Liebevoller Umgang: Jesus wendet sich einem Menschen zu
Irgendwie hat der Himmel eine andere Rechenkunst als wir hier auf Erden. Vor Gott, mit den Augen des Glaubens gesehen, gilt etwas als groß und bedeutsam, was normalerweise nur als Belastung, als Ärgernis, als zu vermeidendes Übel angesehen wird. Die Volksfrömmigkeit weiß davon, etwa wenn auf dem Hülfensberg im Eichsfeld in der Wallfahrtskirche auf fünf Holztafeln die verklärten Wunden Christi zur Andacht ausgestellt werden. Die durchbohrten Glieder des Gekreuzigten - umgeben von goldenen Flammenzeichen! Kürzlich war ich in der berühmten Wieskirche in Bayern, einem kostbaren Juwel sakraler Rokoko-Kunst. Der Kern dieses wunderbaren Gebäudes aus Licht und Gold ist - ein Folterbild: der an der Geißelsäule stehende Jesus. Ihm gilt dieser Prachtbau, in merkwürdiger Verkehrung von Inhalt und Rahmen dessen, was eigentlich zu bewundern, ja anzubeten ist: die göttliche Liebe, die in ihrer freiwilligen Armseligkeit den Menschen sucht und selig machen will.
Das Osterfest mit dem vorausgehenden Gründonnerstag (der Einsetzung des Abendmahles) und dem Karfreitag (dem Sterben Jesu am Kreuz) räumt mit einem verbreiteten Missverständnis auf, das sagt: Der Mensch müsse mit sich und mit Gott ins Reine kommen durch angestrengte religiöse "Planerfüllung". Diese Festtage lenken vielmehr unseren Blick auf das, was Gott tut. Er ist es, der aktiv ist. Er macht den Menschen reich, aber eben in paradoxer Weise dadurch, dass er sich selbst arm macht, unsretwillen.
Für den Christen ist der Indikativ (das was ist) wichtiger als der Imperativ (das, was sein soll). Der Glaube stellt nicht zuerst einen Anspruch, sondern er ist ein Zuspruch, der Mut zum Leben gibt. Er ist nicht "ethischer Hochleistungssport", sondern Freisetzung von Mächten und Gewalten, die den Menschen versklaven, etwa von der Hoffnungslosigkeit, die aus der Furcht vor dem Sterben-Müssen resultiert. Ostern wird darum im Frühjahr gefeiert, wo alles in der Natur uns an Aufbruch und neues Leben erinnert.
Der Apostel Paulus, der auf seinen Reisen unter antiken Bedingungen manche Bedrängnisse und auch Anfeindungen durch Feinde erfuhr, schreibt einmal über sich selbst: "Uns wird Leid zugefügt, und doch sind wir jederzeit fröhlich; wir sind arm und machen doch viele reich; wir haben nichts und haben doch alles" (2. Korinther-Brief 6,10). Er hat verstanden, was Ostern meint. Vielleicht ist es für uns heute schwieriger, Ostern zu feiern, weil wir zu viel haben.