Der Hunger nach Leben ist gestiegen

Predigt von Bischof Joachim Wanke auf der Würzburger Kiliani-Wallfahrt, 20 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR

"Einen schönen Tag der deutschen Einheit auch!", so rief mir einmal Michael zu, ein Bewohner eines Hauses für geistig Behinderte in Heiligenstadt. Ich hatte dort kurz vor dem Tag der Einheit mit den Heimbewohnern und Mitarbeitern das Patronatsfest des Hauses gefeiert, das Fest der hl. Erzengel Michael, Gabriel und Rafael. Deren Fest steht bekanntlich Ende September im Kalender, kurz vor dem 3. Oktober. Und beim Abschied dieser aufgeregte, leicht stotternde Gruß des etwas altklugen Michael: "Einen schönen Tag der deutschen Einheit auch!"

Mein behinderter Freund, der schon viele Jahre vor der Wende in diesem Heim lebte, er weiß, was er der deutschen Einheit zu verdanken hat: neue Wohnungen für die Heimbewohner, moderne Behindertenwerkstätten, sofort nach der Wende errichtet, alles nicht zu vergleichen mit den armseligen Verhältnissen der DDR-Zeit. Gerade im Bereich der Sorge um behinderte Menschen gab es nach der Wende einen gewaltigen Qualitätssprung, über den man sich nur freuen kann. Kein Wunder, dass Michael mir deshalb diesen Gruß beim Abschied nachrief "... und einen schönen Tag der Einheit auch!"

Wir denken heute dankbar an das Jahr der Wende und die Ereignisse vor 20 Jahren zurück. Sie haben uns damals die ersehnte Einheit unseres Vaterlandes geschenkt. Ich persönlich werde den 3. Oktober 1990, den ersten Tag der Einheit, nicht vergessen. Es war ein klarer, sonnendurchfluteter Oktobertag. Das Festgeläut des Erfurter Domberges hatte den Gottesdienst eingeleitet. Die Domhalle erfüllte eine besondere Atmosphäre, eine ausgesprochene Freudigkeit, der sich keiner entziehen konnte. Alle waren sich damals bewusst: Dieser Tag ist eine Zäsur. Ein neues Kapitel der Geschichte unseres Volkes wird begonnen. Dankbarkeit für die errungene Freiheit, Freude über die so lang ersehnte und erbetene Einheit unseres Volkes bewegte die Menschen.

Heute schauen wir auf 20 Jahre Nachwendezeit zurück. Die damalige Euphorie ist verflogen. Alltäglichkeit hat sich eingestellt. Manche Illusionen sind geplatzt wie Seifenblasen, mancherlei Enttäuschungen waren zu verkraften. Das Leben ist weitergegangen. Neue Herausforderungen haben sich gestellt und mussten gemeistert werden. Und wer meinte, die Menschen seien nach der Wende alle zu Heiligen geworden, musste ernüchtert feststellen: Der alte, erbsündliche Adam in uns hat die Wende überlebt. Er steckt noch genauso in uns wie damals in der Zeit vor der Wende - im Osten ebenso wie im Westen.

Also - im Grunde nichts Neues? Gehen die alten Spiele jetzt nur unter veränderten Bedingungen weiter? In vieler Hinsicht: Ja, ohne Zweifel. Aber eine Veränderung spüre ich doch - zumindest bei den Menschen in den neuen Ländern. Der Hunger nach Leben ist gestiegen, die Suche nach neuer Lebensqualität hat sich ausgeweitet.

Im Blick auf den Schrifttext, auf die Szene mit der Frau am Jakobsbrunnen (vgl. Joh 4,5-15) gesprochen: Die Schöpfeimer, mit denen wir das Wasser des Lebens schöpfen wollen, sind bedeutend größer geworden. Was bei uns im Osten vor der Wende noch ging und als allgemeiner Standard akzeptiert wurde, das reicht heute nicht mehr. Unsere Bildungshäuser brauchen unbedingt Nasszellen, der Urlaub muss schon mindestens in Spanien sein und die alten Trabis und Wartburgs sind höchstens noch für Nostalgiker von Interesse.

Nichts gegen die vielen Verbesserungen, die wirklichen Qualitätssteigerungen in unserem Leben in den letzten zwei Jahrzehnten! Wir sind dankbar dafür - vor allem für das, was letztlich unbezahlbar ist: neue Freiheitsräume, die Weitung unseres Lebens über enge Grenzen hinaus, das Ende von Lüge und Verstellung.

Aber, liebe Mitchristen, trotz dieser unbestrittenen neuen Lebensqualität: Sind wir wirklich satt geworden? Ist es nicht vielmehr so, dass nur unser Hunger, unser Durst nach Leben größer geworden ist?

Darum ist es gut, in dieser Stunde des gemeinsamen, grenzübergreifenden Gottesdienstes auf die Worte zu hören, die Jesus im Johannesevangelium der Frau am Brunnen - und in ihrer Person auch uns - zuruft: "Wer von diesem Wasser trinkt, das Warenhäuser, Reisebüros, die Unterhaltungsindustrie anbieten, der wird bald wieder Durst bekommen!" Ich füge hinzu: Noch größeren! Das ist wie bei vielen Phänomenen unserer Gesellschaft: immer weiter, immer höher, immer schneller - und: immer teurer! Ich sehe auch schon bei uns in Thüringen und Sachsen die ersten "Lebenssucht-Geschädigten"! Ist das der Weg, der uns weiterführt?

Nein, wir müssen das quantitative Denken verlassen. Wir brauchen eine neue, eine qualitativ neue Lebensdefinition jenseits von Verdienst und Konsum, von Produktion und Leistung, so wichtig solche Faktoren auch sein mögen.

Was meint Jesus mit dem Wasser, dass ER zu geben vermag, "Wasser des ewigen Lebens"? Ich übersetze diesen Bildausdruck mit dem Wort: Freundschaft, Gottesfreundschaft. Gern wiederhole ich in Predigten und Vorträgen, wenn es um die Situation in den neuen Bundesländern geht, diesen Satz: Uns macht nicht reich, dass wir viele Dinge haben, sondern dass wir einander haben!

Lebensqualität misst sich nicht allein an materiellen Dingen oder allein an gestiegenen Möglichkeiten von Selbstverwirklichung. Viele, auch nichtchristliche Zeitgenossen messen Lebensqualität an noch manch anderen Faktoren, etwa dem Gelingen von Beziehungen, von Freundschaft, Partnerschaft, Ehe und Familie. Was wirklich arm machen kann, ja das Leben unerträglich werden lässt, sind weniger materielle Nöte als vielmehr Beziehungsnöte: aufgekündigte Treue, verratene Liebe, Fallen-Gelassen-Werden gerade dann, wenn man jemanden besonders dringend nötig hätte - das schneidet Leben ab. Das lässt verbittern, das ist Vorwegnahme des Sterbens.

Das Evangelium unseres Herrn, der christliche Glaube sagt uns:

Es gibt eine Treue, auf die wir uns ganz verlassen können - ob im Leben alles glatt geht oder manches auch schief geht.Es gibt eine Freundschaft, die vom anderen nicht gekündigt wird - egal ob wir topfit sind oder manchmal auch Versager.

Es gibt eine Liebe, die mich im wahrsten Sinne des Wortes "nachhaltig" trägt - im Leben und im Sterben.

Wir Christen nennen die Quelle einer solch lebenseröffnenden Freundschaft, Treue und Liebe - Gott. Jesus sagt - wohl weil er wusste, wie sehr wir Menschen geneigt sind, Gott mit einer Sache, mit einem blassen Abstraktum zu verwechseln - er sagt zu dieser Quelle: Abba, lieber Vater im Himmel. Und er hat uns gelehrt, diesen seinen Vater auch als unseren Vater anzurufen. Gleich werden wir es wieder gemeinsam tun.

Sicher, es stimmt: Auch wer zu diesem Vatergott betet, muss weiter alle Kräfte anstrengen, um im Lebenskampf zu bestehen, und der kann nach der Wende ebenso hart sein wie davor. Und auch wer sich fest in der Gottesfreundschaft, im christlichen Glauben verwurzelt weiß, ist dadurch noch lange nicht gegen alle Tücken und Unbilden des Lebens versichert.

Aber das vertrauensvolle Aufblicken zu dem, den Jesus seinen und unseren Vater im Himmel nennt, befreit uns von der Angst um uns selbst, von der Angst, nicht genug, nicht alles vom Leben mitzubekommen. Dieser Glaube an Gott macht uns frei, auf wirkliches Leben zu hoffen, trotz so mancher Enttäuschungen, die dabei nicht ausbleiben. Dieser Glaube gibt uns Kraft, uns für ein solches Leben einzusetzen, es in kleinen Schritten, mit bescheidenen Möglichkeiten zu antizipieren, es vorwegzunehmen - und das allen Bedenkenträgern zum Trotz. Dieser Glaube gibt uns Mut, etwas füreinander und für eine gute Zukunft zu wagen, auch und nicht zuletzt durch eine gute Politik.

Das Wasser des Lebens, das Jesus vermittelt, schenkt Lebensqualität auf einer höheren - oder wenn Sie wollen: auf einer tieferen, fundamentalen Ebene. Hier geht es um Leben, das der schenken kann, der unser lebenshungriges Herz erfunden hat: Gott, unser Schöpfer und Erlöser. Und dieser Lebenserfinder will uns nicht zum Narren halten. Er will auf seine Weise und mit seinen Möglichkeiten unseren Lebensdurst wecken und in die richtige Richtung lenken. Bei manchen schönen Dingen, die uns Gott schon hier auf Erden erleben lässt, ahnen wir, wie das gehen könnte. Jetzt hat er sich z. B. einfallen lassen, dass ich hier vor Thüringern und Franken gemeinsam im Würzburger Dom predigen darf! Das hätte ich mir vor 20 Jahren nicht träumen lassen. Und Gott hat ja noch mehr "Wendeerlebnisse" in petto als jene vor zwanzig Jahren!

Gottesfreundschaft - diese "Beziehungsebene", das ist das Wichtigste, was wir zum Leben brauchen. Wir brauchen diese Freundschaft als je Einzelne, wir brauchen sie gemeinsam als Volk, wenn denn unsere Zukunft menschlich bleiben soll. Jede gelungene mitmenschliche Beziehung ist ein Abglanz, ein Vorgeschmack dessen, was einmal auf Ewigkeit unseren Durst löschen wird.

Kennen Sie das? Manchmal kann eine Wohnung "übermöbliert" sein. Da hilft nur, einen Container zu bestellen und sich von manchen Dingen, auch liebgewordenen zu trennen. Man kann an Quantitäten ersticken. Auch ein Menschenleben, eine Gesellschaft kann "übermöbliert" sein. Verstellen uns die vielen Dinge, die wir alle noch mitbekommen und haben wollen, den Blick auf das eigentlich Schöne und Kostbare im Leben?

Nochmals: Nicht dass wir viele Dinge haben, macht uns reich, sondern dass wir einander haben. Und dass wir IHN haben, dessen Freundschaft mehr wert ist als alle Lebensversicherungen zusammen.

Als mir Michael, mein behinderter Spezialfreund im Raphaelsheim seinen Gruß zur deutschen Einheit zurief, sah ich ihn im Kreis der anderen Heimbewohner, der Angestellten, der Ordensschwestern stehen. Das Kostbarste am Heiligenstädter Raphaelsheim sind nicht die neuen Wohnausstattungen und Werkstätten. Das Kostbarste, was den Behinderten wirklich ein Zuhause schafft, sind die Menschen, die dort ihre Zeit, ihre Nerven, ihr Herz für die Behinderten investieren. Mein Michael lebt nicht vom Pflegesatz (allein!), er lebt von der Zuwendung, die andere ihm schenken.

Ob das nicht auch für uns Deutsche aus Ost und West, aus Nord und Süd gilt, samt den Ausländern und Gästen in unserer Mitte? Wir leben nicht vom Solidaritätszuschlag (allein!), sondern von jeder menschlichen Zuwendung, die wir einander schenken. Und das gilt für den kleinen Lebenskreis des Privaten ebenso. Ich schlage vor: Sagen Sie es heute einmal einem Menschen an ihrer Seite, der Südthüringer dem Franken, und ihr aus dem Würzburger Land einem aus dem Osten, sagen Sie es durch Worte oder Zeichen: "Gut, dass es dich gibt! Gut, dass Du jetzt hier bist! Du machst mein Leben, ihr macht unser Leben reich!" Und diese Wort Gott zu sagen: Du machst unser Leben reich! - damit können wir jetzt gleich gemeinsam im Gottesdienst anfangen. Amen.
 

Gehalten am 11.7.2009 im Hohen Dom zu Würzburg