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Es ist heilsam, sich vor Freunden und Weggefährten immer wieder über den inneren Zustand der eigenen Ortskirche Rechenschaft zu geben. Zum einen verhilft der Zwang zur gerafften Darstellung der Situation zur Schärfung der eigenen Beobachtung und zu vertiefter Reflexion, zum anderen weitet das Gespräch den Blick und hilft, eigene Blindheiten und Engführungen in Pastoral und kirchlichem Alltagsleben besser zu erkennen. So verstehe ich meine heutigen Ausführungen als Möglichkeit des gemeinsamen Wahrnehmens und Lernens.
I.
Zur derzeitigen Situation der katholischen Kirche in den neuen Bundesländern
1. Zur geschichtlichen Entwicklung des Katholizismus im Raum zwischen Werra und Oder braucht es zumindest einige wenige Bemerkungen. Nachreformatorisch gab es hier, bis auf das Eichsfeld und Teile des Sorbischen Landes keine geschlossenen katholischen Siedlungsgebiete mehr. Meist setzte das Leben katholischer Gemeinden erst im vergangenen Jahrhundert mit der Industrialisierung und den damit gegebenen Bevölkerungsbewegungen ein. In Thüringen etwa haben meist Rheinländer und Franken in den vormals durchweg evangelischen Landgebieten, die Stadt Erfurt und das Eichsfeld einmal ausgenommen, katholische Gemeinden wiederbegründet. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gab es den gewaltigen Zustrom der Katholiken aus Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland, in Thüringen allein etwa 600 000, der freilich nach und nach in verschiedenen Schüben sich weiter nach West- und Süddeutschland hin fortbewegte. Ein Teil der zugewanderten Katholiken verlor in evangelischer bzw. atheistischer Umgebung seine Kirchenbindung, andere aber bildeten lebensfähige Gemeinden, bei uns durch die katholischen Eichsfelder kräftig unterstützt, die heute in den Städten Thüringens, weniger in den ländlichen Gebieten, auch für die profane Öffentlichkeit zum Erscheinungsbild von Kirche gehören. Derzeit ist auch eine leichte Zuwanderung von Katholiken aus der Alt-Bundesrepublik bemerkbar, zumindest dort, wo es Arbeitsmöglichkeiten gibt. Diese bringen freilich oft eine andere, meist weniger intensive Kirchenbindung mit als frühere DDR-Katholiken gewohnt waren.
Wir haben derzeit in allen östlichen Bundesländern, einschließlich Westberlins knapp 800 000 Katholiken. Im Bereich des Bistums Erfurt, das abzüglich eines katholischen Rhöndekanates und eines Diasporadekanates um Gera herum etwa mit dem politischen Land Thüringen identisch ist, leben derzeit ca. 160 000 Katholiken. Wir haben zur Zeit 72 Pfarreien bzw. Filialgemeinden, 114 aktive Weltpriester, 6 aktive Ordenspriester, 14 hauptamtliche Ständige Diakone im Dienst und 62 aktive Gemeindereferentinnen. Das caritative Leben ist reich entfaltet, es gibt Kindergärten, Altersheime, Behindertenheime und -schulen, auch Krankenhäuser, aber auch andere spezielle Dienste (etwa Beratungsdienste) mit vielen Laienmitarbeitern, weithin durch öffentliche Gelder refinanziert. Wir haben zwei Krankenhausschulen, eine Sozialfachschule, eine Altenpflegeausbildung und zwei Gymnasien, letztere erst nach der politischen Wende wiederbegründet. Für viele Besucher ist es oft verwunderlich, dass wir manche dieser Einrichtungen schon in den DDR-Jahren unterhalten haben, etwa Kindergärten. Aber das hing mit unserer besonderen deutsch-deutschen Situation zusammen, die den kommunistischen Machthabern im Osten meist nicht erlaubte, einfach hin alle Einrichtungen der Kirche zu schließen. Aber das im Einzelnen darzustellen, führt hier zu weit. (Vgl.: J. Pilvousek, Die katholische Kirche in der DDR, in: E. Gatz (Hrsg.) Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd.1, Paderborn 1998; G. Niemczik, Menschen auf dem Wege. Chronik der Caritasarbeit in Thüringen, Heiligenstadt 1996.)
2. Nach der politischen Wende und mit der deutschen Einheit wurden in einem erstaunlich schnellen Überlegungs- und Entscheidungsprozess die kirchlichen Jurisdiktionen geordnet, die bislang - seitens der Kirche bewusst - in einem gewissen Schwebezustand gehalten worden waren. Die DDR hatte seinerzeit auf Abtrennung der Kirchengebiete von den Westbistümern gedrängt, doch kam das letztendlich nicht zustande. Freilich gab es faktisch ein Eigenleben der östlichen Bistumsanteile (nur Meißen, jetzt Dresden-Meißen, war seit 1921 selbständiges Bistum, dazu natürlich das geteilte Bistum Berlin), dieses jedoch in engster Bindung an die Bistümer im Westen, geistig, geistlich - und nicht zuletzt - finanziell. Wir haben im Osten für vielfältigste Unterstützung durch die Katholiken des Westens und ihre Bischöfe zu danken. Wir konnten beispielsweise die Priesterausbildung in Erfurt aufbauen und aufrechterhalten, die theologische Entwicklung nach dem 2. Vatikanischen Konzil mit vollziehen und in mancher Hinsicht sowohl in Pastoral und Caritas mit relativ wenig Westgeld für östliche Verhältnisse effektiv viel bewirken. Ausdrücklich beziehe ich auch das Bonifatiuswerk in Paderborn in diesen Dank mit ein.
Was die neuen Bistumsgründungen jetzt im Osten, trotz ihrer quantitativen Kleinheit signalisieren möchten, ist in keinem Fall die Tendenz zur Separierung vom Westen. Im Gegenteil: Wir sind strukturell und dem Wollen nach voll und ganz in die katholische Kirche Deutschlands hineingenommen. Da hatten wir Katholiken im Osten überhaupt keine Probleme (der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR tat sich mit der Integration in die EKD m.E. schwerer). Was die Gründung der Bistümer Magdeburg, Görlitz und Erfurt signalisieren möchten, ist der Wille unserer Kirche, sich in den östlichen Ländern wirklich zu verwurzeln, gleichsam einzupflanzen. Wir wollen und müssen zu der im Osten vorfindlichen kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit "dazugehören", und zwar so, wie wir sind, was nicht ausschließt, dass wir weiterhin auf die gesamtdeutsche Solidarität aller Katholiken angewiesen bleiben.
Dabei steht mir vor Augen, dass wir katholischen Christen eine Minderheit von ca. 5-7 % an der Gesamtbevölkerung darstellen. Unsere evangelischen Kirchen im Osten mussten jetzt nach der Wende erschreckt feststellen, dass auch sie "Kirche in der Minderheit" sind, im besten Falle vielleicht noch 20-25 %, wobei die Teilnahme am evangelisch-kirchlichen Leben zum Teil ganz schwach ausgeprägt ist. Das lenkt aber unseren Blick schon auf die innere Situation unserer Kirche. (vgl. II)
3. Nur in Kürze sei der Blick auf die allgemeine gesellschaftliche Befindlichkeit in den neuen Ländern gelenkt.
Ich möchte zunächst hervorheben, dass ich die durch das alte System verursachten geistigen Schäden, die meist nicht so offen zutage liegen, für schwerwiegender halte als die ökonomischen Probleme. Letztere wird man - vermutlich in einem längeren Zeitraum als gedacht - wohl in den Griff bekommen. Aber wird das auch gelten von dem, was Lüge und Halbwahrheit des alten ideologischen Systems in den Köpfen und Herzen der Menschen, besonders der jungen Leute, an Verbiegungen, Ausfällen und Wertblindheiten bewirkt haben? Ich nenne zwei Beispiele: Das Wort "Solidarität", in der alten DDR hochgepriesen, ist ein Ideologie-Wort gewesen und in seinem positiven Gehalt überhaupt nicht angenommen worden. Die deutsch-polnische Aussöhnung etwa muss trotz der oft gefeierten Friedensgrenze an der Neiße im Osten Deutschlands noch in den Herzen der Menschen Wurzel fassen. Oder: Ich verweise auf die nachhaltige Schädigung des Verantwortungsbewusstseins des Einzelnen. Die Omnipotenz und Omnipräsenz des alten sozialistischen Staates bis in das Privatleben hinein hat hier zu Mängelerscheinungen geführt, die sich jetzt bemerkbar machen, etwa in der Hilflosigkeit, das eigene Leben gestaltend in die Hand zu nehmen bzw. die falsche Erwartung an den Staat, für alle Probleme zuständig zu sein. Die überzogenen Erwartungen an die Politik sind die Kehrseite der eigenen langjährigen Entwöhnung von politischem Denken und Handeln. Die Gesellschaft im Osten wird noch lange an den Folgen solcher geistigen Schädigungen zu laborieren haben.
Kennzeichnend für die derzeitige Situation in den neuen Ländern ist ein Prozess der beschleunigten "Nachmodernisierung". Was sich im Westen über 40 Jahre langsam, wenn auch dort nicht ohne Brüche und Spannungen, aber doch letztendlich kontinuierlich entwickelte und ausdifferenzierte, das rollte bzw. rollt noch jetzt im Osten wie eine Sturzflut über uns hinweg. Man muss sich das einmal konkret vorstellen, was ein ehemaliger DDR-Bürger an Lernprozessen zu bewältigen hatte: zum einen die berufliche Nach- und Umschulung, der sich viele unterziehen mussten, zum anderen die "Umpolung" in den meisten alltäglichen Lebensbereichen, vom Mietrecht angefangen über Eigentumsfragen, Umgang mit Banken und Krediten, mit neuen Behörden und Formularen, bis hin zum Staunen über eine merkwürdig verbürokratisierte Justiz und ein Parteiengezänk, das sofort auch bei uns "Westniveau" erreicht hatte. Die gesellschaftlichen "Freisetzungen", die gleichsam über Nacht und nahezu unvorbereitet die östliche Bevölkerung erreichen, wurden zwar sicherlich von den meisten vordergründig begrüßt, aber nicht immer wirklich bewältigt. Viele kamen und kommen mit den neugewonnenen Freiheiten nicht zurande bzw. gerieten in neue Zwänge, deren Ursachen sie nicht durchschauten oder denen sie sich nicht entziehen konnten. Ich denke hier an die älteren Arbeitnehmer, die arbeitslos geworden waren und nicht mehr vermittelt werden konnten. Ich denke an die oft noch unerfahrene Jugend, die sich umworben sah von einer Angebotsindustrie, die mit allen trickreichen Mitteln um Marktanteile kämpfte, aber auch anderen geistigen "Anbietern", die mit dubiosen Parolen und Verheißungen um Gefolgschaft warben.
Solche Erfahrungen prägen derzeit die innere Atmosphäre in unserem Land: "Ja - aber ...!" Ja, wir haben die Wende gewollt, und wir stehen zu ihr - aber wir haben nicht alles gewollt, was mit dem Umschwung unser Land und die Menschen überrollte.
Das Spezifische an der beschleunigten Nachmodernisierung, der der Osten Deutschlands ausgesetzt ist, könnte meines Erachtens in diesen drei Stichworten eingefangen werden:
(1) Nachholbedarf
Es gibt angesichts der in der alten DDR-Entwicklung angestauten gesellschaftlichen Probleme jetzt einen Nachholbedarf an Modernisierung, der stärkste wirtschaftliche, aber eben auch kulturelle und geistige Turbulenzen auslöst. Der Individualisierungsschub, der auch im Westen erkennbar ist, greift im Osten noch drastischer. Die sozialen und psychologischen Sicherheiten, die das alte System (oft unter ideologischen Vorzeichen) geboten hatte, sind entfallen. Die neuen sozialen Netze greifen erst langsam bzw. die Menschen lernen nur schwer, sich darin zurechtzufinden. Kennzeichnend etwa sind die starken Rückgänge der Geburten, mehr noch als in den Kriegsjahren 1941-1945. Man ist sich der Zukunft nicht sicher, doch gibt es andererseits einen Lebenshunger, der möglichst jetzt und sofort das nachholen möchte, was bislang nicht möglich war. Die Reisebüros z. B. haben immer noch Hochkonjunktur - trotz höherer Arbeitslosigkeit. Im Bild: Es ist wie bei einem Strafgefangenen, der unvermittelt mit der Freiheit konfrontiert wird. Die "geordnete" Gefängnissituation erscheint in der "Zugluft" der Freiheit unter Umständen romantisch verklärt. Manche Kräfte machen damit politisch Kapital.
(2) Östliche Inferioritätskomplexe
Auch das möchte ich ansprechen, weil es ein Spezifikum unserer Situation ist. Der Ost-West-Gegensatz bestimmt das alltägliche Denken und Verhalten der Menschen. Wenn auch manches sich jetzt schon verwischt und angleicht: Die östliche Grundgestimmtheit ist von einem tief eingefressenen Verdacht bestimmt, von den "Wessis" nicht ernst genommen zu werden, politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell usw. Angesichts des West-Ost-Gefälles meint man sich immer wieder behaupten und verteidigen zu müssen. Wenn es humorvoll geht, mag es angehen, wie das Msgr. Karl-Heinz Ducke einmal gesagt hat: Wir im Osten hatten zwar kein silbernes Essbesteck wie die im Westen, sondern nur eines aus Aluminium, aber die Bewegungen beim Essen waren die gleichen! Oftmals schwingt aber auch Bitterkeit in der Reaktion mit, die sich dann auf den gesellschaftlichen Alltag und die innere Gestimmtheit belastend auswirkt.
Ich darf hier nur nebenbei, aber dankbar anmerken, dass gerade unsere Kirche und die von ihr und unseren Katholiken getragenen und auch jetzt wieder stabiler gewordenen Verbindungen zwischen West und Ost viel zum Abbau solcher Ressentiments und Minderwertigkeitskomplexe beigetragen haben und beitragen. Der biographische und institutionelle Austausch von Menschen, die sich im gemeinsamen Gottesglauben verbunden wissen, bewährte sich auch in dieser besonderen geschichtlichen Stunde unseres Volkes.
(3) Geistige Orientierungslosigkeit
An dieser Stelle ist zu sprechen von der Problematik, die meines Erachtens die schwerwiegendste Frage für uns im Osten war und ist: Wer wird das Vakuum ausfüllen, das durch den Zusammenbruch des alten ideologischen Systems entstanden ist? Dieses System hatte zwar zuletzt immer mehr an innerer Überzeugungskraft verloren, aber es hatte eine Mehrzahl von Menschen, die ihre religiöse Beheimatung in den evangelischen Landeskirchen bzw. auch im katholischen Glauben verloren hatten, mit einem merkwürdigen quasi-religiösen Welt- und Lebensbild aufgefangen, das - denken wir nur an das Ritual der Jugendweihe - nahezu Züge einer atheistisch grundierten Zivilreligion angenommen hatte. Diese, zum Teil auch durch Anleihen aus einem kleinbürgerlichen, sozialistischen Humanismus angereicherte Lebensphilosophie des alten DDR-Bürgers ist zusammengebrochen. Es zeigt sich nun, dass unter dem Firnis der sozialistischen "Kultur" oft keine echten tragenden Werte vorhanden sind. Meist ist es ein blanker Materialismus, der das Handeln und Urteilen bestimmt, manchmal sind es auch obskure, irrationale Heilslehren, die hier und dort Anhänger finden. Die innere Orientierungslosigkeit ist groß. Auch der Blick gen Westen ist da für nachdenkliche Menschen nicht sonderlich hilfreich. Erblicken die Menschen im Westen in unserer östlichen Situation oft ihre eigene Vergangenheit, sehen manche im Osten in der Situation drüben ihre Zukunft. Aber wenn man nicht gerade im steigenden Bruttosozialprodukt den Wertmesser für die innere Qualität einer Gesellschaft sieht, stimmt eine solche Einschätzung auch nicht gerade heiter!
Es wird noch ein langer Weg sein, in der Breite der ostdeutschen Bevölkerung etwa auch eine Akzeptanz für die parlamentarische Demokratie zu schaffen, für die Staatsform mit klarer Gewaltenteilung und mit ökonomischen Leitvorstellungen, die eine komplizierte Balance zwischen sozialer Absicherung und wirtschaftlicher Effizienz zum Ziel haben. Angesichts der anhaltenden Probleme der innerdeutschen Einigung, etwa angesichts der sich verschärfenden Verteilungskämpfe, wird sich diese Herausforderung auch im Westen stellen. Es geht nicht ohne Vorgabe von Werten. Und ein Staat, geschweige denn eine Ideologie kann diese nicht hervorbringen, es sei denn um den Preis der Freiheit. Wir im Osten werden, um es auf eine Formel zu bringen, nach und nach die jahrzehntelange gesellschaftliche "Denk-Entwöhnung" überwinden müssen, und im Westen wird man wohl gegen die jetzt zutage tretende "Denk-Verfettung" in Politik und Wirtschaft angehen müssen, die die gesellschaftspolitische Visionsfähigkeit schrumpfen lässt.
So oder ähnlich wäre "holzschnittartig" die augenblickliche innere "Gestimmtheit" eines nachdenklichen Ostbürgers im Blick auf die gesellschaftliche Situation zu beschreiben, wobei dieser hin- und hergerissen ist zwischen der klaren Erkenntnis der eigenen defizitären Vergangenheit und dem Gespür, dass wohl auch nicht alles Gold ist, was da im Westen (und nun bei uns aus dem Westen) glitzert und glänzt. Wer so bis in die Mitte seiner Existenz verunsichert ist, beraubt alter Selbstverständlichkeiten, losgelöst aus vertrauten Handlungsmustern und herausgerissen aus dem Gefüge eines "Betreuungsstaates", an dessen sozialistischer Brust alle geborgen sein sollten - der braucht schon ein starkes Selbstbewusstsein und ein Wertgefüge, das über die Anpassungszwänge des Alltäglichen hinausreicht. Kann da die Kirche einen Halt bieten?
II.
Probleme für die seelsorgliche Arbeit und das kirchliche Leben in den neuen Ländern
Ehe wir einige Punkte bedenken, in welcher Weise unsere Kirche auf diese Situation antworten sollte, muss ich deutlich die wichtigsten Probleme unseres ortskirchlichen Lebens ansprechen. Ich versuche dies in Stichworten anzudeuten:
1. Die in der ostdeutschen Mentalität tief verwurzelte Kirchenferne
Manche Besucher aus dem Westen meinten, dass nach der Wende, nach so langer Unterdrückung allen religiösen und teilweise auch kirchlichen Lebens im Osten ein Zustrom zu den Kirchen einsetzen müsste. Für Kenner der inneren Mentalität im Osten war freilich schon vorher klar: Die Ostdeutschen sind "religiös unmusikalisch" und Kirche ist für sie, wenn nicht Exotisches, so doch zumindest etwas sehr Fremdes, Unverständliches. Es gibt manche kluge Abhandlungen zu diesem Befund. In der Diagnose sind sich die meisten Beobachter einig, weniger in der Darlegung der Ursachen für diesen Befund, geschweige denn in der Therapie.
Wir müssen realistischerweise damit rechnen, dass die Breite der Bevölkerung in den neuen Bundesländern, verursacht durch Indoktrination, aber auch durch Gewöhnung an eine totale religiös-kirchliche Abstinenz, für absehbare Zeit kaum Zugang zu einem religiösen, geschweige denn kirchlich geprägten Gottesglauben finden wird. Auch das sei am Rande vermerkt: Im Osten "dampft" es nicht vor lauter Religiosität! Es mag einige wenige neureligiöse Zirkel und Grüppchen geben, doch spielen diese in der Breite der Bevölkerung Ost, so meine ich, keine Rolle. Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass die Akzeptanz der westlichen Lebenswerte samt ihrer Träger ohnehin im Osten nachgelassen hat, zum anderen mag es auch eine gewisse Trotzhaltung sein, die sagt: Alles hat uns Ostleuten der Westen genommen - aber unseren Atheismus, den lassen wir uns nicht nehmen! (so eine These von E. Neubert "... gründlich ausgetrieben", Berlin 1996).
Das mag ein wenig überspitzt formuliert sein, aber ich halte diese Herleitung der ostdeutschen Religions- und Kirchenferne zumindest zum Teil für berechtigt. Der Atheismus ist bei uns im Osten schon seit drei bis vier Generationen biographisch vererbt, oft schon aus der Vorkriegszeit.
Doch möchte ich hinzufügen: Der explizite Atheismus ist besonders nach der Wende durchsetzt von einem müden, zum Teil resignativen Skeptizismus oder Agnostizismus. Wirklicher Atheismus ist ja intellektuell viel zu anstrengend. Die Menschen im Osten sind weithin eher weltanschauliche "Lebenskünstler", die sich ihre Grundüberzeugungen, wenn sie überhaupt welche haben (wollen), selbst zusammenbasteln - aus Vorurteilen, aus eigenen biographischen Erfahrungen, aus Bildungsresten der alten DDR-Schule, aus Anleihen aus dem westlichen Positivismus usw. Wir Kirchen treffen im Osten beileibe nicht nur auf Ablehnung. Das auch. Aber daneben gibt es durchaus auch Neugier, Interesse, freundliche Anteilnahme - aber eben selten wirkliche Lebensumkehr aus dem christlichen Gottesglauben heraus.
2. Kirchlich-katholische Binnenorientierung
Damit meine ich eine durch die lange, zwei bis drei Generationen währende Kampfsituation der Gläubigen und der Kirche insgesamt sich herausgebildete katholische Haltung der "Einigelung". Positiv könnte man dies nennen: "Schulterschlussgemeinschaft" - in ihr erträgt man ja leichter Benachteiligung und Schikanen, negativ muss man das aber deutlich als strukturelle Schwäche erkennen, eben als "Einigelung", die in der Gefahr steht, die umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr richtig wahrzunehmen bzw. ihr gerecht zu werden.
Das zeigte sich schlaglichtartig nach der Wende, als es darum ging, bestimmte Lebensformen des im Westen gewachsenen katholischen Lebens im Osten zu übernehmen: Verbandsarbeit, schulischen Religionsunterricht, Medienpräsenz, Dialog mit Kultur und Wissenschaft usw. Sicherlich hat unsere mangelnde Kompetenz auf solchen Feldern, die den innerkirchlichen Lebensraum überschreiten, mit unserer fehlenden Erfahrung zu tun, auch z. T. mit unserer quantitativen Schwäche, aber auch und vor allem mit unserer geistigen und geistlichen Einstellung, die weniger auf Öffnung und Dialog mit der Umwelt aus war, als auf Abgrenzung und Selbstbewahrung. Diese Stichworte bezeichnen, auf die Spitze und ins Extrem getrieben, eine pastoral-kirchliche Grundoption, die freilich so chemisch rein und isoliert nicht existierte. Es gab auch damals durchaus ein Hineinwirken der Kirche in die Gesellschaft, ich denke da allein an unsere caritativen Einrichtungen, auch an die öffentlichen Wallfahrten und Jubiläen, später dann vor allem an das Katholikentreffen 1987 in Dresden und nicht zu vergessen ist die katholische Mitbeteiligung an den drei Ökumenischen Versammlungen kurz vor dem Herbst 1989 in Dresden und Magdeburg.
Doch wollte ich einfach aufmerksam machen auf eine strukturelle und geistige Schwäche unseres östlichen Diasporakatholizismus: Wir sind zu wenig oder kaum ausgerichtet auf eine geistige und geistliche Präsenz, die angriffig ist, die anregen will, die auf andere abzielt, die mehr bewegen als bewahren will. Wir stellen nicht "das Licht auf den Leuchter" (so ein pastorales Schwerpunktthema vor einigen Jahren in unserem Bistum). Damit meine ich nicht unser eigenes Licht, sondern das Licht eines Gottesglaubens, das auch wir geschenkt bekommen haben, das uns - Gläubige wie Ungläubige - gemeinsam erleuchten will.
3. Kirchliche Umstellungsprobleme nach der Wende
Nach der Wende meinte ich noch etwas blauäugig, das kirchliche Leben bleibe doch weithin von den Turbulenzen der gesellschaftlichen Wende verschont. Wir mussten ja nicht unser Credo ändern, und auch das Kirchenjahr blieb uns erhalten. Aber ich habe inzwischen mein Urteil gründlich revidiert: Auch unser kirchliches Leben ist mit hineingezogen in jene Umstellungen, die eine offene, demokratische, aber auch liberale Gesellschaft hervorruft. Ich verweise in diesem Zusammenhang einfach auf jene Lernprozesse, die uns die Übernahme der westlichen kirchlichen Strukturen bescherte: ein geordnetes, aber auch uns bindendes Staat-Kirche-Verhältnis, Militärseelsorge, Präsenz in den Schulen und in der Erwachsenenbildung, Verbandswesen, Caritas als eigenständiger öffentlicher Wohlfahrtsverband, der zwar öffentliche Gelder empfängt, dies aber auch abrechnen muss, überhaupt der heilsame Zwang, die Realität der Finanzierung des kirchlichen Lebens ernst zu nehmen ... Manches ist sehr erfreulich und auch schnell als Lernprozess gelaufen, etwa gerade im Caritasbereich, aber auch bei der Gründung von Schulen, im Gespräch mit der Politik (in der wir mehr Gewicht haben als unsere schmale Bevölkerungsbasis vermuten lässt), im Umgang mit den Medien u. a. mehr. Der "mdr" z. B. ist ein für kirchliche Belange erstaunlich offenes Medium, nicht zuletzt dank so mancher Christen, die dort Verantwortung tragen.
Dennoch ist zu sehen: Wir haben gerade jetzt, in einer Situation des Umbruchs und des Neuanfangs, in einer Situation, in der gleichsam der gesellschaftliche Acker umgepflügt wird, mehr Möglichkeiten als wir wahrnehmen. Im gewissen Sinn gilt das natürlich für alle kirchenhistorischen Situationen. Aber die Nachwendesituation in den neuen Ländern ist weithin noch nicht so verfestigt und verkrustet, wie das z. T. im Westen der Fall ist. Hier ist noch manches "flüssig", geistig und auch strukturell beweglich, wenn wir denn wach sind und einsatzbereit.
Hier markiere ich auch den Punkt, wo ich immer wieder in den Diözesen des Westens um geistige und geistliche Hilfe bitte: Die Kirche im Osten braucht gerade jetzt weitere Solidarität, eben nicht nur finanziell, sondern auch personell und ideell. Wir sind im Osten geistig und kirchlich gesehen ein Frontabschnitt, in dem sich auch für die katholische Etappe im Rheinland und in Bayern viel entscheiden wird. Sicher: Auch in München und in der geistigen Luft einer Geldstadt wie Frankfurt oder einer liberalen Universität wie Göttingen ist die Kirche auf dem Kampffeld. Aber im Osten wird sich, so meine ich, exemplarisch entscheiden, ob die Verkündigung des Evangeliums, und zwar als kirchliche Verkündigung, einen Fuß auf den Boden bekommt oder nicht. Im Osten wird die Kirche die Kräfte entbinden müssen, die dem Evangelium in der postmodernen Gesellschaft neuen Glanz zu geben vermag. Aber damit meine ich eben nicht die kirchlichen Kräfte im Osten allein, sondern ich meine alle in Ost und West, die spüren, es sei an der Zeit, dass sich mit unserer Kirche und der Art, wie wir Kirche sind, etwas ändern muss. Die neuen Länder müsste für den deutschen Katholizismus, für seine besten Kräfte, noch stärker als Herausforderung in den Blick kommen. Ich meine, dass die Orden z. T. die Herausforderung der Stunde erkannt haben und mit ihren oft auch schwachen Kräften im Osten gut eingestiegen sind und neue pastorale Möglichkeiten erkunden. Ich werbe sehr dafür, dass diese Einstellung Nachahmung finden möge.
4. Allgemeine Verunsicherung bezüglich unseres kirchlichen Auftrags
Wenn ich das so schildere, wird mir bewusst, wie sehr wir auch im Osten hineingezogen sind in die derzeit zu beobachtende allgemeine Verunsicherung unserer Ortskirchen. Das ist oft beschrieben und analysiert worden. Diese Verunsicherung hat natürlich zu tun mit einem tief greifenden kulturellen Umbruch, der einen nachhaltigen Schub an "Freisetzung" hervorbringt, dessen Abschluss noch lange nicht erreicht ist. Ich bringe es auf die Formel: Der Mensch ist verurteilt dazu, ohne Vorgaben leben zu müssen. Ihm schwinden die tragenden Fundamente, auf denen sich individuelles und soziales Leben aufbauen und entfalten kann. (F.-X. Kaufmann: "Verlust der Zentralperspektive"). Zu diesen schwindenden Vorgaben gehört eben auch die christliche Tradition. Ich erinnere noch einmal an die Diskussion zum Holocaustdenkmal in Berlin: bezeichnend etwa der Einwand von Habermas gegen den Vorschlag Richard Schröders, der bekanntlich angeregt hat, das biblische Gebot "Du sollst nicht töten" in hebräischen Lettern am Denkmal anzubringen. Habermas meinte, neben dem verbreiteten Argument, das werde der Singularität des Holocaust-Geschehens nicht gerecht: Heute könne man eben beim Mordverbot nicht mehr begründend auf eine religiöse Tradition zurückgreifen. Sicher: Wir Kirchen dürfen uns das Recht zur ethischen Mahnung nicht nehmen lassen. Aber wir müssen damit rechnen, dass wir diese unseren Zeitgenossen nicht allein religiös begründen können. Hier liegt die Herausforderung der Stunde, auf die wir im Grunde noch keine Antwort wissen. Also doch "nicht-religiös" von Gott sprechen (Bonhoeffer)? Oder "steil von oben her" von Gott sprechen, so dass Gott nur als Negation einer zu verwerfenden Welt vermittelt wird (so evangelikale Wege)? Oder nur im Modus der Anknüpfung an menschliche Sehnsüchte und Ansprüche oder gar nur der Ausweitung und Ausreizung einer innerweltlich bleibenden Transzendenz des Menschen, wie es die neu-religiösen Bewegungen versuchen? Fragen über Fragen.
Dass es keine, zumindest derzeit schlüssigen Antworten gibt, macht mich weniger besorgt. Das ist ja ein Kennzeichen von Umbruchzeiten, in denen alte Horizonte versinken, aber die neuen noch nicht erkennbar sind. Was mich besorgt sein lässt, ist vielmehr die Ahnung der Möglichkeit, dass das religiöse Fragen überhaupt verstummt. Friedrich Nietzsche ist heute wohl aktueller als am Ende des vorigen Jahrhunderts (vgl. die Positionen von Sloterdijk), zumindest prophetischer als der Marxismus, der letztlich noch eine Zukunftsvision hatte, freilich rein innerweltlich, eine Art "Christentum ohne Gott". Nietzsche dagegen sah schon den "blinzelnden" Menschen, der alles durchschaut - bis er am Ende überhaupt nichts mehr sieht. Er sah den Menschen, der sich seine Lebenswohnung so mit den Produkten seiner Hände und seines Geistes voll gestellt hat, dass er Gottes nicht mehr ansichtig wird.
Darum ist das die wahre Herausforderung unserer Kirche: nicht die Kirchenfrage, sondern die Gottesfrage. Wir sind gehalten, wieder das Evangelium völlig neu zu entdecken, vermutlich an der Hand des Lehrers Jesus selbst, im Rückgriff über alle kirchlichen Traditionen hinweg - die wir als Korrektive brauchen, die aber so nicht mehr Glaubensleben wecken können.
Wenn ich das so formuliere, wird klar, dass es die von uns machbaren Chancen für das Evangelium gar nicht gibt. Es gibt nur jenen kairos, den Gott jeder Zeit neu schenkt. Was wir tun können, ist, noch redlicher die geistige Situation der Zeit wahrzunehmen, keinen Illusionen nachzujagen, uns zu konzentrieren auf das Wesentliche und Zentrale dessen, warum es Kirche überhaupt gibt. Wir müssen überzeugt sein, dass wir, wirklich nur wir (genauer gesagt: nicht wir, sondern Gottes Geist durch uns) den Menschen auch heute die über Tod oder Leben entscheidende Wahrheit auszurichten hat. Diese Überzeugung mangelt uns. Und darum wissen wir auch nicht, wie wir diese Botschaft zu sagen haben. Das wird sich ändern, sobald wir selbst das Evangelium neu begriffen haben, oder besser: es uns ergriffen und verändert hat. Anzeichen für eine solche neue Sauerteigbildung innerhalb der Christenheit gibt es.
III.
Chancen und Aufgaben kirchlich-katholischen Lebens
in den neuen Ländern
Diese Überlegungen vorausgesetzt, versuche ich einige wenige Hinweise zu geben, was sich uns, aber wohl eben nicht nur uns im Osten, an neuen Chancen und Möglichkeiten kirchlichen Wirkens auftut. Wohlgemerkt: Wir stochern im Nebel - aber an manchen Stellen stoßen wir nicht nur auf Betonwände. Manchmal lichtet sich der Nebel ein wenig und man erkennt, dass es weiterführende Wege zu geben scheint.
Was uns als Kirchen in Ost und West gemeinsam entgegenkommt ist, so meine ich zu beobachten, das Ende einer gewissen gesellschaftlichen "Sattheit". Eine neue Nachdenklichkeit kehrt ein, die besorgt fragt: Wie kann und wird es mit unserer gesellschaftlichen Entwicklung weitergehen? Der Tradierungsabbruch trifft ja nicht nur die Kirche(n). Auch andere gesellschaftliche Institutionen, einschließlich der Ehen und Familien, sind im Umbruch. Diese Fragen sind immer öfter zu hören: Was hält eigentlich die Gesellschaft , die Parteien, die Gewerkschaften usw. zusammen? Wie ist angesichts der auseinanderdriftenden Tendenzen ein gesellschaftlicher Konsens, der Zukunft sichert, noch möglich? Vermutlich stehen wir vor einer neuen Grundwertediskussion, in der der Beitrag der Kirche durchaus auch Aufmerksamkeit finden wird, wenn er sich denn argumentativ präsentiert und sich einer offenen Diskussion stellt.
Meine Überlegungen für den Weg unserer Kirche heute und morgen mache ich an drei Stichworten fest:
1. Konzentrieren
a) Im Bereich der "verfassten" Kirche
Unser ortskirchliches Leben im Osten wird nicht umhinkommen, sich auf zentrale Punkte des kirchlichen Lebens zu konzentrieren. Ähnlich wie in den westlichen Diözesen, in denen es in naher Zukunft vermutlich nicht ganz ohne Abbau kirchlicher Aufgabenbereiche abgehen wird, müssen auch wir uns im Osten sorgfältig überlegen, was wir im Bereich der Verkündigung, der Liturgie, des Gemeindeaufbaus, der Caritas, der gesellschaftlichen Diakonie usw. festhalten wollen. Das muss angesichts der geringer werdenden Finanzierungsmöglichkeiten nüchtern durchgerechnet werden. Diese Konzentration betrifft vor allem den Bereich der verfassten Kirche, also den Bereich, in dem mit bezahlten Kräften gearbeitet wird. Wir haben im Bistum z. B. einen unseren Möglichkeiten angepassten Personalschlüssel für den Seelsorgebereich erarbeitet, den wir mittelfristig umsetzen wollen.
Sicherlich geht es bei uns - wie überall - zunächst um die Grundsicherung des ortskirchlichen Lebens. Dazu gehören solche Aufgaben wie die Besoldung der Geistlichen und des weiteren Seelsorgepersonals, die Pensionsverpflichtungen, die Zuschüsse an die Gemeinden, die Aufrechterhaltung der Verwaltung, die Zuschüsse an die Caritas, die Erhaltung der Bausubstanz usw.
Über die Absicherung des Existenzminimums hinaus stellt sich freilich die Frage, welche besonderen Schwerpunkte wir in unserem ortskirchlichen Leben im Osten setzen wollen. Da wären Aufgaben zu benennen, die im gewissen Sinn auch im Gesamtinteresse unserer Kirche in Deutschland liegen, etwa die Arbeit unserer Bildungshäuser, der Kindergärten, der katholischen Schulen, unserer theologischen Fakultät in Erfurt, die Sonderseelsorge, die Öffentlichkeitsarbeit und anderes mehr. Wir können sicher nicht alles Wünschenswerte machen, doch im Sinne einer echten Präsenz, die evangelisierende Wirkung hat, können wir uns nicht nur in der Sakristei verstecken. Dabei liegt mir freilich die qualitative Präsenz mehr am Herzen als die quantitative!
b) Theologische "Konzentration"
Über diese nüchternen Überlegungen hinaus bewegt mich die Frage, ob wir nicht auch in einem noch tieferen, theologischen Sinn uns auf die zentralen Aufgaben des Kirche-Seins konzentrieren müssten. Die Leitfrage dabei sollte sein: Was ist der Auftrag unseres Herrn? und weiter (im Blick auf die "verfasste" Kirche und deren Aktivitäten): Was kann uns von niemand anderem abgenommen werden? Was können nur wir als Kirche tun? Z. B.: Gottesdienst feiern, das Kirchenjahr mit seinen Festen prägen; Kindern und Sterbenden Gott vor Augen stellen (das können gottlob alle Christenmenschen, nicht nur Pfarrer) usw. Vor allem müssten wir darauf achten, dass unsere Aktivitäten wirklich mit dem Evangelium, letztlich mit Jesus Christus selbst in Berührung bringen. Es gibt seitens der profanen Gesellschaft die Tendenz, die Kirchen als "religiöse Dienstleister" zu vereinnahmen. Zugespitzt formuliert: Wir haben die Leute nicht religiös zu bedienen, sondern sie mit Jesus Christus und seiner Botschaft in Berührung zu bringen. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, mit Worten und durch Taten, direkt und indirekt, mehr im Modus der Anknüpfung, manchmal aber auch im Modus des Widerspruchs und der Warnung. Ist eine kirchlich getragene exzessive Bildungsarbeit, wie sie z. T. in unseren Häusern geleistet wird, wirklich notwendig? Nur weil sie mit öffentlichen Geldern gestützt wird? Im Einzelfall ist freilich eine Entscheidung oft schwierig.
Für mich gilt als ein Kriterium: Löst unsere kirchliche Präsenz etwas aus in Richtung der Kontaktnahme mit dem Evangelium Christi? Ist unser Tun so, dass ein "Weg" eröffnet wird, dass es zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung kommt? Erweitert unser Tun den Lebens- und Welthorizont der Mitmenschen, hilft es ihnen, die erfahrenen Realitäten "österlich" zu deuten (z. B. bei Traueranlässen)? - Dies führt uns schon zu dem zweiten Stichwort:
2. Profilieren
Unsere kirchliche Präsenz in der Gesellschaft muss profiliert sein. Wir dürfen uns weder anbiedern noch anpassen, aber wir sollten uns auch nicht verstecken.
In den neuen Ländern müssen wir nüchtern mit einer sehr großen Fremdheit der Menschen allem Kirchlichen gegenüber rechnen. Das ist hier anders als in der "Altbundesrepublik". Auch ist hier bei uns die Angst der Leute groß, "vereinnahmt" zu werden. Die Wege der Menschen zur Kirche sind hier länger und das Terrain steiniger. Aber einen Vorteil haben wir vielleicht im Osten: Es gibt hier vermutlich weniger kirchlich "hausgemachte" Vorurteile und Missverständnisse. Die Menschen sind unbelasteter von negativen Kirchenerfahrungen, zumindest was ihre eigene Biographie betrifft. Die Negativeinflüsse einer einseitigen Mediendarstellung von Kirche nehme ich dabei aus. Freilich: Die Resistenz, die Widerstandskraft gegenüber dem Verdummungseffekt ungefilterten und unkritischen Mediengebrauchs gehört zum modernen Christsein.
Ein weiterer Vorteil unseres ortskirchlichen Lebens: Im Normalfall haben wir weniger kirchliche "Institutionen" als anderswo. Menschen wollen heutzutage "Gesichter" sehen, keine Werbezettel in die Hand gedrückt bekommen. Jedes "Ansprechen" von Menschen geht nur über den Weg persönlicher Begegnung, wobei im Vorfeld sicher bedacht werden muss, wie man Räume schaffen kann, in denen das dann erfolgen kann: das Gespräch von Mensch zu Mensch.
Unsere Motivation bei diesem "missionarischen Zeugnis" muss sein: den Menschen den Heilsweg zu Christus und seinem Wort hin eröffnen zu wollen. Es geht uns nicht vordergründig um "Mitgliederwerbung". Es soll uns um das "Heil-Werden" unserer Mitmenschen gehen. Wenn wir das so sagen, spüren wir, dass dies uns selbst auf den Prüfstand stellt: Glauben wir selbst wirklich daran, dass die Christusberührung uns (in einem ganz tiefen Sinn) "heil" macht? Haben wir "österliche Augen", mit denen wir anders als die Ungläubigen auf diese Welt und unser Leben schauen können, auch auf das unserer Mitmenschen? Sehen wir "mehr" als andere? Diese Einstellung wird uns helfen, eine gewisse "Absichtslosigkeit" in der Begegnung mit Nichtgetauften durchzuhalten. (In Frankreich sagt man: gratuité). Wir stehen nicht unter "Erfolgsdruck". Die eigentliche Bekehrung bewirkt ohnehin der Geist Gottes. Wir sind "Zuarbeiter"! Wir leisten "Hebammen-Dienste"!
Das bedeutet: Das Vorhaben, "offene", wegweisende und gastfreundliche Kirche zu sein, erfordert von uns eine ständige "Selbstevangelisierung". Indem wir andere einladen, müssen wir uns selbst verändern, und zwar im Sinne einer immer tieferen Christus-Verähnlichung. Wir müssen immer mehr lernen, mit den Augen Christi zu sehen, mit seinem Herzen zu fühlen. Da gibt es keinen Rollenunterschied zwischen "Hauptamtlichen" (Geweihten und Nichtgeweihten) und den Gläubigen ohne "Amt". Die in der Seelsorge Tätigen haben einen zusätzlichen Auftrag: Sie sollen und dürfen die Gemeinden so zurüsten und begleiten, dass sie diese "Offenheit" für das Weltzeugnis heute erwerben bzw. ausbauen, diese Zeugniskompetenz, ohne die "Kirche nur ein Ofen wäre, der sich selbst wärmt" (nach einem Wort von Kardinal Alfred Bengsch). Nur sich selbst evangelisierende Christen sind in der Lage, andere mit dem Evangelium in Kontakt zu bringen. Und allein deswegen ist Kirche da. Das ist ihr Sinn.
3. Begleiten
In diesem Stichwort klingt für mich die Art der Seelsorge mit, die Gott selbst an uns allen treibt. Er "begleitet" uns - helfend, mahnend, warnend, manchmal auch uns erschreckend, aber niemals verurteilend.
Ich spüre bei den Menschen bei uns im Osten eine tiefe Sehnsucht nach gelingenden "Beziehungen", nach menschlicher Nähe und nach "Angenommen-Sein". Wenn es irgendwie gelingt, das erste Misstrauen gegenüber Kirche zu zerstreuen, wirkliche absichtslose Nähe zum anderen glaubhaft zu machen, dann öffnen sich oftmals sehr bald die Herzen. Es gehört zu den schönsten Erfahrungen im Leben eines Priesters, wenn er bei einem Hausbesuch gesagt bekommt: "Das ist aber schön, Herr Pfarrer, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!" Übrigens sagen das manche auch zu einem aus dem Pfarrgemeinderat, der im Namen der Gemeinde einen Besuch macht.
Die Chance kirchlich-pastoralen Wirkens besteht heute darin, in der zunehmenden Vereinzelung der Menschen Beziehungsnetze zu knüpfen. Ich gebe zu: Wir erfahren in diesem Bemühen auch Ablehnung, wir begegnen Vorbehalten und Misstrauen. Doch sehe ich auch, dass es in unserer Leistungsgesellschaft, vielleicht gerade wegen ihrer oft unerbittlichen Härte und Stressigkeit Sehnsucht nach menschlicher Nähe und Annahme gibt. "Du bist angenommen!" Diese Grundbotschaft des Evangeliums hat auch heute ihren kairos. Das Elisabethjahr 2007, das weit über den kirchlichen Raum hinein in die Gesellschaft ausstrahlte, hat mir das eindrucksvoll gezeigt. Das Evangelium hat mehr Sympathisanten als wir meinen. Diese Botschaft, diese "Melodie" muss durch uns erklingen. Dann kann sich auch in einem zweiten Schritt die Einladung zur Umkehr, zum Neuanfang, zur Nachfolge Christi entfalten.
Begleiten erfordert die Bereitschaft, die Buntheit und Unterschiedlichkeit menschlicher Biographien auszuhalten. Ich sage gern: Wir müssen lernen, auch mit den kirchlich nicht ganz "Stubenreinen" umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Unabhängig von der Frage nach der Zulassung zu den Sakramenten müssen die Menschen das Gefühl haben, dass sie in der Kirche "willkommen" sind. Zeichen des Willkommen-Seins sind ja nicht nur die Sakramente. Der ganze Bereich der vorsakramentalen Seelsorge, in dem die Kirche an sich doch reiche Erfahrung hat, wird zunehmend Bedeutung erlangen. Ich denke an die vielen Ungläubigen und "Halbgläubigen", die punktuell Berührung mit der Kirche suchen, etwa beim festlichen Weihnachtsgottesdienst, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder anderen Notsituationen usw. Die Kirche, das Pfarrhaus, eine Gruppe von Gläubigen muss als Ort des Erbarmens, des Angenommen-Seins, der mitmenschlichen Nähe bekannt sein. Derzeit ist die Kirche mehr im Verdacht, die Menschen zu verschrecken und ihnen das Leben zu vermiesen, als sie für Gott und füreinander freizusetzen. Diesem Grundverdacht muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer echten Christusbeziehung dann auch Lebensumkehr erwächst, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst freilich aus Annahme, nicht umgekehrt!
Ich beende unseren Blick auf die Situation unserer Kirche im Osten, indem ich noch einmal meine Grundeinstellung zum Ausdruck bringe: Es ist gut, auch für unsere Kirche und ihr Leben, dass die Wende gekommen ist. Ich ermuntere unsere Priester und Mitarbeiter in der Pastoral, die gewandelten Verhältnisse auch innerlich anzunehmen, auch wenn diese Verhältnisse uns mancherlei neue Probleme bescheren. Aber die Freiheit ist immer besser als Zwang, auch der sublime Druck, mit dem uns das alte System früher die Gemeinden im "Schulterschluss" zusammengehalten hat. Wir leben jetzt ehrlicher. Wir müssen uns auf unsere Substanz besinnen. Und das ist vermutlich ganz im Sinne der Heilspläne Gottes.
Gehalten am 20.11.2009