-katholische Verständigung über die Rechtfertigungslehre das jüngst gezeigt hat (der sich übrigens auch die methodistische Kirche ausdrücklich angeschlossen hat). Die Vorstellung von Schrift und "Tradition" als zwei (womöglich inhaltlich unterschiedliche) Offenbarungsquellen wurde in der katholischen Theologie des 20. Jhd.´s weithin überwunden. Das 2. Vatikanische Konzil vermied im Dekret über die göttliche Offenbarung "Dei verbum" bewusst eine Redeweise, die die "Überlieferung" als eine quantitative materiale Ergänzung der Schrift missverstehen lassen könnte. Es gibt nur die eine "Offenbarung", die uns in der Schrift und der Glaubensüberlieferung der Kirche vorliegt. In diesem Dekret (Nr.8 und 9) ist davon die Rede, dass die kirchliche Überlieferung (Glaubenstradition) in zweierlei Hinsicht wichtig und unentbehrlich sei: sie gibt 1. der Kirche einerseits Klarheit über den verbindlichen Kanon (den Gesamtumfang) der inspirierten Schriften. Sodann hilft sie 2. der Kirche, in der Gewissheit des Glaubens an die in der Hl. Schrift enthaltene Offenbarung Gottes fest zu stehen. Dass die Hl. Schrift für mich also eine Wahrheit für das Leben und das Sterben ist, bezeugt mir nicht nur der vorliegende Text der Bibel, sondern der ununterbrochene Glaube der Kirche von den Zeiten der Apostel an. Das will unser katholischer Glaube festhalten: Das untrennbare Ineinander von mündlichen und schriftlichen "Verkörperungen" des einen apostolischen Glaubens im Wort der Schrift und deren Überlieferung ("traditio") durch die Jahrhunderte. Auch in den reformatorischen Kirchen ist in neuerer Zeit die Wertschätzung für die grundlegende Bedeutung der Glaubensüberlieferung ("Tradition") gestiegen. Denn diese Überlieferung ist ein Werk des Heiligen Geistes. Sie manifestiert sich in den verschiedenen Lebensäußerungen der Kirche, etwa in der Verkündigung (Predigt), in der Feier der Sakramente, in der Katechese, in der Mission, in der Theologie und im sog. Glaubenssinn aller Christusgläubigen. Das Thema "Tradition", in diesem Sinn verstanden, hat also heute (im Gegensatz zu früher) keine substantiell kirchentrennende Bedeutung mehr. Ich spreche jetzt einmal etwas holzschnittartig: Einziger Zweck der Kirche ist es, den Menschen jeder Zeit und jeder Generation das Evangelium, die Reich-Gottes-Perspektive zu erschließen, so wie das der irdische Jesus von Nazareth getan hat. Die Kirche tut dies im Wissen und im Glauben daran, dass dieser Jesus mehr als ein religiöser Lehrer war, dass er in seiner Person selbst Zugang zur Gotteswirklichkeit eröffnet, also gleichsam eine "Tür" ist, durch die Gott in unser Leben, in diese Welt eintritt und umgekehrt wir Zugang zur Gotteswirklichkeit erhalten. Um es pointiert zu sagen: Die Kirche ist um dieses einen Evangeliums willen da. Evangelium meint in diesem Zusammenhang nicht nur die Botschaft des irdischen Jesus von Nazareth, es meint Jesus Christus selbst und alles, was er gebracht hat. Evangelium im christlichen Sinn meint die Ankündigung einer tiefgreifenden "Wende". Paulus etwa versteht das, was er sein Evangelium nennt, als Proklamation eines grundlegenden Machtwechsels, die Ablösung aller weltimmanenten Mächte und Gewalten aus ihren Machtpositionen und die Einsetzung des Auferstandenen zum Herrn über alle Welt, auch über die Kirche, die ja ohnehin "Geschöpf Christi" ("creatura Christi") ist. Dieser Botschaft, diesem Evangelium soll in jeder Generation neu durch die Kirche ein "Resonanzraum" geschaffen werden. Es geht darum, sich in seinem Leben neu, österlich ("nachwendemäßig"!) auszurichten. Ich gebrauche gern für den Sinn von Kirche das Bild des "Instruments". Instrumente benötigen bekanntlich einen Resonanzraum, in welchem der vorgegebene Ton zum Klingen kommen kann. Der "Ton", die Botschaft von Jesu Leben, Sterben und Auferstehung ist in der Welt. Diese Botschaft ist ein geschichtsmächtiges Faktum. Aber diese Botschaft will immer neu gehört und angenommen werden. Sie will und soll ein "Echo" bewirken im Leben, im Herzen der Menschen, sie will zur "Danksagung" anstiften (vgl. 2 Kor 4,15). Evangelium ist zutiefst Praxis, nicht Theorie, nicht Weltanschauung. Übrigens greift mein Bild vom "Instrument" die bekannte Definition von Kirche im 2. Vatikanischen Konzil auf. Dort wird von Kirche als sacramentum salutis, als universalem "Werkzeug des Heiles" gesprochen (LG 48; GS 48). Die Kirche dient dem "Evangelium" (als Inbegriff dessen, was Gott uns in seiner unergründlichen Liebe schenkt), aber sie steht nicht über dem Evangelium. Eine hilfreiche ökumenische Formulierung spricht "vom notwendigen Dienst der Kirche am heilsnotwendigen Evangelium" (Lothar Ullrich). So sehe ich das Verhältnis von Heiliger Schrift und Kirche. Ich meine, das kann auch ein evangelischer Christ, für den die Kirche zumindest mehr ist als nur ein Verein Gleichgesinnter zur Förderung religiöser Anliegen und Gefühle, bejahen. Eine gewisse Hilfe zu diesem Verständnis gibt auch ein anderer Vergleich, der mehr den Ursprung der biblischen Schriften bedenkt. Schauen wir nur auf die 27 Schriften des Neuen Testaments. Erst am Ende des 3.Jhd. steht einigermaßen fest, was in den Gemeinden in Ost und West als "Neues" Testament anerkannt wurde (bei der Offenbarung des Johannes etwa gab es noch unterschiedliche Meinungen bis in spätere Jahrhunderte hinein). Die Heiligen Schriften, die für uns jetzt ein verbindlicher Kanon, eine Sammlung inspirierter "Gefäße" des einen Evangeliums sind, kommen uns also durch den Glauben der Gemeinden aus den Apostelzeiten zu. Und diese, durch die Gemeinden anerkannten Schriften werden in ihrer Autorität, in ihrem Geltungsanspruch bis heute getragen "wie Schiffe auf einem kraftvollen Strom" vom lebendigen, andauernden und fortdauernden Glauben der Christen insgesamt, sprich: der Kirche. Ohne den Glauben der Kirche wären diese Schriften reine Literatur! Und Bibelauslegung wäre dann nur ein Spezialfall von Literaturwissenschaft! Wir können unsere Überlegungen so zusammenfassen: Wir empfangen die Hl. Schrift von der Kirche. Deren ununterbrochenes Glaubenszeugnis seit den apostolischen Zeiten stellt sie uns als "Offenbarung" vor. Aber ebenso gilt: die Hl. Schrift konstituiert, reinigt und nährt unaufhörlich den Glauben der Kirche an das Evangelium Gottes durch alle Generationen hindurch bis heute. Und dabei kommt es mir auf jedes der drei Verben an: konstituieren, reinigen und nähren!
Mein Plädoyer lautet also: die Bibel dort zu verankern, wo es das Leben zu bestehen gilt. Die Bibeltexte fangen dort zu sprechen an, wo Menschen gemeinsam danach fragen, wie sie mit dem Leben eigentlich zurechtkommen sollen. Ihre Sehnsüchte, ihre Ängste und ihre Freuden, oder besser gesagt: unsere gemeinsam geteilten und mitgeteilten Siege und Niederlagen sind das Rohmaterial, auf dessen Hintergrund biblische Texte zu sprechen anfangen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass dies sehr gut beim gemeinsamen Bibelgespräch gelingt. Denn dort wird Bibellektüre nicht nur zu einem "Bibel-Teilen", sondern zu einem Vorgang des "Leben-Teilens". Mein Bemühen ist es, dies in den Pfarrgemeinden und Verbänden, in den Gemeinschaften und Gruppen unserer Kirche unermüdlich anzumahnen: Setzen wir uns gemeinsam der Botschaft der Schrift aus! In Kurzfassung: Ich plädiere für eine Bibellektüre, die Menschen vernetzt und zu kleinen Gemeinschaften zusammenführt. Es gehört zu den Zeichen unserer Zeit, dass Menschen sich in Selbsthilfegruppen suchen und finden. Sicherlich: Für uns Katholiken ist die Liturgie der vornehmste Ort, die Hl. Schrift zu hören. Aber dieses Hören muss unterstützt werden von Orten, in denen die biblische Botschaft im gemeinsamen Geben und Nehmen, im Widerspruch und in der Zustimmung, im Suchen und Erproben einen "Sitz im Leben" heute finden muss. Und das eben auch in der Alltagsökumene. Ich höre von anderen Ortskirchen in Asien und Afrika, dass dort die kleinen christlichen Gemeinschaften zunehmend an Bedeutung gewinnen. Woche für Woche treffen sich die Christen eines überschaubaren Wohngebietes. Sie lesen miteinander die Heilige Schrift und besprechen, was ihnen im Alltag ihres Lebens als wichtig erscheint. Ihr gemeinsames Lesen ist untersetzt von Erfahrungen geteilten Lebens. Ich weiß nicht, wie diese Erfahrungen in unser kulturelles Umfeld übersetzt werden können. Wir leben im Normalfall in einer bürgerlichen Distanz, die kaum einen echten zwischenmenschlichen, auch geistlichen Austausch zulässt. Das gehört meines Erachtens zu den grundlegenden Schwierigkeiten von Kirche-Bildung in der heutigen Zeit. Wir sind füreinander religiös verstummt. Wir sind nicht mehr in der Lage, einander im Licht des österlichen Glaubens unser Leben zu deuten. Das Beten der Mutter mit dem Kleinkind an der Bettkante findet zu selten statt. Das religiöse Gespräch an den Küchentischen ist verstummt. Wir verstecken uns geistlich voreinander, weil wir meinen, man dürfe dem anderen mit solchen Dingen nicht zu nahe auf den Leib rücken. Es ist ja bekannt: Man kann heutzutage, auch öffentlich, über die intimsten Dinge des Sexuallebens reden, nur zwei Themenbereiche sind tabu: Das Reden über das eigene Gehalt und über die eigene religiöse Orientierung. Darüber spricht man nicht. Das ist gleichsam "unkeusch"! Und wenn es geschieht, wird milde Ironie über alles gegossen, wenn nicht gar der Verdacht fundamentalistischer Anwandlungen ausgestreut. Hier wird, so meine ich, bald eine Wandlung einsetzen. Ich merke das zumindest bei Menschen, die ganz von außen, aus dem Bereich des Nichtkirchlichen zum christlichen Gottesglauben finden. Für manche Neugetaufte ist es ein Bedürfnis, sich auch weiterhin mit anderen Christen zu treffen und sich auszutauschen über das, was ihnen wichtig geworden ist. Und das geschieht - aus gutem Grund - anknüpfend an gemeinsame Bibellektüre. In diese Richtung gilt es, nach gangbaren Wegen auch in unserem kulturellen und gesellschaftlichen Klima Ausschau zu halten. Und bei dieser Suche wollen wir als katholische Christen gern dabei sein. Darum meine Einladung: Wir Christen müssen uns mit unserem Gottesglauben berührbar machen. Das geschieht u.a. bei der gemeinsamen Schriftlektüre. Das ist das Kostbare an ihr. Suchen wir darum immer wieder nach Gelegenheiten, die gemeinsame geistliche Bibellektüre zu praktizieren! Sie wird uns auf Dauer im Glauben zusammenführen. Und das wäre ein wertvoller Beitrag für das Reformationsgedenken 2017.
Der Vortrag als PDF-Datei